Noch bis zum 30. Juli läuft die Ausstellung mit dem etwas sperrigen Titel „We grow, grow and grow. We’re gonna be alright and this is our show.“ im Hartware MedienKunstVerein im Dortmunder U. Fast 13.000 Besucher:innen haben sie bereits gesehen und auch in den überregionalen Medien gab es viel Aufmerksamkeit – zuletzt in der ZDF Kultursendung „aspekte“. Was und wer steckt dahinter?
Mal nicht die Perspektive des Menschen einnehmen
Jana Kerima Stolzer und Lex Rütten arbeiten seit 2016 zusammen. Es ist ihre erste institutionelle Einzelausstellung und die große Resonanz freut sie natürlich. Die beiden sind auch privat ein Paar und kommen gerade von einem Kurzurlaub in den Bergen zurück ins Künstlerhaus Dortmund. Hier arbeiten und wohnen sie seit 2020.
Jana hat die ZDF-Sendung noch gar nicht gesehen. Und auch heute gab es zunächst wichtigere Dinge als die Kunst – ein Katzenbaby, gefunden am Dortmunder Hafen, musste versorgt werden. Drei Stunden waren die beiden beim Tierarzt. Eine rein menschenzentrierte Sichtweise ist offenbar auch im privaten Leben nicht ihr Ding – genau wie in ihrer Ausstellung.
Besucher:innen tauchen dort ein, in eine ganz eigene, bunte Welt und begegnen sieben ganz besonderen Charakteren. Sie heißen Micro, Xtract, Pionea, Azolla, Symbiotechnica, Extinct oder auch Hydra und es sind Bakterien, Pflanzen, Mikroorganismen – Symbiosen aus Natur und Technik.
Jedes Wesen hat seine Geschichte und erzählt von seinem Leben, seinen Wünschen und Sehnsüchten. Oder besser: es singt darüber. Von Station zu Station entsteht ein seltsames Musical, entwickelt die Ausstellung ihren eigenen Soundtrack. Kein Wunder – als „Alice und Bob“ sind die Künstler:innen auch als DJs unterwegs.
Hinter den smarten Oberflächen lauert der Tiefgang
Die Videos und VR-Arbeiten bestehen aus einer Mischung aus 3D-Scans und realen Aufnahmen. High-Tech und smarte Oberflächen hinter denen der Tiefgang lauert, denn mit der bunten Show verbindet sich ein ernstes Anliegen.
Es geht – nicht mehr und nicht weniger – um das Verhältnis von Mensch und Natur.
Was war vor unser Zeit? Welchen Organismen verdanken wir unsere Bodenschätze? Welche Arten haben wir bereits zerstört und könnte uns das alte Wissen der Algen vielleicht in Zukunft helfen? Der Perspektivwechsel funktioniert und wer sich erst einmal mit „Micro“ in die Welt der Bakterien hineinversetzt hat, sieht sein Handydisplay mit anderen Augen.
Viel Gesprächsstoff für ganz unterschiedliche Disziplinen
Die multimediale künstlerische Inszenierung weckt Emotionen, vermittelt Wissen und macht einfach Spaß – sicher ist es das, was so gut ankommt: „In der Ausstellung, bei Führungen und im Rahmenprogramm haben wir viel Austausch zwischen den Disziplinen erlebt“, berichtet Ann-Katrin Drews, Pressesprecherin des HMKV.
„Wirtschaft, Politik, Biologie, Informatik – es gab viel Gesprächsbedarf über die Themen und Inhalte, aber auch die Machart und Inszenierung der sieben Charaktere hat viele Menschen zum Diskutieren und Nachdenken angeregt.“
Auch den Deusenberg kann man mit anderen Augen sehen!
Tatsächlich lenkt die Ausstellung den Blick. Wer wie die Künstlerin gerne durch Fredenbaumpark joggt oder auf dem Deusenberg unterwegs ist, findet die Themen der Ausstellung auch in der Nordstadt.
Vor dem Deusenberg war Acker, dann kam die Industrie und damit verbunden der Müll, nun grünt es wieder. 150.000 Bäume wurden 1997 gepflanzt – Robinien, die die Aufgabe hatten, den Boden zu verfestigen und anderen Pflanzen den Weg zu bereiten.
Doch nicht jede Pflanze, die dann kam war auch erwünscht. Aber was heißt überhaupt „heimisch“? Auch die Robinie stammt aus Nordamerika und wird erst seit 400 Jahren in Europa gepflanzt. Und während sie 2020 in Deutschland „Baum des Jahres“ war, wird sie in der Schweiz auf der „Schwarzen Liste der invasiven Neophyten“ geführt und gilt als Gefahr. Auch das eine Frage der Perspektive.
„Es geht in der Natur um eine ganz andere Zeitlichkeit.“
Es sind diese Fragen und Perspektivwechsel, die Jana und Lex bei ihrer künstlerischen Forschung interessieren und wenn sie auch eine klare Haltung haben, geht es hier nicht um Moral.
„Das Spannende ist die andere Zeitlichkeit, in der Natur funktioniert“, so Jana. Es geht den beiden nicht um die Vermenschlichung von Pflanzen, sondern um ein Bewusstsein für ganz andere Gesetzmäßigkeiten – und das kann tröstlich sein oder auch traurig: „denn die Natur wird es weiterhin geben, auch wenn wir Menschen nicht mehr sind.“
Ihre Kunst soll dafür die Augen öffnen und wenn dann jemand ins Gästebuch schreibt: „Pflanzt besser Bäume“, greift das zu kurz.
Kunst im Kreislauf: Taschen und Shirts von Amen Juvlja Mundial
Trotzdem ist den beiden Nachhaltigkeit im eigenen Leben und in der künstlerischen Produktion ein wichtiges Anliegen. „Es geht alles zurück in den Kreislauf“, so Lex. Für das Gewächshaus gibt es bereits Anfragen und auch das übrige Ausstellungsmobiliar wird weiter genutzt oder umgestaltet.
Alle Stoffe und die Banner wurden außerdem in Kooperation mit dem Nähprojekt „Amen Juvlja Mundial“ verarbeitet. Die erste Edition der Taschen und T-Shirts ist bereits ausverkauft – zum Ende der Ausstellung ist mit den Resten eine zweite Auflage geplant. Da trifft es sich gut, dass Amen Juvlja Mundial nun ein Geschäft auf der Nordstraße haben.
Und leben sie eigentlich gern in der Nordstadt?
Sind die beiden nun berühmt? Jana lacht: „Der BODO-Verkäufer am Rewe hat uns erkannt.“ Die beiden waren mit der Ausstellung Titel-Held:innen der März-Ausgabe.
Und leben sie eigentlich gern in der Nordstadt? „Der Müll nervt“, findet Jana und die Bäume vor dem Künstlerhaus wurden markiert und sollen wohl bald gefällt werden, das ist super traurig. „Aber am Ende würden wir in Dortmund nicht woanders leben wollen.“
Und „auch wenn durch die Sanierung am Hafen bereits viele schöne Orte verschwunden sind“, bleiben die beiden optimistisch: „Es kommt immer etwas Neues“, sagt Lex. Es ist wohl auch hier alles eine Frage der Zeit.
Weitere Informationen:
- Die Ausstellung „We grow, grow and grow. We’re gonna be alright and this is our show“ läuft noch bis zum 30. Juli, der Eintritt ist frei.
- Ort: HMKV Hartware MedienKunstVerein, im Dortmunder U, Ebene 3
- Letzte Künstler:innen- & Kuratorin-Führung: Samstag, 29. Juli 18 Uhr danach große Finissage und Sparda-Nacht bis 22 Uhr mit Kunst, DJs, Drinks und mehr
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Über 17.000 Besucher*innen: Die Ausstellung „We grow, grow, grow, we’re gonna be alright and this our show“ ist eine der erfolgreichsten in der Geschichte des HMKV (PM)
Eine der erfolgreichsten Ausstellungen in der Geschichte des HMKV und zugleich die erste große institutionelle Ausstellung des Dortmunder Künstler*innenduos Jana Kerima Stolzer und Lex Rütten schloss am vorletzten Sonntag die Türen. Über 17.000 Besucher*innen besuchten die Schau, die einen Perspektivwechsel wagte und die Welt aus der Sicht nicht-menschlicher Organismen betrachtete. Sie erzählten in sechs großen Video-Installationen und einer Soundarbeit von Bergbau und Hexenverfolgung im Ruhrgebiet, Super- und Pionierpflanzen, ausgestorbenen Arten und von Unsterblichkeit. Begleitet wurde die Ausstellung von einem breiten Rahmenprogramm mit kreativen Workshops, Filmvorführungen und Outdoor-Touren, die die Bedeutung von Symbiosen zwischen Umwelt, Mensch und Technik weiter beleuchteten.
Das Duo Jana Kerima Stolzer und Lex Rütten zeigt sich überwältigt von der Resonanz: „Vor zwei Jahren hätten wir niemals gedacht, jetzt ein Schlussstatement für eine Ausstellung zu schreiben, die über 17.000 Menschen erreicht hat. Wir sind ganz gerührt, dass unsere sieben Charaktere ihre Geschichte des Ruhrgebiets, der Umwelt, des Menschen so weit in die Welt tragen konnten.“ HMKV-Direktorin und Kuratorin Inke Arns freut sich, dass die künstlerische Neu-Erzählung des Ruhrgebiets ankam: „Man hat das Ruhrgebiet auf einmal nicht mehr aus menschlicher Perspektive gesehen – also mit der typischen Erzählung über den Kohleabbau und die Industrialisierung – sondern aus der Perspektive von Organismen, deren Existenz teilweise Millionen von Jahren zurückgeht, oder die gerade erst eingewandert sind. Die Geschichte des Ruhrgebiets wird dadurch auf vielfältigere Arten lesbar“, ergänzt Arns.
Nicht zuletzt hebt Mathias Wittmann, Kaufmännischer Geschäftsführer des HMKV, die Unterstützung der Förderer hervor: „Ein großer Dank gilt unseren Förderer*innen: Das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen und die Stadt Dortmund fördern den HMKV institutionell. Diese Förderung ermöglich erst die Arbeit des HMKV. Für die Ausstellung konnten wir zudem Förderung durch die LWL-Kulturstiftung und die Stiftung Kunst, Kultur und Soziales der Sparda-Bank West einwerben. Ohne diese Mittel hätten wir diese Ausstellung in ihrer Einzigartigkeit nicht realisieren können.“