
In Serbien blockieren seit Monaten Menschen die Straßen. Studierende, Lehrer:innen und andere protestieren gegen die autoritäre Regierung. Sie fordern, dass die Machtinhaber:innen ihre Vorgehensweise umfassend ändern. Der Ministerpräsident verkündete vor Kurzem seinen Amtsrücktritt. Bei einer Parlamentssitzung zündetete die Opposition Rauchbomben aus Protest gegen die regierende Partei. Auslöser war eine Katastrophe in Dortmunds Partnerstadt Novi Sad.
Bahnhofsvordach in Novi Sad begrub serbische Bürger:innen unter sich
Als am 1. November 2024 das neu sanierte Bahnhofsvordach in Novi Sad einstürzte und zum Tod von 15 Personen führte, startete eine Reihe von Demonstrationen im ganzen Land. Studierende organisierten Proteste, bei denen sie ganze Straßen und Universitäten lahm legten.
Immer wieder hielten sie auch eine 15-minütige Schweigeminute ab, um an die Toten in Novi Sad zu gedenken. Schnell schlossen sich den Student:innen zahlreiche Mitbürger:innen an. Die Menschen fordern unter anderem, dass Verantwortliche für den Einsturz des Daches und somit für den Tod der Menschen zur Rechenschaft gezogen werden.
Die Menschen demonstrieren gegen die aus ihrer Sicht korrupte Regierung. Und über das politisch ausgeladene Bauvorhaben sei zu wenig bekannt. Die Firmen China Railway International Co. und China Communications Construction Company Ltd waren für den Umbau mitverantwortlich.
Massenproteste gegen Korruption der serbischen Machtinhaber:innen
Um das Projekt „Neue Seidenstraße“ umzusetzen, will die chinesische Regierung die Transport- und Handelsrouten in Europa ausbauen. Laut serbischen Regierungsvertretern hätten die chinesischen Firmen die Geheimhaltung der Veträge gefordert.

Die Menschen demonstrieren gegen ihre Regierung – sie werfen ihr unter anderem Korruption und Vertuschung vor. Sie fordern eine Offenlegung der Verträge und eine transparente Untersuchung über das Unglück in Novi Sad.
Direkt involviert in den Umbau war auch der damalige Bürgermeister und spätere Ministerpräsident Miloš Vučević. Ihm und seiner Partei, der Serbischen Fortschrittspartei (SNS), werfen Studierende mangelhafte Sicherheitsvorkehrungen und Vetternwirtschaft vor.
Denn Projektleiter des großen Bauvorhabens seien wegen ihrer politischen Verbindungen und nicht wegen ihrer Fachkenntnisse ausgewählt worden. „Korruption tötet“ ist daher eines der Slogans der Protestierenden.
Aus Protest blockieren Student:innen Fakultäten der Universitäten
Die Bürger:innen machten deutlich, dass sie friedliche Proteste durchführen. Zum Beispiel spielten sie Basketball auf den blockierten Straßen, doch die Polizei griff mehrfach gewalttätig ein. Auch Organisierte Gruppen der Regierungspartei SNS, Polizeikräfte und nicht identifizierte Einzelpersonen attackierten die Studierenden.

Am 22. November 2024 versammelten sich an der Fakultät für Darstellende Kunst der Universität Belgrad Studierende und Lehrkräfte und gedachten der Opfer von Novi Sad, als mutmaßliche Mitglieder der SNS sie angriffen. Das hatte weitreichende Folgen.
Drei Tage später besetzten die Student:innen die ganze Fakultät, unter anderem um gegen die gewaltsamen Maßnahmen der Regierung zu protestieren. Mit dieser Aktion folgten ihnen auch andere Student:innen und bald waren die meisten Fakultäten im Land besetzt. Sie fordern eine Erhöhung der staatlichen Mittel für Universitäten um 20 Prozent.
Bis Ende Dezember 2024 schlossen sich 74 Prozent der Fakultäten in Serbien den Protesten an. Vor allem Studierende demonstrieren auch auf der Straße, doch immer mehr Lehrer:innen, Beamte und andere Arbeitnehmer:innen unterstützen sie.
Landesweit unterstützen Menschen die Studierenden-Proteste
Menschenmassen blockierten in den letzten Wochen große Kreuzungen in den Städten Belgrad, Novi Sad und Kragujevac. Um zum Treffpunkt zu gelangen, liefen die Student:innen Hunderte von Kilometern von Belgrad nach Novi Sad und Kragujevac. Auf dem Weg jubelten ihnen Menschen zu und stellten ihnen Essen und Übernachtungsmöglichkeiten zur Verfügung.
Im Anschluss an die Demonstration in Novi Sad brachten Taxifahrer:innen die Student:innen kostenlos zurück nach nach Hause. Auch Motorradfahrer:innen halfen den Studierenden bei den Protesten, in dem sie Demonstrierenden vor Angriffen schützten.
Mittlerweile zählt auch die Freilassung der festgenommenen Demonstrant:innen zu den Forderungen. Die Toten beim Bahnhofsvorfall und Angriffe bei den Protesten schreiben die Student:innen der Regierung zu. „Ruke su vam krvave“ (deutsch: „Eure Hände sind blutig“), steht auf den Plakaten.
Beim Generalstreik machten hunderttausende Menschen mit
Am 24. Januar 205 blieben viele Universitäten und Schulen geschlossen. Student:innen, Lehrer:innen, Jurist:innen und Beschäftigte des Kultur-und Gesundheitswesens verweigerten die Arbeit. Angestellte in Theatern, Buchhandlungen, Cafés und Restaurants gingen auf die Straßen. Auch einige Arbeitgeber:innen nahmen an dem Generalstreik teil und Mitarbeitende des RTS unterstützen die Proteste. Der RTS, ein öffentlicher Fernsehsender, zeigt in seinem Programm in der Zeit der Proteste aber propagandistische Beiträge.

In mehr als 150 Städten gehen seit November täglich Tausende auf die Straßen. Der serbische Journalist Dinko Gruhonjić, der im vergangenen Dezember den Menschenrechtspreis der Stadt Weimar erhielt, zeigte sich bei seiner Dankesrede dort beeindruckt von den anhaltenden Protesten.
„Besonders auffällig und ermutigend ist die Tatsache, dass bei den größten Demonstrationen in der Geschichte Novi Sads mit Zehntausenden Teilnehmern die überwiegende Mehrheit junge Menschen waren“, betonte Gruhonjić.
„Die Absetzung des kriminellen Regimes ist eine grundlegende Voraussetzung, nicht nur um den Zusammenbruch der serbischen Gesellschaft aufzuhalten, sondern auch um Frieden und Stabilität in der Region des Westbalkans zu erreichen, deren größter Destabilisator das Regime von Aleksandar Vučić ist“, so Gruhonjić.
Studierende fordern eine Regierung, die dem Volk dient
Einen Forderungskatalog verkündeten die Student:innen am 1. März 2025 in Niš. Sie fordern vor allem eine Regierung, die dem Volke dient. Die Themen Freiheit, Staat, Gerechtigkeit, junge Leute, Würde, Wissen, Solidarität und Zukunft prägten die Kundgebung. „Neće se služiti narodom, već će ona služiti narodu“, heißt es dort. Sinngemäß übersetzt bedeutet es, dass nicht das Volk der Regierung dienen soll, sondern die Regierung dem Volk.
Zahlreiche Menschen in Serbien fordern Freiheit, Gleichberechtigung und einen würdevollen Umgang mit der Bevölkerung. Der Staat müsse sich für das Gemeinwohl der Bürger:innen einsetzen. Sie duldeten keine Politiker:innen mehr, die ausschließlich für ihre eigenen Interessen agierten.
Zudem verlangen die Protestierenden unter anderem eine unabhängige Justiz und freie Medien und Institutionen, die im Sinne der Gesetze handeln sollen. Außerdem sind Investitionen in Wissenschaft, Forschung, Bildung und Kultur den Student:innen wichtig. Sie fordern, „einen Staat aufzubauen, der allen gehört“.
Rücktritt des Ministerpräsidenten verschiebt sich
Die Proteste zeigten Wirkung: Ministerpräsident Miloš Vučević verkündete am 28. Januar seinen Rücktritt. Er wolle „weitere Komplikationen vermeiden und die Spannungen in der Gesellschaft nicht weiter verstärken“, sagte er. Seine Amtszeit dauerte weniger als ein Jahr.

Bei der Parlamentssitzung am 4. März 2025 planten die Abgeordneten den Rücktritt zu bestätigen. Im Programm stand auch die Erhöhung der finanziellen Mittel für Universitäten. Die Sitzung wurde jedoch unterbrochen, als Parlamentsmitglieder Tränengas und Rauchbomben zündeten. Laut der Parlamentspräsidentin Ana Brnabic seien mindestens drei Abgeordnete verletzt worden.
Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) kritisiert den Rücktritt des serbischen Premierministers Miloš Vučević als durchschaubares Manöver von Präsident Aleksandar Vučić, um trotz anhaltender Proteste seine Macht zu sichern: Nach dem erfolgten Rücktritt müssten Neuwahlen stattfinden. Die GfbV erwartet dort massive Manipulationsversuche seitens der Regierung.
Die Gesellschaft weist bereits seit Jahren gemeinsam mit serbischen Menschenrechtsorganisationen auf die systematische Verfolgung von Regimekritikern und die nationalistische Radikalisierung hin. Damit verfolgt Vučić das Ziel einer großserbischen Expansion und schürt neue Konflikte auf dem Westbalkan. „Dennoch bleibt die Kritik aus der EU bisher zögerlich. Statt klare Forderungen an Vučić zu stellen, wird er als stabiler Partner hofiert, insbesondere bei wirtschaftlichen Projekten wie dem umstrittenen Lithium-Abbau“, kritisiert Jasna Causevic, GfbV-Referentin für Genozid-Prävention und Schutzverantwortung.
Am heutigen Samstag kommt es zu erneut zu landesweiten Protesten
Im Westen ist vergleichsweise wenig von den Protesten zu hören oder zu sehen. Weder die Europäische Union, noch die Vereinigten Staaten unterstützen die Proteste. Seit 2012 ist Serbien EU-Mitgliedschaftskandidat.

Die Gesellschaft für bedrohte Völker forderte Bundeskanzler Olaf Scholz und die anderen EU-Staats- und Regierungschefs bereits im Dezember dazu auf, beim EU-Westbalkan-Gipfel in Brüssel ein Zeichen zu setzen und nicht mit dem serbischen Autokraten Aleksandar Vučić zu verhandeln.
„Serbien bekennt sich nicht zu Werten wie der Achtung der Rechtsstaatlichkeit, der freien Meinungsäußerung, der Pressefreiheit, der Menschenrechte und dem Schutz von Minderheiten“, sagt Jasna Causevic, Referentin für Genozid-Prävention und Schutzverantwortung bei der GfbV.
„Vučic nutzt Einschüchterungstaktiken, um Journalisten, Menschenrechtsverteidiger und Demonstranten zum Schweigen zu bringen. Er leugnet den Genozid von Srebrenica und verhindert die Aufarbeitung der Vergangenheit“, unterstreicht Causevic.
Am heutigen Samstag kommt es landesweit erneut zu großen Protestaktionen – auch in Dortmunds Partnerstadt Novi Sad.
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Reaktionen
Gisbert
Guter Artikel, weit ausführlicher als alles andere was ich heute in den Medien zu den Protestaktionen in Serbien finden könnte. Vielen Dank!