Erneut wurde der Fall des 2022 bei einem Polizeieinsatz getöteten Jugendlichen Mouhamed Lamine Dramé vor dem Dortmunder Landgericht verhandelt. Am zehnten Prozesstag (3. April 2024) sagte die Besatzung des Rettungswagens aus. Sie hatten den Niedergeschossenen medizinisch erstversorgt und ihn in den Schockraum des Unfallklinikums Nord gebracht.
„Suizid mittels Messer“: Rettungswagen rückte ohne Blaulicht und Horn an
Die junge Besatzung des Rettungswagens gab an, sich am 8. August 2022 auf dem Rückweg aus dem Klinikum Nord befunden zu haben, als sie mit dem Stichwort „Suizid“ zur Holsteiner Straße im Dortmunder Norden gerufen worden seien. Sie hätten sich schnellstmöglich dorthin begeben – das Martinshorn und Blaulicht hätten sie bewusst nicht eingesetzt. Was dann geschah, schilderten die Zeugen vor Gericht aus ihren jeweiligen Perspektiven. ___STEADY_PAYWALL___
Zunächst sagte ein 29-Jähriger Berufsfeuerwehrmann, Rettungs- und Notfallsanitäter aus. Er erzählte, dass sich zu dem Zeitpunkt, als die Sanitäter:innen an der Brunnenstraße ankamen, bereits Polizeikräfte am Einsatzort befunden hätten.
Über Funk sei ihnen zu Beginn mitgeteilt worden, dass der Jugendliche ein Messer bei sich trage. Die Besatzung des RTW habe dann abgewartet, die Trage und weitere Einsatzmaterialien vorbereitet.
Dann habe er Schussgeräusche vernommen – mehrere, schnell hintereinander – und es sei nach den Sanitäter:innen gerufen worden. Er sei durch den Torbogen in den Hinterhof der Einrichtung gerannt, wo er den Jugendlichen auf dem Bauch am Boden liegend, mit den Händen auf dem Rücken gefesselt, vorfand.
Traf das Pfefferspray den Jugendlichen? – Rettungssanitäter stellte gerötete Augen fest
„Der Patient war augenscheinlich wehrig, deshalb bin ich zuerst zu seinem Kopf gegangen, um ihm zu zeigen, dass wir da sind“, erklärte der 29-Jährige. Er habe dann schnell einen „Bodycheck“ vorgenommen, habe den Geschädigten kurz untersucht, denn Patient:innen würden auf der Trage auf den Rücken gelegt. Dabei habe er vier Schussverletzungen an Arm, Schulter, Bauch und Gesicht wahrgenommen.
Mithilfe eines Polizeibeamten sei Mouhamed Lamine Dramé auf die Trage und in den RTW gebracht worden, wobei er immer wieder „wehrig“ gewesen sei. „Es hat so ausgesehen, als wolle er den Oberkörper aufrichten, deshalb mussten wir ihn mit Gurten fixieren“, sagte der Sanitäter vor Gericht. Er erklärte, ihm seien zudem gerötete Augen und die Pfeile der Taser aufgefallen.
Im RTW sei der Notarzt, den die Sanitäter:innen vorsorglich angefordert hatten, dazugekommen. Sie hätten versucht, einen Zugang am Arm zu legen und den Blutdruck zu messen, doch das sei gescheitert. Der niedergeschossene 16-Jährige habe sich zu sehr gewehrt – was ihn und die weiteren Zeugen jedoch nicht sonderlich zu irritieren schien. Insgesamt sei Dramés Zustand stabil gewesen, er habe normal geatmet, hatte Puls, deshalb sei man schnellstmöglich in den Schockraum des Unfallklinikums Nord gefahren.
Die wiederkehrende Frage nach dem Umgang mit Menschen in psychischen Ausnahmesituationen
„Es war total ruhig im Rettungswagen und auch im Schockraum“, berichtete der Zeuge. Mouhamed Lamine Dramé habe immer wieder für ihn Unverständliches gesagt, habe den Notfallsanitäter auch angeschaut. Wie lange die Fahrt zum Krankenhaus dauerte, konnte der Sanitäter nicht mehr einschätzen.
Jurist und Polizeiwissenschaftler Thomas Feltes, der die Nebenklage vertritt, stellte Rückfragen zum allgemeinen Umgang von Rettungssanitäter:innen mit suizidalen Menschen. Situationen in denen Menschen androhten oder versuchten sich zu suizidieren, machten statistisch gesehen rund zehn Prozent aller Rettungseinsätze aus, so Feltes.
Zunächst fahre der RTW zur Einsatzstelle und die Sanitäter:innen verschafften sich einen Überblick. Es handele sich bei Einsätzen mit suizidalen Personen prinzipiell immer um einen Hilfseinsatz, wichtig sei jedoch, keine Eigengefährdung einzugehen. Hilfreich seien dann die Informationen, die das RTW-Team von der Leitstelle bekäme, um die Situation besser einordnen zu können, so der Zeuge.
Hätte die Polizei die Rettungssanitäter:innen oder Fachpersonal hinzurufen sollen?
Professor Feltes fragte, ob es in derartigen Situationen auch möglich sei, einen Psychiater – einen Facharzt – hinzuziehen. Der 29-Jährige erwiderte, das sei so noch nie vorgekommen, könne aber über die Leitstelle angefragt werden.
„Wie sind denn suizidale Personen?“, fragte Feltes. Menschen mit Suizidabsichten seien sehr unterschiedlich, sagte der Zeuge. Es gebe Fälle, in denen Menschen apathisch in einer Ecke hockten, oder aber auch euphorisch seien.
„Wie geht man denn vor, wenn jemand apathisch ist?“, fragte der Jurist weiter. Man müsse den Personen gut zureden, versuchen, die Situation zu entspannen, das machten die Sanitäter:innen auch dann, wenn die Polizei bereits am Einsatzort sei, aber die Gesprächsführung noch nicht übernommen habe, so der Zeuge.
„Zuerst erfolgt der Versuch, eine vertrauensvolle Umgebung zu schaffen, verbal auf den Patienten einzugehen, damit er sein Vorhaben beiseite legt“, ergänzte die 22-Jährige Kollegin des Rettungssanitäters in ihrer Zeugenvernehmung. Kommunikation – „low talk“ – sei enorm wichtig, um den Patient:innen zu helfen. Diese Vorgehensweise sei im Fall von Mouhamed Lamine Dramé jedoch nicht möglich gewesen: „Wir waren ja gar nicht am Patienten dran, wir hätten ja nicht auf ihn einwirken können“, erklärte die Auszubildende.
Mouhamed Lamine Dramé soll sich „am Boden gewunden haben“
Sie selbst habe bei dem Einsatz nur unterstützend gewirkt, da sie im Sommer 2022 noch im ersten Lehrjahr gewesen sei, erklärte die junge Frau weiter. Unmittelbar vor der Schussabgabe hätten sich ihre beiden Kollegen dem Einsatzort von der Missundestraße aus genähert, denn der RTW habe auf Anweisung der Polizei ein Stück entfernt geparkt.
Sie habe die Trage mit den Utensilien in den Innenhof geschoben, einer ihrer Kollegen habe den RTW dorthin gefahren, der andere sei unvermittelt zum Einsatzort gerannt, erklärte die Sanitäterin. Auch sie berichtete, dass sich Mouhamed Lamine Dramé gewehrt habe. „So weit ich das weiß hat er sich auf dem Boden gewunden“, erklärte sie.
Daher seien zwei Polizist:innen, ein Zivilbeamter und eine Polizistin, die kurz vor Abfahrt noch einmal ausgewechselt wurde, mit im RTW zum Krankenhaus gefahren. Der Umstand habe sich auch erst geändert, als das verabreichte Fentanyl in der Klinik anfing zu wirken, so die Zeugin.
Polizist:innen sollen während des Einsatzes Taser und „riesen Schlagstock“ geholt haben
Zuletzt sagte ein weiterer Feuerwehrbeamter aus, der zum damaligen Zeitpunkt Praxisanleiter und Notfallsanitäter war. Er sagte, die Leitstelle habe nicht mitgeteilt, dass auch Polizist:innen hinzugerufen worden waren. Insgesamt habe er drei Streifenwagen gesehen, dem RTW-Team sei von der Polizei symbolisiert worden, dass sie etwas entfernt stehen bleiben sollten. Die drei Sanitäter:innen warteten dann auf nähere Informationen, die sie jedoch nicht bekamen, so der 32-jährige Zeuge. „Wir haben gar nicht geglaubt, dass das so ein großes Ding wird“, sagte er.
In seiner polizeilichen Vernehmung hatte der Zeuge zudem ausgesagt, zwischendurch gesehen zu haben, wie Beamt:innen zum Streifenwagen gingen, Taser und einen „riesigen Schlagstock“ holten und wieder zum Einsatzort zurückkehrten. Daran könne er sich heute nicht mehr erinnern, wenn er das aber damals ausgesagt habe, dann sei das so gewesen, so der junge Sanitäter.
Er erklärte weiter: „Da sind immer wieder Kinder umhergelaufen, auch zum Einsatzort, deshalb sind wir dann auch in die Richtung gegangen.“ In der Missundestraße habe er eine Polizistin stehen sehen, die eine Waffe in der Hand gehalten habe, sagte der junge Mann. Genaueres könne er nicht sagen, zu weit sei er entfernt gewesen.
Dem Jugendlichen wurde im Rettungswagen mittels Bohrmaschine ein „Knochenzugang“ gelegt
Auf dem Rückweg zum RTW seien dann die Schüsse gefallen und er habe den RTW zur Jugendhilfeeinrichtung gefahren. Nach einem „schnellen Bodycheck“ habe man Mouhamed Lamine Dramé schnellstmöglich in den RTW gebracht, um weitere Maßnahmen einleiten zu können. Da seien dem jungen Senegalesen auch die Handfesseln gelöst worden.
Da sich Dramé weiterhin gewehrt habe, sei mithilfe von einer Bohrmaschine am Oberschenkel ein „Knochenzugang“ gelegt worden, so der Notfallsanitäter. Dann sei man schnellstmöglich ins Klinikum Nord gefahren. Im Schockraum hätten die Ärzte bereits auf den Patienten gewartet, so der Zeuge.
Das Ableben des Jugendlichen habe er noch vor Ort mitgeteilt bekommen, sagte er und stockte kurz. „Und gesehen“, ergänzte er. Richter Thomas Kelm fragte, ob auch er die geröteten Augen des Opfers wahrgenommen habe, der Zeuge verneinte. „Bei den Schussverletzungen macht man sich um Pfefferspray wahrscheinlich weniger Sorgen“, merkte der Vorsitzende an.
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Reaktionen
Wolfgang Richter
Dem Nordstadtblog ist zu danken, dass kontinuierlich und solide über die gerichtliche Verhandlung gegen Mitglieder der Polizeistation Nord berichtet wird. Leider geschieht dies zunehmend unter der Überschrift „Fall des Mouhamed Lamine Dramé“. Aber er ist nicht der zu verhandelnde ‚Fall‘. Sondern dies ist der Fall der Mitglieder der Polizeieinheit, die ihn tötete. Ein Urteil wird (hoffentlich) nicht gegen ihn – sondern (hoffentlich) gegen die Polizeigruppe und ihre Leitung gefällt.
11. Verhandlungstag in der Hauptverhandlung am Landgericht Dortmund zum Tod von Mouhamed Lamine Dramé: „Die späten Einlassungen gehören zur Verteidigungsstrategie“ (PM)
Gemeinsame Pressemitteilung des Solidaritätskreises Justice4Mouhamed, des Grundrechtekomitees und NSU-Watch NRW.
Am nun kommenden Mittwoch, den 17. April 2024, wird vor dem Landgericht Dortmund zum 11. Mal in der Anklage gegen fünf Polizist*innen verhandelt. Das Gericht um den vorsitzenden Landgerichtsrichter Thomas Kelm soll Recht sprechen in der Frage, wie der 16-jährige Mouhamed Lamine Dramé am 8. August 2022 von Polizist*innen der Dortmunder Nordstadtwache getötet wurde.
Das Gericht verhandelt seit Mitte Dezember 2023. Nach Monaten der Beweiserhebung wollen zwei der angeklagten Polizist*innen nun endlich Einlassungen zur Sache machen. „Die Einlassungen der Angeklagten kommen spät. Das überrascht uns nicht. Denn wir gehen davon aus, dass die Polizist*innen auf der Anklagebank jede Möglichkeit nutzen, sich in ihrer Sichtweise auf ihren tödlichen Einsatz vor 1,5 Jahren bestmöglich vorzubereiten,“ sagt Bo, Sprecher*in des Solidaritätskreises Justice4Mouhamed. „Die späten Einlassungen gehören zur Verteidigungsstrategie.“ Nach vier Monaten vor Gericht kennen die Angeklagten inzwischen die Aussagen fast aller Tatzeug*innen, darunter vor allem auch die ihrer eigenen Kolleg*innen, die mit am Einsatz beteiligt waren.
„Wir erwarten von einem Gericht, das die Tragweite des Prozesses ernst nimmt, dass es die Einlassungen der Angeklagten und die Aussagen ihrer Berufskolleg*innen in genau diesen Rahmen einordnet – als strategische Prozessführung der Verteidigung. Die Kammer muss endlich prüfen, wie glaubwürdig das bisher von den Polizist*innen Geschilderte dazu passt, dass am Ende des kurzen Einsatzes ein Mensch durch sie getötet wurde.“
Das zu erwartende große Interesse, welches den Einlassungen der Angeklagten im Prozessgeschehen folgen wird, hat aber einen Haken: „Diese große Aufmerksamkeit ist der Familie Dramé und der Geschichte von Mouhamed Lamine Dramé, noch an keinem einzigen Prozesstag zuteil geworden.“ Im Gegenteil: dem ausdrücklichen Wunsch von Sidy und Lassana Dramé, als Nebenkläger ein Statement abzugeben, wurde von Richter Kelm oder der Staatsanwaltschaft keine Berücksichtigung geschenkt.
„Seit Sidy und Lassana Dramé im Gerichtssaal dabei sein können, sind sie nicht einmal angesprochen, begrüßt oder überhaupt nur wahrgenommen worden. Gericht und Verteidigung tun so, als seien sie Luft,“ ergänzt Alex, Unterstützer*in im Solidaritätskreis Justice4Mouhamed.
„Es ist klar, dass Strafprozesse keinen Wert auf zwischenmenschliche Gesten legen – warum auch. Es geht um Rechtsprechung. Dass die Hinterbliebenen aber keines Blickes gewürdigt und in ihrem Anliegen und Schmerz nicht gesehen werden, ist nur schwer auszuhalten.“
Sidy und Lassana Dramé erhoen sich Gerechtigkeit durch den Prozess für ihre Familie. „Möge die Gerechtigkeit geschehen, möge die Wahrheit ans Licht kommen. Was die Polizei tut, ist überhaupt nicht gerecht. Das ist der Grund, warum die Familie uns hierher geschickt hat. Wir sind hier, um darauf zu warten, dass Gerechtigkeit geschieht. Wir warten darauf, dass am Ende jeder weiß, dass die Polizisten unrecht hatten, als sie unseren Bruder töteten“.
Die beiden Brüder blicken besorgt auf den kommenden Prozesstag: „Wir rechnen mit gut vorbereiteten Aussagen seitens der Polizisten, welche in unserer Erwartung keinen Beitrag dazu leisten werden, die Realität des Geschehenen abzubilden,“ so Sidy Dramé. Sie bitten um zahlreiche Unterstützung am kommenden Prozesstag.
Für den Verhandlungstag am 17. April ist eine Mahnwache des Solidaritätskreises Justice4Mouhamed vor dem Landgericht sowie die solidarische Prozessbeobachtung geplant. Der Gerichtsprozess wird von Beginn an durch den Solidaritätskreis, dem Grundrechtekomitee, NSU-Watch sowie anderen zivilgesellschaftlichen Initiativen und Einzelpersonen solidarisch begleitet.
Weitere Informationen sowie einen Aufruf zur Spendenkampagne, mit welcher die Teilnahme von Familie Dramé am Prozess finanziert wird, gibt es auf der Homepage: https://justice4mouhamed.org/