Generationenwechsel im Fletch Bizzel: Horst Hanke-Lindemann, seit Jahrzehnten an der Spitze des Freien Theaters, läutet seinen Rückzug ein. Mit Bedacht, ohne sich gleich ganz zu verabschieden. Eine Vollbremsung wäre auch kaum zu erwarten gewesen. Doch es wird sich vermutlich einiges verändern. Ab Februar leitet ein Gespann aus zwei Nachwuchskünstler*innen, die sich mittlerweile einen Namen gemacht haben, die bekannte Dortmunder Kultureinrichtung. Das Radikale daran: sie haben freie Hand. Und sind ausgerüstet mit jeder Menge Ideen. Deren Umsetzung freilich muss von Till Beckmann und Cindy Jänicke wegen der unklaren Infektionsentwicklung relativ offen angesetzt werden. Was alle Akteure eint: unter Konsolidierung und Ausbau eines qualitativ äußerst hochwertigen Angebots – darunter geht gar nix.
Nachwuchskräfte haben in Sachen künstlerischer Leitung – schlicht freie Hand
Die wohl elementarste Aussage kam so ziemlich gegen Ende der virtuellen Zusammenkunft, nämlich vom scheidenden Fletch Bizzel-Chef selbst. Und sie ließ an Deutlichkeit nichts vermissen: Alles, was das Haus und dessen künstlerische, schließlich die Gesamtleitung beträfe, betont Horst Hanke-Lindemann bei der kontaktfreien Online-PK – das läge von nun an allein in den Händen der beiden. Gemeint waren die Neuen, die gewohnte Qualität sichern, aber auch ausbauen sollen. Das sind Cindy Jänicke und Till Beckmann, die zum 1. Februar als Team die weit über die Stadtgrenzen hinaus wertgeschätzte Dortmunder Kulturinstitution in der westlichen Innenstadt lenken werden. ___STEADY_PAYWALL___
Und die beiden Newcomer in der Dortmunder Kulturszene haben diesbezüglich freie Hand. „Ich steige hier ganz klar aus“, lässt der baldige Rentner und gebürtige Dortmunder keine Zweifel an seinen Absichten. Die Rolle des Altmeisters, der den jungen Leuten patriarchalisch sagt, wo’s langgeht – ne, so eine Rolle kann er sich nicht vorstellen.
Für den ehemaligen Photographen und gelernten Schauspieler steht wohl fest, auch mit einem wohlwollenden Augenzwinkern: die sollen gefälligst ihre eigenen Erfahrungen machen. So wie ehemals die jetzigen Alten vor ihnen, und die davor. Denn wüssten die schon immer alles, wär’s vorbei mit Entwicklungschancen für die Jugend. Und dann könnte ja auch keiner mehr alt werden.
In der nüchternen Presseerklärung zum Thema aus der Theaterleitung des Fletch Bizzel heißt es: Cindy Jänicke und Till Beckmann übernehmen die Gesamtleitung, oder so ähnlich. Und Horst Hanke-Lindemann? Unzweifelhaft ist: Enten am See zu füttern, gewissermaßen als Höhepunkt eines beschaulichen Rentnertages, das dürfte für den jahrzehntelangen künstlerischen Leiter des geschätzten Freien Theaters in der Humboldtstraße wenig verführerisch sein.
RuhrHOCHdeutsch und Geierabend: den beliebten Formaten bleibt Horst Hanke-Lindemann erhalten
Immerhin gäbe es da (mindestens) zwei persönliche „kleine Steckenpferde“, die er noch eine Weile weiterführen möchte, sagt der scheidende Theaterchef. Und die sind nicht ohne: RuhrHOCHdeutsch – Comedy und Kabarett in sorgsam elaboriertem Pottdialekt – ein mit dem Tegtmeier-Preis ausgezeichnetes Festival, das zwar stets um städtische Zuschüsse kämpfen muss, sich aber nicht wirklich über mangelnde Besucherzahlen beklagen kann.
Und, zweitens, sein, ja das „das Baby im Haus“, der Geierabend. Seit nunmehr fast 30 Jahren: des Kumpels wie der Kumpelin bierernst gemeinte Alternative gegenüber dem Jeckentreiben am Rhein. Das mag zwar dort was Närrisches sein und an sich nicht schlecht, weil gegen die Obrigkeit gerichtet. Aber, jetzt mal für sich genommen: für den Ruhrgebietsjunkie ist das zweifelsfrei genauso sinnlos wie Kölsche Plörre saufen. Öffentliche Wahrnehmung der Veranstaltungsreihe an der Ruhr, besonders in Dortmund: Tendenz massiv steigend.
Hier möchte er noch mitwirken, der Horst, es sind ja auch irgendwie seine Kinder. Da kannst Du Dich nicht einfach – mir nichts, dir nichts – davonmachen. Doch weshalb hört er dann überhaupt auf? Eigentlich bedarf das mit 68 Jahren nur in einer ziemlich leistungsbesessenen Gesellschaft einer besonderen Rechtfertigung. Im Grunde ist alles mit gutem Menschenverstand selbsterklärend.
Klarer Anspruch einer Dortmunder Kulturinstitution: „außerordentlich hohe Qualität“ zu liefern
Nichts Außergewöhnliches jedenfalls. Das Alter, die Belastungen, etwas loslassen können, fokussieren, was bleibt. Neben ihm würden zwei verdiente Kolleg*innen in Rente gehen, sagt er beim Online-Gespräch. Umgekehrt ist da aber noch ein Stammteam im Haus: Kontinuität, Bestand ist mithin gesichert. Aus der bislang dualen Leitung der zum Fletch Bizzel gehörenden Kulturwerkstatt verabschiedet sich etwa Doris Wäder in den Ruhestand; Dorothee Schickentanz hingegen bleibt der Einrichtung erhalten.
Mit seinem offenen, freundlichen Lächeln, seiner Ruhe verbreitet Horst Hanke-Lindemann Zuversicht, Optimismus. Den bräuchte es auch, erklärt er, gerade bei der Planungsunsicherheit in der Pandemiezeit. Ein weites Feld.
Spricht er über seine jungen Nachfolger*innen, ist er nicht nur überzeugt, dass die ihre Sache gut machen werden. Immerhin hängt die Messlatte des Hauses weiterhin bei „einer außerordentlich hohen Qualität“. Entscheidend war das positive Votum des Trägervereins zugunsten der beiden, dem er weiterhin vorsitzen wird. „Ich bin mir sicher, dass der Trägerverein eine Entscheidung getroffen hat, die außerordentlich ist“, macht er die Analogie auf. – Wer sind die beiden Neuen nun?
Der Theatermacher mit diversen Nebentätigkeiten: Till Beckmann
Till Beckmann stammt aus einer Theaterfamilie, wie er sagt. Und aus dem Ruhrgebiet, Recklinghausen-Süd. Wuchs pendelnd zwischen seinen Eltern in Wanne Eickel und Dortmund auf.
War vor allem auf der Bühne. Seine Liebe zum Theater entdeckte er früh, schon als Achtzehnjähriger in den Flottmannhallen Herne. Prägte maßgeblich zusammen mit seinem Bruder seit 2006 das dortige theaterkohlenpott. Als „kleinstes festes-freies Ensemble Deutschlands“ im Haus, mehrfach ausgezeichnet und im gesamten deutschsprachigen Raum unterwegs, erspielten sie sich ein wachsendes Stammpublikum.
Studiert hat er auch, aber nicht immer nach „Bauchgefühl“, wie er andeutet. Stattdessen gründete er zunächst mit seinen Geschwistern das freie Ensemble Spielkinder . Doch das Akademische ließ ihn keinesfalls los. Näherhin handelte es sich später um ein Studium der Literatur an der Ruhr-Uni Bochum. Weshalb er sich nun Bachelor of Arts nennen und daher Taxi fahren dürfe, bemerkt er mit jenem selbstironischen Humor, den es wohl braucht, um an den Unwägsamkeiten im heutigen Kunstbetrieb nicht zu verzweifeln. Corona lässt besonders grüßen.
Lange Liste von Engagements bei Festivals und an Theatern in der Bundesrepublik
Seine bisherigen Gastspiele und Engagements bei Festivals und an verschiedenen Theatern können sich mehr als nur sehen lassen. Vorweisen kann er unter anderem die Ruhrtriennale, die Duisburger Akzente, die Ruhrfestspiele, das Deutsche Schauspielhaus Hamburg, das Junge Ensemble Stuttgart (JES), das Schauspiel Essen, das Consol Theater, das Schlosstheater Moers, das FFT in Düsseldorf.
Ganz nebenbei ist/war Till Beckmann auch noch (Drehbuch-)Autor, Sprecher, u.a. beim WDR, Regisseur, zuletzt am Comedia Theater Köln und in den letzten drei Jahren beim Dortmunder Geierabend, schließlich (gemeinsam mit Jennifer Ewert) Veranstalter (Kulturschiff, Programme bei der Extraschicht, Shows im Alten Wartesaal Herne). Arbeitete über Comedy, Leseshows und Kleinkunstprogramme bereits mit bekannten Künstler*innen wie Hilmi Sözer, Enis Maci, Ketil Bjornstad, Karosh Taha, Ernest van der Kwast, Michael Hofstetter, Peter Eisold, Sabine Brandi und anderen zusammen. – Es kann nicht anders sein: da steckt Erfahrung drin.
Dramaturgin und einiges mehr, dazu klare Ansagen: Cindy Jänicke
Seine neue Kollegin mit Wurzeln in der Nähe von Wittenberg ist ausgebildete Dramaturgin. Cindy Jänicke assistierte anfangs an der Oper, arbeitete unter anderem in Berlin (Staatsoper unter den Linden), beim Schauspielhaus Wuppertal, an der Zürcher Hochschule der Künste (wo sie den Bachelor Theaterpädagogik leitete), dem Jungen Ensemble Stuttgart und beim Festival Schöne Aussicht. Am Bayerischen Staatsschauspiel gründete sie an der Seite von Dieter Dorn das Junge Schauspiel, dem sie fünf Jahre vorstand.
Ein grundlegender thematischer Fokus von Cindy Jänicke ist die Vermittlung und Verschränkung künstlerischer mit theaterpädagogischer Arbeit, vor allem in Zürich. Doch irgendwann macht sie sich selbstständig, gründet eine deutsch-ugandische Plattform; KUENDAproductions hat sich auf Produktionen im Tanztheater für ein junges Publikum spezialisiert.
Ihre Erfahrungen aus der Münchener Zeit mit internationalen Koproduktionen und Projekten in Zusammenarbeit mit dem Goethe Institut, dem Auswärtigen Amt oder der UNESCO und der damit wohl auch einhergehenden Konfrontation mit „riesigen starren Kulturapparaten“, wie sie formuliert, dürften bei der Entscheidung für die Selbstständigkeit eine gewichtige Rolle gespielt haben.
Denn gleichwohl sie „die befreiende, aber manchmal zermürbende Arbeit als frei produzierende Künstlerin“ kennt, birgt für sie die Freie Kulturszene immer auch die Möglichkeit, sich aus einer gewissen Unabhängigkeit heraus an neuen künstlerischen Formen zu probieren.
„Diversität und Repräsentanz werden für mich Arbeitsprinzipien für das Theater Fletch Bizzel sein“
Entwickelt und realisiert hat sie über ihre Plattform in den letzten fünf Jahren zusammen mit internationalen Künstler*innen multidisziplinäre Projekte etwa im Stadtraum, in Leerständen oder an anderen theaterfernen Orten. Spannend sei dabei die Verschränkung der „sogenannten Hochkultur mit urbanen Kunstformen“ gewesen, sagt sie.
Und die Zusammenarbeit von professionellen Künstler*innen und Laien. Sich dabei stets auf Augenhöhe zu begegnen, das ist der entscheidende Punkt für sie. Dieses antidiskriminatorische Motiv formte sich in den letzten Jahren ihren eigenen Angaben zufolge aus dieser intensiven Arbeit mit internationalen Künstler*innen sowie über ihr eigenes Familienleben, denn ihr Mann kommt aus Simbabwe.
Es geht mithin um die Aneignung von Kultur, um Definitionsmacht, Rassismus, Teilhabe statt Ausgrenzung im Arbeitskontext. Klare Kante von Cindy Jänicke deshalb in der Sache: „Diversität und Repräsentanz werden für mich Arbeitsprinzipien für das Theater Fletch Bizzel sein.“
Corona und Kulturschaffen: Was ab wann wie wieder möglich sein wird, weiß niemand wirklich
Nach weiteren Stationen in Harare, Kampala, Tansania und zuletzt in Stuttgart tätig, wo sie Till Beckmann kennenlernte, ist sie also jetzt in Dortmund aufgeschlagen. Frisch aus der Elternzeit nach dem zweiten Kind gekommen, hat sie mit ihrer Familie eine Bleibe in Hörde gefunden. – Die Herausforderungen für sie und Kollege Beckmann sind angesichts der Restriktionen des öffentlichen Lebens wegen der Infektionsgeschehens wie bei allen freien Kunstschaffenden immens.
Da sie in der Corona-Situation nicht genau wüssten, „was ab wann wieder möglich wird, sind wir für alle im Weiteren genannten Programme in der Planung und mit den Künstler*innen im Gespräch/Austausch. Wir möchten die Projekte bis zum Sommer und im Laufe der kommenden Theatersaison umsetzen“, heißt es einleitend in einer Skizze der anvisierten Vorhaben seitens der neuen künstlerischen Leitung (unten verlinkt).
Es ist kein bitterer Unterton während des Pressegesprächs zu hören, wenn die Rede auf die Pandemie kommt. Unnötig sowieso, zu klagen: alle Anwesenden wissen eh, was Sache ist. Du hangelst Dich eben so durch, Tag für Tag, inmitten eines Gestrüpps aus Ungewissheiten, weil die Infektionsraten runter müssen.
Ambitionierte Programmplanung unter Vorbehalt: Neue Leitung des Theaters setzt Akzente
Alternativ auf Herdenimmunität über Ansteckung zu setzen, hätte deutlich sozialdarwinistische Züge: es stürben die Schwächsten, Hilflosen, Armen. Ergo muss die Isolation ausgehalten werden, bis sie herbeigeimpft werden kann, ohne dass zwischenzeitlich Intensivstationen platzen. Doch zu welchem Preis? Es sei wichtig, dass die Leute rauskommen, sagt Horst Hanke-Lindemann: die Auseinandersetzungen in der Gesellschaft nähmen zu.
Was die neue Leitung bis zum Sommer und in der kommenden Spielzeit vorhat, ist durchaus ambitioniert. Die verschriftlichte Skizze, das „Programmskelett“, ist unten verlinkt. Ohne Gewähr oder feste Termine, es sind Vorhaben. Fest steht, soweit dieser Tage überhaupt etwas sicher sein kann: Wegen Corona soll im Sommer draußen gespielt werden. Die Idee: als ein kleines, wendiges Theaterboot zu agieren, um auf Gegebenheiten reagieren und alle sich irgendwie auftuenden Möglichkeiten ergreifen zu können.
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