Im Sommerloch gibt es viel Raum für fragwürdige Ideen und Vorschläge. Nachdem CSU-Landesgruppen-Chef Alexander Dobrindt gefordert hatte, arbeitslose Ukrainer:innen abzuschieben, setzt Carsten Linnemann, seines Zeichens Generalsekretär der CDU, die nächste verfassungswidrig klingende Idee in die Welt: Bürgergeld-Empfänger:innen, die Jobangebote nicht annehmen und sich der Arbeit verweigern, solle das Bürgergeld komplett gestrichen werden. Er behauptete in einer Talkshow, das betreffe eine „sechsstellige Zahl“ an Empfänger:innen. Wir haben mal beim Jobcenter in Dortmund nachgefragt, was es denn mit den angeblichen „Totalverweigerern“ auf sich hat, ob es sie überhaupt als eine Kategorie beim Jobcenter gibt und ob diese erfasst werden.
Das Jobcenter registriert überhaupt keine „Totalverweigerer“
Die klare Antwort von Dortmunds Jobcenter-Sprecher Sebastian Böker: „Nein“. „Totalverweigerer“ sind gar keine Kategorie, die erfasst wird. Was erhoben wird, ist die Zahl jener, die wegen der Verweigerung der „Aufnahme oder Fortführung“ einer Arbeit, Ausbildung oder Qualifizierungsmaßnahme das Bürgergeld zuletzt gemindert bekamen.
Um wie viele Menschen in Dortmund geht es? „Unter den Gründen, die es für eine Leistungsminderung geben kann, kommt die Weigerung, ein Arbeitsverhältnis oder eine Ausbildung aufzunehmen oder fortführen zu wollen, dem Begriff der „totalen“ Verweigerung unserer Meinung nach noch am nächsten“, so Böker. ___STEADY_PAYWALL___
Insgesamt 137-mal kam es binnen eines Jahres unter allen erwerbsfähigen Menschen, die das Jobcenter Dortmund betreut (im aktuellen Monat sind es 64.758) dazu, dass eine Leistungsminderung aus diesem Grund ausgesprochen werden musste. „Wie Herr Linnemann auf eine sechsstellige Zahl von Totalverweigerern kommt, müsste man ihn selbst fragen“, so Böker.
Komplette Kürzung würde gegen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verstoßen
Doch kann man überhaupt die Mittel auf Null setzen? Gibt es nicht ein Recht auf ein Existenzminimum? „Mit dieser Frage hat sich das Bundesverfassungsgericht eingehend beschäftigt. Für das Bürgergeld gilt: Wer sich bewusst und grundlos weigert, eine konkret angebotene, zumutbare Arbeit aufzunehmen und vorher (innerhalb des letzten Jahres) bereits gegen eine Pflicht zur Aufnahme einer Arbeit verstoßen oder sein Arbeitsverhältnis grundlos gekündigt hat, dem kann vorübergehend für die Dauer von bis zu zwei Monaten der Regelbedarf im Bürgergeld komplett entzogen werden“, erklärt Böker.
Die Regelung betrifft damit nur Personen, die konkret arbeiten könnten, dies aber zu Lasten der Allgemeinheit nicht tun. Fällt das konkrete Jobangebot weg oder nimmt der Leistungsberechtigte das Jobangebot doch an, entfällt auch der Entzug des Regelbedarfs.
„Zudem dürfen, um Obdachlosigkeit zu vermeiden, die Wohn- und Heizkosten nicht gekürzt werden. Gleiches gilt für Mehrbedarfe beispielsweise wegen Schwangerschaft. Auch die weiteren Verhältnismäßigkeitskriterien des Minderungsrechts greifen in diesen Fällen – die Möglichkeit der persönlichen Anhörung und die Härtefallprüfung. Ebenso ist zu prüfen, ob die Bürgergeldbeziehenden einen wichtigen Grund für ihr Verhalten darlegen und nachweisen“, erklärt der Sprecher des Jobcenters.
Die überwiegende Zahl der Jobcenter-Kund:innen ist davon nicht betroffen
Doch gibt es überhaupt einen Bedarf nach strengeren Sanktionen oder macht die überwiegende Zahl der Kund:innen nicht ohnehin mit? „Die überwiegende Zahl der Menschen, die Leistungen durch das Jobcenter Dortmund beziehen, kommen mit Leistungsminderungen nicht in Berührung“, so Böker. Aktuell betreut das Jobcenter Dortmund 64.758 erwerbsfähige Leistungsberechtigte in 45.529 Bedarfsgemeinschaften.
„Wir wissen, dass Minderungen für die Betroffenen hart sein können. Im Fall von Regelverstößen gibt es jedoch eine gesetzliche Handlungspflicht der Kolleginnen und Kollegen, die faktisch keinen Spielraum lässt.“
Sanktionen gibt es, wenn es Pflichtverletzungen gibt. Sebastian Böker stellt die Zahlen eines Jahres in Dortmund (konkret im Zeitraum April 2023 bis März 2024) nach Gründen vor und listet neu festgestellte Leistungsminderungen auf. Gezählt wurden im Jobcenter Dortmund 5.082 Leistungsminderungen bei 3.267 Personen. In 4.738 Fällen handelte es sich dabei um Meldeversäumnisse (über 93 Prozent).
Nur 137-mal wurden zeitweise prozentuale Kürzungen ausgesprochen
Und die Verweigerungen? „137-mal kam es unter allen Kunden in diesen 12 Monaten dazu, das eine Leistungsminderung ausgesprochen werden musste, weil Kundinnen und Kunden ein Arbeitsverhältnis oder eine Ausbildung nicht aufnehmen oder fortführen wollten. In zehn Fällen war der Grund der Nichtantritt oder Abbruch einer Maßnahme. Viermal wurden Leistungen gemindert, weil Kund:innen ihr Einkommen oder Vermögen absichtlich vermindert haben“, so Böker.
Vollständige sofortige Kürzungen sieht das System nicht vor – stattdessen gibt es ein kompliziertes System: Bei der ersten Pflichtverletzung werden zehn Prozent der Unterstützungsleistung für einen Monat gekürzt, bei einer zweiten Pflichtverletzung sind es 20 Prozent für zwei Monate. Jede weitere Pflichtverletzung wird mit 30 Prozent für drei Monate innerhalb von 12 Monaten ab Beginn des vorangegangenen Minderungszeitraums sanktioniert.
Immer wieder Schlagzeilen mit fragwürdigen populistischen Thesen
Zurück zu Dobrindt, Linnemann und Co. (es könnten aber auch Politiker:innen jeder anderen Partei sein – vor allem von der AfD): Obwohl diese Art von Forderungen weder machbar noch in der Begründung zutreffend ist, sorgt das für mediale Aufmerksamkeit und mitunter zu aufgeregten Reaktionen aus anderen Parteien – positiv wie negativ.
Im konkreten Fall ist die Rechtslage eindeutig: Im November 2019 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass man Menschen das Bürgergeld (damals noch „Hartz IV“) nicht komplett entziehen darf. Warum nicht, erklärt die Bundeszentrale für politische Bildung: Es gibt in Deutschland ein Grundrecht auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Das gilt übrigens auch für Geflüchtete.
Das Recherche-Kollektiv „Correctiv“ hat sich mit diesem Fall ebenfalls befasst. Darauf kommentierte eine Leserin: „Warum steht in den Artikeln nicht oder nur selten, dass es ein vom Gesetz zustehendes Existenzminimum gibt?“
„Wenn ein Politiker behauptet, Dinge einfach umsetzen zu können, obwohl sie rechtlich gar nicht möglich sind, dann sagt man dazu im Alltagsgebrauch: Populismus. Und vielleicht, so der kluge Gedanke der Leserin, sollte genau das – quasi als Beipackzettel – in Medienberichten über solche Äußerungen ganz oben stehen: Achtung, Populismus, nicht wirklich umsetzbar“, schlägt „Correctiv“ vor.
Kann man so machen…
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Sozialforum Dortmund protestiert gegen Sanktionsverschärfungen beim Bürgergeld
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