Von Claus Stille
Die Agora im Dortmunder Dietrich-Keuning-Haus (DKH) war diesmal proppenvoll mit ZuhörerInnen – von der Bühne bis zum Eingang. Drei Jahre gibt es jetzt die Reihe „Talk im DKH“. Gast am vergangenen Freitag war Robert Habeck (49), ein deutscher Politiker und Autor. Seit dem 27. Januar 2018 ist er neben Annalena Baerbock Bundesvorsitzender der Bündnisgrünen. Zuvor war Habeck Minister für Energiewende, Landwirtschaft, Umwelt, Natur und Digitalisierung sowie Vizeministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein. Er selbst nannte sich damals „Draußenminister“: „Als Minister bin ich im Grunde für alles verantwortlich, was draußen ist: Meer, Deiche, Moore, Weiden, Wälder, Kühe und Schweine, Schweinswale und Wölfe, Stromtrassen, Atomkraftwerke, Windkraftanlagen.“
Robert Habeck: „Radikal ist realistisch“ / „Herr Habeck, was muss sich ändern?“
Für die Grünen möchte er zusammen mit Annalena Baerbock erreichen, dass „das Wort Kapitalismuskritik wieder in den Mund genommen werden darf“. Umwelt- und sozialpolitisch müsse die Partei wieder radikaler agieren: „Radikal ist realistisch“. Habeck forderte eine „gesunde Streitkultur“. Die offene Gesellschaft, so habe er gedacht, „ist das Gründungsdokument unserer Republik. Das sei der Preis um den es gehe.
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Zitat Robert Habeck: „Fragt mich jemand, wie findest du Deutschland, sage ich: entspannt, tolerant und lässig.“ Beim Talk im DKH nun wurde der Literaturwissenschaftler, Doktor der Philosophie und Vater von vier Söhnen gefragt: „Herr Habeck, was muss sich ändern?“ Mit ihm redete Aladin El-Mafaalani.
Zunächst betrat Zijah Jusufovic – geboren in Bosnien, jetzt in Dortmund lebend – die Szene. „Stets mehr oder weniger unberechenbar“, wie viele Künstler, frotzelte Moderator El-Mafaalani. Die künstlerische Umsetzung des Themas besorgend, agierte Jusufovic eher soft, aber dennoch wie immer mit Pfiff und und mit Provokationen zum Nachdenken anregend.
Los ging’s mit Zijah Jusufovic und seinen gern kritisch-provokativen Denkanstößen
Mit seiner Grafik „Save the plastic“. Sie bildet eine weiße Hand ab, die nach einer im Wasser treibenden Plastikflasche ausgestreckt ist, während sich daneben eine schwarze Hand aus dem Meer reckt: offensichtlich die Hand eines Flüchtenden, eines zu ertrinken drohenden Menschen. Seien denn Plastikflaschen und Plastikbeutel wichtiger als die im Mittelmeer ertrinkenden Geflüchteten?, fragte der Künstler.
Nicht weniger zum Nachdenken, mehr zum Aufschrecken geeignet eine weitere Grafik: rote Krawatten zu SS-Runen, gefaltet mit dem Hinweis, dass da nun eine bestimmte Partei im Bundestag vertreten sei. Jusufovic gab zu bedenken: „Kann das eine Alternative für Deutschland sein?“ Erinnernd daran, was Schlimmes in seinem Land passiert ist, forderte er dazu auf, miteinander zu reden.
Betreffs Deutschland spricht der Künstler explizit von „uns“ und „wir“, auch wenn er die deutsche Staatsbürgerschaft noch nicht hat. Er ist der Meinung, dass man „hier ’ne gute Chance bekommt“. Wo hingegen die Entwicklung in seiner Heimat durch Hass und Nationalismus geprägt sei. Jusufovic lobte die hierzulande stattfindende Vielfalt durch hinzukommende Kulturen „einfach geil – so muss es sein“.
Das Publikum applaudiert zustimmend. Das Parteiprogramm der Grünen findet er „typisch grün“. Zijah Jusufovic befand, Elektroautos müssten allmählich sein. Wir hätten ja schließlich 2019. Deutlich machte er das mit einem weiteren, in Form einer Grafik daherkommenden Denkanstoß: einem mit Verbrennungsmotor betriebenen Fön. Für einen Politiker, befand der Künstler, sei Habeck „schon ein toller Typ“.
„In wohl verstandenem Streit“ darüber streiten, wer wir überhaupt sind bzw. eigentlich sein wollen
Robert Habeck sagte auf seinen Ausspruch (siehe Zitat oben) bezogen, diese sei „keine beschreibende Aussage über einen Zustand, sondern eine normative, perspektivische Aussage, „wie ich will, dass Deutschland sich entwickelt und gesehen wird“.
Bezugnehmend auf das Merkel-Diktum „Wir schaffen das“, sagte Habeck, wir müssten klären, wer mit „wir“ überhaupt gemeint ist, wer „wir“ sein wollten, und darüber zu diskutieren hätten, was in Zukunft passiere, sowie darüber, wohin die Gesellschaft geht. „In wohl verstandenem Streit.“ „Und“, wie er in seinem Buch geschrieben habe, müsse auch darüber nachgedacht werden, „wer wir eigentlich sein könnten“.
Zustände nicht einreißen lassen: Habeck fordert politisches Denken, das wir verlernt hätten
Bezogen auf die Diesel-Fahrverbote, aber auch auf andere juristische Entscheidungen, kritisierte Robert Habeck eine Politik, die möglicherweise meine, diese ignorieren zu können. Dass sei „eine erstaunliche Verirrung der politischen Kategorien“ und eine „erstaunliche Vergesslichkeit, was Rechtsstaat überhaupt bedeutet“.
Eingehend darauf, was sich also ändern müsse: Wir hätten verlernt, politisch zu denken. Politisch zu denken, hieße, einen Zustand nicht einreißen zu lassen. Habeck skandalisierte, auf die Diesel-Fahrverbote zurückkommend: Eine „Bundesregierung habe sich nicht getraut, sich mit den wahrhaft Mächtigen, nämlich der Lobby der Automobilindustrie rechtzeitig anzulegen“.
Autofahrer, vor allem die weniger Betuchten, müssten dies nun ausbaden. Die Fahrverbote hätten nicht sein müssen. Erst, „wenn wir es geschafft hätten, uns mit den wahrhaft großen Strukturen, den wahrhaft Mächtigen anzulegen“, könne die Politik auch „wieder mit Parkverbotstickets kommen, sozusagen“.
Respekt für die TeilnehmerInnen an den „Fridays-for-Future“-Demos
Habeck: „Diesen Geist, große Probleme auch mit großen Antworten zu begegnen – also politischen Mut zu entfachen“, den gelte es zu fördern. Die „Fridays for Future“-Demos von SchülerInnen für mehr Klimaschutz, die dafür die Schule schwänzten, nannte der Politiker „einen Tritt in den Arsch für jeden Politiker, dass die dahingehen“.
Selbst wenn es für die SchülerInnen dafür einen Tadel oder einen Eintrag ins Klassenbuch gebe – das sei ein Grenzübertritt: „Die trauen sich wirklich was, das schneidet ein in deren Leben.“ Habeck: „Legt das Klassenbuch auf den Kopierer, machte euch ’ne schicke Farbkopie, rahmt die ein und hängt die an die Wand als Urkunde für Zivilcourage.“ Frenetischer Beifall in der Agora des Keuning-Hauses. „Streiten wir darüber, wie ein Land sich aufstellt“, forderte der Bündnisgrüne.
Reden über „Heimat“ – jenseits des Traumboot-Kitsches: über Tagträume und antizipierende Hoffnung
Nach seinem Input-Referat plauderte der Gast mit Moderator Aladin El-Mafaalani u.a. über den Heimat-Begriff. Oftmals, so Habeck, erfinde man eine Vergangenheit, projiziere etwas, was werden solle, was man sich wünscht, in die Vergangenheit zurück.
Er zitiert – als Gegenbild – den letzten Satz aus Ernst Blochs dickem Wälzer „Das Prinzip Hoffnung“: demnach sei Heimat etwas, „das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war“. Also eine Utopie, Tagtraum, Antizipation, Zukunft in der Gegenwart.
Thema war auch, dass der Grünen-Politiker Habeck schon Vorträge über soziale Marktwirtschaft vor CDU-Foren hielt. Obwohl er im Grunde nur das grüne Parteiprogramm referiere, das davon spreche, wie gefährlich große Machtstrukturen seien und es Aufstiegsmöglichkeiten für alle geben müsse. Er erhalte sogar Beifall dafür. Jenen Leuten habe er allerdings erklären müssen, dass wir eine solche soziale Marktwirtschaft längst nicht mehr hätten.
Grüne als Gegengewicht für ein Zurück Richtung Rechtsstaatlichkeit, Liberalität und Freiheit
Robert Habeck begreift die Rolle der Grünen als ein Gegengewicht, solche Entwicklungen wieder zurückzuziehen. Richtung Rechtsstaatlichkeit, Liberalität und Freiheit. In der Politik sei aber eben nichts sicher. Man müsse ins Kalkül ziehen, dass man verlieren könne.
Auch wenn man als Grüne momentan zweitstärkste Partei sei. Es werde nur auf Fehler gewartet, die man als Bündnisgrüne mache: „Politik ist kein unschuldiges Geschäft“, so Habeck.
Ob er – oder wer auch immer – einmal Bundeskanzler werde wolle, ergebe im Augenblick keinen Sinn, lautete seine Antwort auf eine vom Moderator weitergereichte Frage. Sinn ergebe jedoch, dass aufgepasst werde müsse, nicht morgen in einen „selbst gebuddelten Abgrund“ zu fallen.
Am Saal-Mikrophon bilden sich Schlangen – manch spannende Frage wird laut
Am Mikrofon hatte sich unterdessen eine beachtliche Schlange von Fragestellern aufgebaut. Angetippt wurden viele unterschiedliche, die Gesellschaft bewegende Themen. Wie die Frage, ob die Zweistaatenlösung im Israel-Palästina-Konflikt noch favorisiert würde (Habeck bejahte das).
Des Weiteren kam die Geflüchteten-Problematik aufs Tapet. Sowie die der PflegerInnen in der Altenbetreuung, für die Fragestellerin Katharina forderte, dass endlich die Sonne wieder scheinen möge (sprich: bessere Arbeitsbedingungen und Entlohnung).
Und die nach Meinung eines Herrn nicht erfolgte Aufklärung seitens der Politik über den UN-Migrationspakt, sodass es der AfD ermöglicht worden sei, das Thema hochzukochen. Zu Letzterem meinte Robert Habeck, der UN-Migrationspakt sei für Deutschland kein großes Thema. Was habe sich seit dem Beschluss hierzulande verändert? Ein „Kartell des Verschweigens“ habe es nicht gegeben.
Dem wahrscheinlich jüngsten Mitglied der Grünen flogen die Herzen des Publikums zu
Die Herzen der ZuhörerInnen flogen dem zwölfjährigen Fragesteller Emilio zu, der bekannte, Mitglied bei Bündnis 90/Die Grünen zu sein. Robert Habeck: „Du bist wahrscheinlich das jüngste Mitglied, das wir haben. Und ich kenne ihn.“
Der Junge geht jeden Freitag zu „Fridays for Future“. Er rief dazu auf, Kinder und Enkelkinder dorthin zu schicken. Beifall! Emileo interessierte Habecks Meinung zum Bedingungslosen Grundeinkommen (BGE). Vor drei Jahren sei Robert Habeck noch voll dafür gewesen.
Wer in die Arbeitslosigkeit müsse, dem müsse das Existenzminimum gesichert und dafür gesorgt werden, dass es keinen Rückfall in Würdelosigkeit gebe. Vielleicht führe die Entwicklung „zu einem BGE, womöglich aber auch nur zu einer Grundsicherung, die noch immer bedarfsgeprüft ist“, schränkt Habeck ein.
Seinen Rückzug aus sozialen Medien empfindet Robert Habeck inzwischen als Bereicherung
Ein Herr sprach Habeck darauf an, dass er ja kürzlich die sozialen Medien verlassen habe. Robert Habeck empfindet es inzwischen als Bereicherung.
Während einer Taxifahrt in Berlin habe er einmal in die Tasche nach dem Smartphone greifen wollen, sei dann aber an die gelöschten Apps erinnert worden. Stattdessen habe er die Stadt angeguckt und sich überlegt, was er beim nächsten Termin sage wolle.
Zum Schluss des interessanten Abends mit Robert Habeck noch einmal dessen Anspruch: Mit möglichst vielen reden. Mit möglichst viel Intelligenz und mit möglichst viel Bereitschaft, sich einer anstrengenden Debatte zu stellen. Mit möglichst großer Leidenschaft für seine Ideen werben und darauf hoffen, dass das beantwortet wird und die Menschen das Kreuz an der richtigen Stelle machen.
Wie Aladin El-Mafaalani informierte, hatte ebenfalls am Freitagvormittag ein Schüler-Talk am Helmholtz-Gymnasium zum gleichen Thema stattgefunden, der bei den SchülerInnen auf reges Interesse gestoßen sei.
Musikalische Begleitung von „Der Wolf“. Büchertisch mit Hasan Sahin vom Taranta Babu
Musikalisch hatte „Der Wolf“ (Rapper) auf die Veranstaltung eingestimmt. Der Dortmunder Künstler bestritt auch den Ausklang des Abends. Am Büchertisch, verantwortet vom Taranta Babu und Hasan Sahin, signierten Robert Habeck („Wer wir sein könnten: Warum unsere Demokratie eine offene und vielfältige Sprache braucht“) und Moderator Aladin El-Mafaalani („Das Integrationsparadox: Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt“) noch ihre jüngsten Werke.
Weitere Informationen:
Nächste Termine vom Talk im DKH
Am 29. März ist der nächste Talk im DKH mit der Sozialwissenschaftlerin und Integrationsforscherin Naika Foroutan. Mit dabei wird wieder einmal der Kabarettist Fatih Cevikollu sein. Und am 29. Mai 2019, dem Jahrestag des fremdenfeindlichen Anschlags von Solingen, wird ein Film dazu von Mirza Odabaşı gezeigt.