Nicht allein die potenziellen Opfer schulen! KOMMENTAR zur Aktion „Toter Winkel“ an der Oesterholz-Grundschule

Ein gleichzeitiges Grün für AutofahrerInnen und Radverkehr sorgt immer wieder für Probleme.
Gleichzeitiges Grün für Fahrzeuge und Radverkehr sorgt oft für Probleme. Mit korrekt eingestellten Spiegeln und Assistenzsystemen gibt es keinen Bereich neben oder vor dem Fahrzeug mehr, der übersehen werden könnte.

Von Angelika Steger

„Und seht Ihr, liebe Kinder, der LKW-Fahrer sieht Euch nicht.“ Wieder und immer wieder dürfen Kinder sich das Lehrstück des „Toten Winkels“ anhören, werden gemahnt, ja nicht neben einen LKW im Straßenverkehr zu treten, sei es als FußgängerInnen oder RadfahrerInnen. Wo sie dann noch selbst mit dem Rad fahren oder zur Schule gehen sollen, bleibt ungewiss. „Elterntaxis“ können nicht die Lösung für eine Stadt sein, die schon am Verkehrskollaps durch zu viele Fahrzeuge leidet.

Die Legende vom „Toten Winkel“ und indirekte unangebrachte Schuldzuweisungen

Plakat zur DEKRA-Kampagne „Toter Winkel“.
Plakat zur DEKRA-Kampagne „Toter Winkel“.

Der sogenannte „Tote Winkel“, auf den gern als Unfallursache zurückgegriffen wird, existiert nur noch in den Köpfen einiger Verkehrssicherheitsgesellschaften wie der DEKRA und leider auch bei vielen MitarbeiterInnen der Polizei.

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Kategorisch wird indirekt den Unfallopfern die Schuld gegeben, weil sie den „Toten Winkel“ nicht beachtet hätten. Bereits im Jahr 2017 hatte die Polizei Hamburg die Aktion „Der Tote Winkel ist tot“ gestartet.

Sie zeigt: Mit korrekt eingestellten Spiegeln und Assistenzsystemen gibt es keinen Bereich neben und vor dem LKW mehr, den der oder die FahrerIn nicht sehen könnte.

Denn die Ursachen für die Unfälle mit rechtsabbiegenden LKWs, bei denen Radfahrende zu Schade oder gar zu Tode kommen, sind vielfältig.

Das Werbeplakat der DEKRA, einem Verein für Verkehrsschulungen, das beim Verkehrsinfotag der Polizei in der Oesterholzgrundschule gezeigt wurde, hat nichts mit der Realität zu tun.

Wird bei Verkehrsschulungen die falsche Zielgruppe angesprochen?

„Geh mit DEKRA dem Toten Winkel aus dem Weg“ ist darauf zu lesen, ein radfahrendes Kind steht in ausreichendem Abstand neben dem LKW. In der Realität ist das nie der Fall, die Straßen in der Stadt sind so eng, dass oft nicht mal Platz für Radwege ist.

Nach dem tödlichen Verkehrsunfall erinnert ein „Ghost Bike“ an den getöteten elfjährigen Radfahrer.
Nach dem tödlichen Verkehrsunfall erinnert ein „Ghost Bike“ an den getöteten elfjährigen Radfahrer. Foto:

Das zeigen auch die beiden Unfälle, an die heute noch mahnend zwei Ghosbikes in der Nordstadt, Kreuzung Leopoldstraße/Mallinckrodtstraße und Schützenstraße/Mallinckrodtstraße erinnern.

Der elfjährige Schüler und der Rentner hätten an beiden Kreuzungen niemals Raum und Zeit gehabt, dem Toten Winkel auszuweichen. Derartige Verkehrsinfotage, mögen sie auch noch so gut von Polizei und DEKRA gemeint sein, greifen zu kurz und schulen den Falschen.

Denn es sind nicht die Radfahrenden und FußgängerInnen, die verantwortlich für einem Abbiegeunfall sind. Es sind die LKW-FahrerInnen und eine verfehlte Infrastruktur, die jahrzehntelang eine auto- statt menschengerechte Stadt geschaffen hat.

Parkplätze entlang der Straßen, oft genug direkt neben den Radwegen bergen zusätzlich noch die Gefahr von „Dooring-Unfällen“: durch sich öffnende Autotüren kommen Radfahrende zu Fall. Um nicht direkt neben dem LKW an der Ampel stehen zu müssen oder durch aufgerissene Autotüren zu stürzen, gehören diese Parkplätze gestrichen und für sichere Protected Bike Lanes verwendet.

Polizeistatistik: 2018 drei von vier tödlichen Fahrradunfällen durch das Problem des „Toten Winkels“ 

Auch wenn es Politikern Mut und Wählerstimmen kostet, auch wenn das wütende Geschrei von Autofahrenden zuerst übermäßig laut sein wird. Erst dann können RadfahrerInnen sicher unterwegs sein, erst recht diejenigen, die die meisten Unfallopfer ausmachen: Kinder und Senioren.

Blick aus dem Fahrerhaus. Die Kamera des Assistenzsystems zeigt, was neben dem LKW sich befindet. Fotos: A. Steger
Blick aus dem Fahrerhaus. Die Kamera des Assistenzsystems zeigt, was sich neben dem LKW befindet.

Laut der Statistik der Polizei Dortmund sind im Jahr 2018 drei von vier tödlichen Unfällen unter Beteiligung von Radfahrenden ursächlich auf das Problem des „Toten Winkels“ zurückzuführen. Die Hauptursache waren LKW-FahrerInnen, die die Existenz und die Grünphase der Radfahrenden missachtet hatten. Drei tote Menschen im Straßenverkehr zu viel, die noch leben könnten, wenn Gesellschaft Polizei und Politik es denn wollten.

Auf Nachfrage beim Verkehrsinfotag sagte der Polizist der Verkehrsdirektion nur, dass man doch einen Parkplatz für sein Auto wolle. Eben gerade darum nicht, wenn die Sicherheit von Kindern, sei es auf dem Schulweg oder in der Freizeit, oberste Priorität haben soll. Diese Haltung, dass Parkplätze doch unverzichtbar seien zeugt davon, wie autozentriert viele Menschen in Deutschland immer noch eingestellt sind. Und das, obwohl der Klimawandel längst spürbar ist und andere Mobilitätsformen fordert, wenn wir in Zukunft gut und sicher leben wollen.

Es ist unverständlich, dass beim Verkehrsinfotag an der Oesterholzgrundschule gesagt wurde, dass die Polizei keine Forderungen aufstellen, sondern nur vor Unfallgefahren warnen könne. Warum hat die Gewerkschaft der Polizei Anfang April dann eine großartige, deutschlandweite Forderung nach einer Helmpflicht aufgestellt? Warum noch große Warnungen vor dem sogenannten „Toten Winkel“ , wenn doch alle Spiegel richtig eingestellt waren und man vom FahrerInnensitz aus alles sah, was sich rechts neben dem Fahrzeug befand?

Vielfältige Unfallursachen werden schlicht und einfach ignoriert und auf ein Problem reduziert

Nach § 12 des Arbeitsschutzgesetzes sind die ArbeitgeberInnen verpflichtet, ihre FahrerInnen zu Abbiegeunfällen, auch zur richtigen Einstellung der Spiegel, zu schulen.

Eine der vierten Klassen der Oesterholzgrundschule beim Verkehrsinfotag der Dortmunder Polizei zum sog. "Toten Winkel." Fotos: A. Steger
Eine der vierten Klassen der Oesterholzgrundschule beim Verkehrsinfotag der Dortmunder Polizei zum sog. „Toten Winkel.“ Fotos (5): A. Steger

Die Berufsgenossenschaft Verkehr, kurz BG Verkehr, unterstützt die Spediteure dabei mit Infomaterialien und Aufsichtspersonen, die Betriebe kontrollieren und die Schulungen überwachen. Bei der Vielzahl und Schwere der Unfälle mit rechtsabbiegenden LKWs stellt sich aber die Frage, wie wirkungsvoll diese Schulungen der Arbeitgeber wirklich sind.

Läge es der Polizei und der Kommunal- wie der Landespolitik wirklich etwas an der Verkehrssicherheit für Kinder, würden Ampelschaltungen verbessert. Wenn nicht gleichzeitig rechtsabbiegende LKWs und geradeaus fahrende Fahrzeuge, insbesondere Radfahrende, grün haben, wird die Unfallgefahr vermieden. Auch die Unfallforschung der Versicherer belegt in einer Studie, dass neben dem Fahrpersonal und Fahrzeug, der Infrastruktur eine große Bedeutung zukommt. Ebenso der Zeitdruck, unter dem viele FahrerInnen stehen.

LKW-FahrerInnen und SpediteureInnen sind aufgefordert, großzügigere Zeitpläne für ihre Lieferungen aufzustellen. Stress und Zeitdruck sind keine Entschuldigung für die Verletzung oder den Tod eines Menschen im Straßenverkehr, weil man deren Existenz und ggf. Vorfahrt im Straßenverkehr missachtet hat.

Warum sind unterstützende Assistenzsysteme nicht schon lange Pflicht?

Und: kein Telefon am Ohr! Bei einer Kontrollaktion der Berliner Polizei vom 1. bis zum 12. April wurden 2662 LKW-FahrerInnen kontrolliert, davon waren 298 Abbiege-Verstöße, 165 Rotlicht-Verstöße und das Nichtbetätigen des Blinkers.

Diverse Assistenzsysteme können den Rundumblick unterstützen.
Diverse Assistenzsysteme können den Rundumblick unterstützen.

Wenn überhaupt Assistenzsysteme in LKWs verbaut sind, geben diese nur bei eingeschaltetem Blinker eine Warnung an den Fahrer/die Fahrerin ab. Eine Pflicht, diese Assistenzsysteme einzubauen, schreibt die EU erst ab dem Jahr 2022 vor.

Wenn die GdP eine Helmpflicht für RadfahrerInnen fordert, warum fordert sie dann nicht die Politik und Spediteure auf, zur Unfallvermeidung derartige Systeme in LKWs nachzurüsten? Wenn die Polizei Dortmund GrundschülerInnen und potenzielle Opfer zum sogenannten „Toten Winkel“ schulen will, warum schult sie dann nicht die VerursacherInnen und Verantwortlichen für die Unfälle mit genau diesem „Toten Winkel“?

Warum werden nicht wie in Berlin LKW-FahrerInnen darauf überprüft, ob sie aufmerksam genug im Straßenverkehr sind, sich nicht durch Telefonieren, Nachrichten auf dem Smartphone etc. ablenken lassen, den Blinker setzen und Rotlicht beachten? Die einseitige Schuldzuweisung an die schwächsten VerkehrsteilnehmerInnen ist beim Thema „Toter Winkel“ mehr als unangebracht.

Politik, Polizei und Speditionswirtschaft sind aufgefordert zu handeln

Der Verkehrsinfotag der Polizei Dortmund in der Oesterholzgrundschule zeigt, dass die Ursachen für Abbiegeunfälle mit LKW-FahrerInnen zu vielfältig sind, als dass sie nur, wie in der Pressemitteilung behauptet, durch Schulung der Kinder vermieden werden könnten.

Verkehrsschulung der DEKRA an der Oesterholz-Grundschule.
Verkehrsschulung der DEKRA an der Oesterholz-Grundschule.

Politik, Polizei und die gesamte Speditionswirtschaft sind aufgefordert, ihren Teil beizutragen, damit nicht noch mehr Menschen im Straßenverkehr, vor allem Kinder und Senioren, zu Tode kommen. Die Stadt muss für die Menschen gebaut sein, nicht für Autos und LKWs.

Alle Forderungen an Polizei, Politiker und die Spediteure bedeuten nicht, dass Radfahrende und FußgängerInnen Narrenfreiheit im Straßenverkehr hätten. Rücksicht und Regeln gelten für alle VerkehrsteilnehmerInnen. Es verbietet sich, die schwächeren VerkehrsteilnehmerInnen von FußgängerInnen und Radfahrenden gegeneinander auszuspielen, wenn sie sich den vom Autoverkehr überlassenen, geringen Platz noch untereinander teilen sollen: Gehwegradeln ist nicht in Ordnung, wird aber von manchen auch aus Angst praktiziert.

In der Bornstraße ist die Grünphase am Fußgängerüberweg auf Höhe der Stollenstraße so kurz, dass man als Radfahrende-/r rasen und damit die ebenfalls zum Übergang berechtigten FußgängerInnen umstoßen müsste, wollte man sich an die Regel „nur bei Grün fahren“ halten. Laut dem Verkehrsforscher Andreas Knie vom Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung ist die Benachteiligung des Radverkehrs und der Radfahrenden bereits in der Straßenverkehrsordnung verankert. Im Interview mit dem Deutschlandfunk bestätigt er ebenso, dass jahrzehntelang die „autogerechte Stadt“ Ziel jeder Kommunal- und Landespolitik war und ist.

Die beiden Radfahrer, für die in der Nordstadt Dortmund ein Ghostbike steht, hatten sich an die Verkehrsregeln gehalten. Sie haben diese Regeleinhaltung mit ihrem Leben bezahlt.

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