Dortmunder Kunstverein eröffnet 2025 mit der Schau „Hannibal“

Neue Ausstellung von Latefa Wiersch – der Puppenspielerin der afrodeutschen Diaspora

Dortmunder Kunstverein präsentiert neue Ausstellung "Hannibal" von Latefa Wiersch
Dortmunder Kunstverein präsentiert neue Ausstellung „Hannibal“ von Latefa Wiersch Sandra Danneil für NSB

In Dortmunds kollektivem Gedächtnis ist „Der Hannibal“ heute oft nicht mehr als eine brutalistische Bausünde. Für die Künstlerin Latefa Wiersch aber ist die Hochhaussiedlung im Westen Dortmunds eine Schatzkiste voller einprägsamer Kindheits-Erinnerungen. Diesen Erinnerungen widmet das Dortmunder Künstlerhaus vom 19. Januar bis 13. April seine erste Ausstellung 2025.

Hannibal – Allegorische Kulisse für etwas Großes

„Hannibal“ zeigt die Arbeiten einer Puppenspielerin der afrodeutschen Diaspora, Latefa Wiersch, erstmals im Rahmen einer Einzelausstellung in Deutschland und öffnet neue Türen in die „Wohnmaschine“ in Dortmund-Dorstfeld.

El Hedi ben Salem blickt vom Balkon des Hannibal runter in den Kunstverein.
El Hedi ben Salem, Hauptdarsteller in Fassbinders Melodrama „Angst Essen Seele Auf“ (1974), blickt vom Balkon des Hannibal in den Kunstverein. Sandra Danneil für NSB

„Manche Dinge sind zu groß und übermächtig, um von einer einzelnen Person verstanden zu werden“, erklärt Rebekka Seubert, Kuratorin des Dortmunder Kunstverein, ihre neue Ausstellung „Hannibal“, die am 19. Januar ab 18 Uhr den Vorhang lüftet.

Dabei dient das namensgebende Großbauprojekt aus den 1970er Jahren, benannt nach dem kathargischen Heerführer Hannibal, vor allem als eine allegorische Kulisse für etwas anderes ganz Großes. Nämlich der Spurensuche nach Träumen und Traumata von Menschen mit nicht-weißer deutscher Identität.

Eine fast klassische Kindheit in den Neunzigern

"Tic Tac Toe" (2024) Installation würdigt die erste schwarze deutsche Girl-Band
„Tic Tac Toe“ (2024) – Installation erinnert an die erste schwarze deutsche Girl-Band Sandra Danneil für NSB

Für die heute in Zürich lebende Künstlerin Latefa Wiersch war der Hannibal II das Zuhause einer eben nur fast klassischen Kindheit in den Neunzigern. Hier lebt sie zusammen mit ihrer Mutter, die 1976 zu den Erstbezieherinnen einer der damals begehrten und erschwinglichen „Split-Level“-Terrassenwohnungen gehörte.

Mit ihren szenischen Assemblagen spiegelt sie einen kindlichen Blick auf Statussymbole, die sie nicht hatte, und Coming-of-Age-Momenten, die sie an wichtige Meilensteine von afrodeutschen Erfolgsgeschichten und deren Schattenseiten erinnern. Aber kehren wir kurz zurück zum Hannibal II.

Le Corbusiers „Wohnmaschine“ ist moderne Utopie

Bei der Errichtung der Hannibal II-Siedlung im südlichen Dorstfeld herrschte ein enthusiastischer Wind. Es waren die 1970er Jahre. Utopien hatte Konjunktur, vor allem in der Architektur.

Die Künstlerin Latefa Wiersch vor dem Hannibal II in Dortmund-Dorstfeld.
Die Künstlerin Latefa Wiersch vor dem Hannibal II in Dortmund-Dorstfeld. Latefa Wiersch

Das „Wohngebirge auf der grünen Wiese“ war inspiriert von der revolutionären Idee einer der einflussreichsten Architekten des 20. Jahrhunderts. Nach dem Vorbild Le Corbusiers entstand der moderne Typ „Wohnmaschine“.

Das neue Wohnmodell sollte unabhängig von seinen lokalen Gegebenheiten bleiben. Dafür sollte eine ganz eigene Infrastruktur Sorge tragen – zumindest auf den Blaupausen.

Auf Grundlage von Corbusiers 1947 in Marseille umgesetzter „Unité d’Habitation“ (zu deutsch „Wohneinheit“) war der moderne Wohnhaustyp damit gleichzeitig eine Erziehungsmaßnahme einer anderen Zeit.

Vom Auf- und Abstieg des Hannibal II

Hannibal II in Dortmund-Dorstfeld war ein sozialer Mikrokosmos von 27.955 Quadratmetern Wohnfläche in 412 Wohneinheiten auf 11 bis 17 Stockwerken. In zunächst friedlicher Koexistenz trafen hier verschiedene Lebensrealitäten aller Klassen, Herkünfte und Bildungsstände aufeinander: Familien, Kinder und, durch die fantastische Anbindung an die Universität Dortmund, auch viele Studierende.

Der Hannibal in Dorstfeld mit seinen rund 420 Wohnungen wurde im August 2017 geräumt und steht seit dem leer.
Der Hannibal in Dorstfeld wurde im August 2017 geräumt und steht seit dem leer. Foto: Alexander Völkel für Nordstadtblogger.de

Was von dem Gemeinschaftsethos übrig blieb, waren zuletzt die 753 Menschen, die bei der Zwangsräumung des Hannibal II 2017 buchstäblich von jetzt auf gleich obdachlos wurden. Es geschah wie schon Autor J.G. Ballard 1975 in seinem Roman „High-Rise“ beschrieb: „This was an environment built, not for man, but for man’s absence.“ („Dies war eine Umgebung, die nicht für den Menschen, sondern für seine Abwesenheit gebaut wurde.“)

Eine seit 2009 begutachtete, unüberbrückbare Brandschutzproblematik machte das Wohnhaus zur Todesfalle. Hinzu kam ein intransparentes Firmengeflecht und Eigentümer, die sich schon lange nicht mehr kümmerten. Seither steht es leer, soll aber bis 2025 von seinem neuen Eigentümer vollständig saniert werden.

Die klaffende Wunde der Sozialutopie

Als Latefa Wiersch 1982 geboren wird, zeigt das einstige „Schöner-Wohnen“-Vorzeigeprojekt erste frische Risse, die sein Schicksal bis in die Jetztzeit besiegeln würden. Einkaufsläden, Jugendtreffs, Schwimmbad und andere Infrastruktur wurden nie umgesetzt.

Obwohl der damalige Bauherr, das Gemeinnützige Wohnungsbauunternehmen Dogewo, Fördergelder in Millionenhöhe kassierte, wurden die zunehmenden Mängel großzügig ignoriert. Dunkle Ecken, hohe Betriebskosten und Anonymität vertrieben die, die es sich leisten konnten und ließ die anderen zurück, die keine Wahl hatten. Missmanagement und Selbstbereicherung hinterließen schließlich eine große klaffende Wunde in der Sozialutopie.

Das „Comeback“ mit Vorbildern und Selbstportrait

Diese Wunde füllt Latefa Wiersch mit ihren Puppen, die sich an der Schwelle zwischen leblosem ,Es‘ und lebendigem ,Ich‘ bewegen. Die preisgekrönte Künstlerin schafft szenische Arrangements verschiedener postmigrantischer Identitäten. Ihre aus unterschiedlich codierten Werkstoffen (u.a. Haar, Kleidung und Schmuck,Textil und Füllstoff) collagierten Puppen erscheinen wie „unheimliche Doppelgänger“, die einen Sigmund Freud das Fürchten lehren würden.

Latefa Wiersch mit ihrem achtjährigen Ich.
Latefa Wiersch mit ihrer achtjährigen Doppelgängerin im Heldenkostüm. Sandra Danneil | Nordstadtblogger

Im Außen und Innen des lebensgroßen Weißmodells, errichtet nach den Originalplänen des Hannibal II, begegnen den Besucher:innen der Ausstellung seltsame Wesen in Momentaufnahmen.

Ob hängend am Klettergerüst, herabschauend vom Balkon oder im kindlichen Selbstportrait im Heldenkostüm – an ihnen finden sich vertraute Attribute aus der 90er-Popkultur, die zu einer Nachbetrachtung und Neubetrachtung von wichtigen Markierungen von afrodeutschen Erfahrungen einladen.

Mehr Informationen:

Infos zum laufenden Programm und besonderen Events finden sich auf der Seite des  Dortmunder Kunstvereins.


Anm.d.Red.: Haben Sie bis zum Ende gelesen? Nur zur Info: Die Nordstadtblogger arbeiten ehrenamtlich. Wir machen das gern, aber wir freuen uns auch über Unterstützung!

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