Von Thomas Engel
Vor 70 Jahren wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet. Das bedeutet nicht, dass Flüchtlinge heutzutage ein Novum darstellen, weil sich bisher alle an die damalige UN-Resolution gehalten hätten. Eigentlich ist seitdem gar nichts besser geworden. Diesen Eindruck zumindest vermittelt amnesty international (AI) mit der nun eröffneten Fotoausstellung „Menschen auf der Flucht“ im Dietrich-Keuning-Haus.
Die Willkommenskultur der Nordstadt – wo sonst eine Ausstellung über Flüchtlinge?
Vermutlich gibt es in Dortmund keinen geeigneteren – und würdigeren – Ort für eine Ausstellung zum Thema „Flüchtlinge“ als das Dietrich-Keuning-Haus (DKH). Denn hier im Dortmunder Norden wurde im Jahre 2015 – als die erste Welle Gestrandeter über die sog. Balkanroute anrollte – von der ersten Stunde an selbstlos geholfen.
Mit vielen Freiwilligen konnte tatsächlich das geschafft werden, was ein Teil der politischen Eliten der Bundesrepublik vom Schreibtisch aus gleichsam als Wahlspruch für eine gewisse Zeit ausgegeben hatte. Bis die kalten Füße kamen. Während die praktische Solidarität mit den Kriegsflüchtlingen an Ort und Stelle weiterlief.
Warum amnesty in Zusammenarbeit mit dem DKH nun eine Fotoausstellung mit dem Titel „Menschen auf der Flucht“ organisiert hat, ist deshalb nicht weiter erklärungsbedürftig. Dennoch freut sich Kay Bandermann, erfahrener Journalist beim WDR, Vorsitzender des Presseverein Ruhr und engagiertes amnesty-Mitglied, in seiner Eröffnungsrede, dass das Flüchtlingsthema auch eins der Stadt Dortmund ist. Denn es handelt sich immerhin um eine städtische Einrichtung.
Das AI-Paradigma bei der Einklage von Menschenrechten: Unparteilichkeit
Etwas schwieriger wird es schon bei der Frage, weshalb sich amnesty durch die Wahl des DKH als Ausstellungsort so nah an die Flüchtlingsproblematik in Deutschland herantraut. Denn die Mitglieder und Gruppen der international agierenden Menschenrechtsorganisation sollen prinzipiell keine Themen aus dem jeweils eigenen Land bearbeiten.
Diese selbstauferlegte Beschränkung hat ihren Grund in dem Anspruch, beim Einsatz für Menschenrechte möglichst unabhängig zu bleiben und sich nicht politisch vereinnahmen zu lassen. Denn: Politische Neutralität und Objektivität – gewissermaßen vor der eigenen Haustür – zu wahren, ist ein heikles Unterfangen.
Aber es gibt einige Ausnahmen, erklärt Kay Bandermann. (Denn die Klage auf Einhaltung der Menschenrechte ist selbstverständlich ein hochpolitisches Unterfangen. Sonst bräuchte nicht geklagt werden.) Deshalb, so Bandermann, sei das Engagement von AktivistInnen aus und in der Bundesrepublik für die Flüchtlinge hierzulande ein nachvollziehbares Anliegen. Um etwa zu verhindern, dass sie unter Umständen in ein Herkunftsland abgeschoben werden, in dem ihnen wegen gewaltlosen, politischen Protestes Haft, Folter und Tod drohen.
Selbst amnesty kann die Augen vor der eigenen Tür nicht verschließen
Damit allerdings ist amnesty inmitten dieses Landes angekommen: Es genügt der zarte Hinweis auf die Ergebnisse der Sondierungsverhandlungen zwischen SPD und Union bezüglich Flüchtlingsquoten und Abschiebungen.
Und, da die darin de facto festgeschriebenen Menschenrechtsverletzungen nichts Neues in der bundesrepublikanischen Praxis mit den kalten Füßen nach dem „Wir-schaffen-das“ sind, bearbeiten die deutschen amnesty-Gruppen das Thema Asyl auch hierzulande. In Dortmund beispielsweise beraten die AktivistInnen Flüchtlinge und helfen ihnen gegebenenfalls, sich gegen drohende Abschiebungen zu wehren.
Weshalb sich der Kreis zum DKH ein wenig schließt: Helfen, wo Menschen in Not und Menschenrechte in Gefahr sind. – Ob im Keuning-Haus in Dortmund mit Decken, Spielzeug für die Kinder und einer warmen Mahlzeit, oder als sachkundiger Ratgeber von amnesty bei Verwaltungsgerichten für umstrittene Asylentscheidungen.
Die Alltäglichkeit des Leids in bewegenden Bildern der Photoagentur Magnum
Die Ausstellungsphotos – von der international renommierten Photoagentur Magnum – vermitteln Bilder aus aller Welt: beeindruckend und bedrückend; fesselnd, als stünden die BetrachterInnen dort, wo sie hinschauen. Aufgenommen in jüngster/jüngerer Zeit: in Syrien, dem Irak und in Libyen. Und da sind ältere Aufnahmen aus Vietnam, Hongkong, Russland, schließlich aus der Türkei, Griechenland, Österreich, Frankreich. Und natürlich aus Deutschland.
Der Schauder beim Betrachten stellt sich nicht ein beim Anblick von Blutlachen – die es auf den Bildern übrigens gar nicht zu sehen gibt. Sondern: Es ist die Banalität des Bösen und die Alltäglichkeit des Leids auf der Flucht und im Krieg – die normalen Geschichten von normalen Menschen wie Du und ich, die sich durch die Photos wie von selbst erzählen. – Und: dass es global ist und vor allem (vermutlich) schon immer so war. Oder zumindest so ähnlich.
Es genügt die Gewalt von 30 Aufnahmen über 70 Jahre, um dies zu zeigen. Flucht, Krieg, Vertreibung, Elend und Verfolgung, leere Augen ohne Kraft auf Hoffnung. Beginnend mit einem Bild von 1948 aus dem griechischen Bürgerkrieg und schließend mit einem Bild aus dem heutigen Griechenland: mit Flüchtlingen aus dem Nahen oder Mittleren Osten auf irgendeiner Ägäis-Insel, wo über viele Jahrzehnte sonst nur TouristInnen strandeten.
Ausstellungsrahmen: Jahrestag der Deklaration von unveräußerlichen Menschenrechten
Dass die bebilderte Geschichte der Unmenschlichkeit an den AusstellungsbesucherInnen lediglich über 70 Jahre vorüberläuft, ist natürlich kein Zufall: 2018 jährt sich die Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen zum siebzigsten Mal (der Text im Wortlaut: hier).
In der Resolution der UN-Generalversammlung von 1948 wird allen Menschen das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung (Art. 19) sowie der Schutz vor Verfolgung durch das Recht auf Asyl in anderen Ländern zugesichert (Art. 14).
Zu sehen sind auf den Ausstellungsphotos allerdings weniger protestierende Bürgerrechtler, abgeführt von martialischen Einsatzkräften (also nicht die „Stammkundschaft“ von AI), sondern das, was Menschen tagaus, tagein erdulden mussten; woran sie litten, weshalb sie flohen.
Sie zeigen, dass sich in 70 Jahren vielleicht gar nichts verändert hat. Und, dass es immer schon menschlich nachvollziehbare Gründe gab, zu fliehen, weil es so einfach nicht mehr ging. Das „So“ steht auf den Photos, die an den Wänden des DKH mehr sagen können als Worte. Ein abschließendes Urteil können sich nur BesucherInnen bilden.
Spontane Solidarität von vielen DortmunderInnen mit den ankommenden Kriegsflüchtlingen
Was die zumeist in schwarz-weiß gehaltenen Magnum-Photos der amnesty-Ausstellung und das DKH-Paradigma zusammenschließt, hat Levent Arslan in einem bewegenden Rückblick und Bildvortrag vorbereitet. Erneut erhellt sich: Wozu die gezeigten Darstellungen im DKH auffordern, ist jene praktische Solidarität in und um den Dortmunder Hauptbahnhof Anfang September 2015.
Seinerzeit – als Dortmund zur Drehscheibe der Flüchtlingsaufnahme wurde – erreichte eine erste große Welle von Kriegsflüchtlingen praktisch vorwarnungslos die Stadt. Es war die Nacht vom 5. auf den 6. September. Innerhalb nur weniger Stunden war plötzlich klar, dass SIE ankommen werden – jene, die zuvor noch auf den Fernsehbildern zu sehen waren. An überquellenden Bahnhöfen, verzweifelt, in einen Zug zu gelangen, oder zusammengeprügelt an den Zäunen der ungarischen Grenze.
Innerhalb kürzester Zeit wären aus Solidarität geschätzt an die tausend Dortmunder auf den Beinen gewesen; am Hauptbahnhof bildeten sich zweireihige Schlangen von Menschenketten (hier), um die sich auftürmenden Hilfsgüter Richtung DKH und anderer Erstaufnahmezentren wegzuschaffen, berichtet der damalige stellvertretende und heutige kommissarische Leiter des Begegnungs- und Kulturzentrums.
Eilig organisierte Hilfen mit vielen (ehrenamtlichen) AktivistInnen im DKH
In der großen Halle des DKH seien die ankommenden Flüchtlinge an Tischen mit dem Nötigsten versorgt worden: Nahrung, Kleidung, medizinische Hilfe. Schnell wäre eine Handy-Ladestation errichtet gewesen. In Eile wurde ein arabischer Übersetzer besorgt, weil sonst niemand vor Ort entsprechende Sprachkenntnisse hatte: Aladin Mafalaani, aufgewachsen in Waltrop, syrische Eltern, heute Moderator des DKH-Talk und im Nebenberuf Professor an der Uni-Bochum, nimmt die ersten Ankommenden in Empfang.
Für insgesamt 8.000 Flüchtlinge wurde damals die größte Begegnungsstätte Dortmunds zur Versorgungsstation – mit Hilfe der vielen Freiwilligen und in Kooperation mit verschiedenen Wohlfahrtsverbänden, der Feuerwehr und Polizei, Katastrophenschutz und Technischem Hilfswerk.
Die Betreuung, Versorgung und Unterstützung von Flüchtlingen in der damaligen Drehscheibensituation habe der Einrichtung viel Renommee eingebracht; ja eine weite Aufmerksamkeit erzeugt, auch in Europa – erkennt Stadtdirektor Jörg Stüdemann in seiner kurzen Begrüßung zur Eröffnung der AI-Ausstellung die Verdienste des DKH schnörkellos an.
Der Einsatz von HelferInnen für Flüchtlinge und politisch Verfolgte war und ist nicht umsonst
Die aberwitzige Situation von Flüchtlingen und was alles mit einer Flucht verbunden sei, könne vielleicht nur vergleichbar mit den Belastungen bei schwerster Krankheit und normalerweise kaum vorstellbar sein, rätselt der Dortmunder Kulturdezernent mit Bescheidenheit. Und schlägt schließlich die Brücke zum Anlass: „Die Ausstellung wird hoffentlich Verständnis dafür einwerben, dass Menschen geholfen werden muss.“
Der Saat folgt (in der Regel) die Ernte – In der Dortmunder Flüchtlingshilfe kommt es nach dem denkwürdigen September 2015 zu einer Art Graswurzelentwicklung. Aus einer Party für und mit den vielen HelferInnen entstand zum Beispiel der Verein „Train of Hope“, dessen Name an das Motto anknüpft, unter dem die Hilfe im DKH gestanden hatte. Zahlreiche Flüchtlingsprogramme zur Integration wurden initiiert. Heute gibt es im DKH ein etabliertes, niederschwelliges Angebot für MigrantInnen, um deren Integration in die Stadtgesellschaft zu unterstützen.
Und, zweitens: An diesem Abend wird jene Ernte des Engagements vieler unbekannter Menschen am Mikrophon leibhaftig sichtbar: C. Ibrahim, ein Kurde, der in Syrien wegen seines friedlichen Protestes in einem der berüchtigtsten Gefängnisse für politische Häftlinge landete, konnte von amnesty nach zähem Ringen losgeeist werden und lebt seit drei Jahren mit seiner Familie in Dortmund.
Egal, was er sagte: Es darf bezweifelt werden, dass nur eine der Personen, die – auch in Dortmund – gegen alles Fremde wettern, weil sie Angst haben vor allem, was anders ist als ihre eigene Sülze, nach so kurzer Zeit, kurdisch oder arabisch in einer völlig neuen Kultur auf dem Niveau sprechen könnte wie dieser Migrant sich mittlerweile auf Deutsch verständlich machen kann.
Weitere Informationen:
- Die AI-Ausstellung im DKH geht über vier Wochen. Ab Mitte Februar wird sie in Hagen, dann in Schwerte zu sehen sein.