Der 1. September steht nicht nur für den Ausbruch des 2. Weltkriegs 1939, sondern auch für die Verschärfung des Paragraphen 175 durch die Nationalsozialisten 1935, der Homosexualität unter Strafe stellt. „Gezielt wurde schwule Männer verfolgt und in Konzentrationslager gesteckt“, erinnerte Frank Siekmann von SLADO. Nur wenige hätten diesen Terror überlebt.
Gedenkveranstaltung im Hof der Gedenkstätte Steinwache
SLADO e.V., der Dachverband der Schwulen, Lesben und Transidenten-Organisationen in Dortmund, hatte mit einer Vielzahl von Organisationen zu einer gemeinsamen Gedenkveranstaltung zum Antikriegstag im Hof der Mahn- und Gedenkstätte Steinwache eingeladen (wir berichteten bereits).
Doch dieser von den Nazis verschärfte und menschenverachtende § 175 wurde nicht etwa nach dem Ende der Schreckensherrschaft abgeschafft, sondern hatte auch in der neuen Bundesrepublik weiter Bestand.
Menschenverachtender Paragraph galt bis 1994 weiter
Weiter seien schwuler Männer nach diesem Paragraph verfolgt worden. „In der neuen Republik wurden viermal mehr schwule Männer verfolgt als in der Weimarer Republik. Zwischen 1949 und 1969 kam es in Westdeutschland zu 50.000 rechtskräftigen Verurteilungen nach dem Paragraphen 175“ erinnerte Siekmann. „Im Namen des Gesetzes wurden nach 1945 ganze Biografien zerstört.“
Betroffen waren noch weit mehr Schwule: Schon der Verdacht reichte, um Arbeitsplatz, Wohnung und soziale Stellung zu verlieren. Es gab 100.000 Ermittlungsverfahren – „sie bedeuteten den sozialen Tod!“, so der SLADO-Redner.
Urteile gegen Schwule sind noch immer rechtskräftig
Der Bundestag habe sich nach der Abschaffung des Paragraphen dafür entschuldigt. Mehr aber auch nicht: „Das kann man mit Worten nicht wieder gutmachen.“ Besonders dramatisch: Die Verurteilungen sind weiter rechtskräftig. Es gibt keine Entschädigung für die Opfer. Keine Wiedergutmachung, erinnert Siekmann.
Bis 1994 hatte er in der Bundesrepublik Bestand: „123 Jahre lang hat der Paragraph 175 Homosexuellen das Leben zur Hölle gemacht.“Mit dieser Aufhebung sei die Angst der Homosexuellen längst nicht vorbei gewesen sei, da die Diskriminierung fortdauere: „Vorurteile und Homophobie sind weiterhin vorhanden.“
Die logische Konsequenz aus der Geschichte für Siekmann: „Endlich die volle Gleichstellung. Aufklärung an Schulen und Jugendfreizeitstätten. Homo- und Transphobie müssen gesellschaftlich geächtet sein.“
Breites Bündnis setzte Zeichen gegen Neonazis und Homophobie
Der SLADO-Vertreter erinnerte an die große Protestveranstaltung während des Christopher-Street-Days. Ein breites gesellschaftliches Bündnis hatte die CSD-Besucher unterstützt, weil die Neonazis der Partei „Die Rechte“ nur einen Steinwurf vom CSD entfernt eine Kundgebung angemeldet hatte.
„Ich habe mich gefragt, warum uns die Presse zum Teil ignoriert oder als ‘Gegendemo’ bezeichnet hat. Die Gegendemo war doch die Partei „Die Rechte“, die die Wiedereinführung des Paragraphen 175 forderte.“
Allerdings – und das ist der positive Aspekt – seien die vielen ermutigenden Rückmeldungen von Teilnehmern und Besuchern gewesen. „Die Demo hat mir Mut gemacht“, gesteht Frank Siekmann. Den brauchen die Schwulen weltweit allerdings auch heute noch.
Arbeit geht weiter: Weltweit werden Homosexuelle verfolgt
Noch immer sind Diskriminierung und Verfolgung weltweit an der Tagesordnung, selbst die Inhaftierung und auch die Ermordung gebe es, erinnerte Siekmann – „nur weil sie anders lieben“.
Daher galt die Kranzniederlegung im Hof der Mahn- und Gedenkstätte nicht nur den homosexuellen Opfern des Faschismus in Deutschland, sondern auch den Menschen, die auch heute noch wegen ihrer sexuellen Orientierung das Leben zur Hölle gemacht haben.
Diese Geschichte ist mit der Abschaffung des § 175 nicht beendet….
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SLADO erinnert an das Unrecht des § 175 – Polizeipräsident Lange: „Möchte mich entschuldigen“ (PM SLADO)
Mit einer Gedenk- und Diskussionsveranstaltung hat SLADO, der Dachverband der Schwulen-, Lesben-, Bisexuellen- und Transidentenorganisationen in Dortmund, an die Streichung des § 175 aus dem Strafgesetzbuch vor 30 Jahren erinnert. In der Mahn- und Gedenkstätte Steinwache kamen dazu am Dienstagabend rund 50 Personen zusammen. Mit dem Strafrechtsparagrafen stand seit Gründung des Deutschen Reichs bis zum 11.06.1994 gleichgeschlechtliche Liebe unter Männern unter Strafe.
Zum Auftakt erinnerte der Leiter der Steinwache Markus Günnewig an das Schicksal der knapp 600 Männer, die während der Zeit des Nationalsozialismus in dem früheren Dortmunder Polizeigefängnis aufgrund des § 175 eingeliefert wurden. Einige von ihnen wurden ohne Gerichtsurteil direkt in Konzentrationslager deportiert.
Der Dortmunder Polizeipräsident Gregor Lange betonte in seinem Grußwort, dass die Verfolgung auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs fortdauerte. „Das Durchsetzen des Paragrafen 175 des Strafgesetzbuches, der nur als Unrecht zu bezeichnen ist, hat bis 1994 stattgefunden“, sagte Lange. „Dazu haben wir auch als Polizei Dortmund beigetragen. Für diesen Beitrag möchte ich mich entschuldigen.“ Mit Bezug auf die heutige Zeit versprach Lange, sich für den Schutz queerer Menschen vor Gewalt einzusetzen.
Doch auch schwule und bisexuelle Männer, die selbst nie mit Polizei und Strafverfolgung in Berührung kamen, sowie andere queere Menschen waren durch den Paragrafen in ihrer Freiheit beschnitten, wie der Historiker Marcus Velke-Schmidt in seinem Vortrag erläuterte. Der Vorsitzende des Centrums Schwule Geschichte berichtete aus seiner Zeitzeugenarbeit, dass Männer in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik daran gehindert wurden, selbstbestimmt zu leben und ein gesundes Verhältnis zu Liebe und Sexualität zu entwickeln. Lesbische Liebe, so erinnerte Velke-Schmidt, war in der frühen Bundesrepublik total tabuisiert. Er sprach in diesem Zusammenhang von einem „Repressionskontinuum“, das weit über die offene Unterdrückung männlicher Homosexualität hinaus wirkte. Die Strafverfolgung in der Bundesrepublik traf zudem auch trans* Frauen, die in der Regel noch mit männlichem Personenstand ausgewiesen waren, sowie Heteromänner. „Wir finden in den Akten auch eine kleine Zahl von Frauen, die nach dem Paragrafen 175 verurteilt wurden“, berichtete Velke-Schmidt. Dies sei umso erstaunlicher, weil der Paragraf sich nur auf mann-männliche Sexualität bezog, und ein bis heute ungelöstes Rätsel.
In einem Poetry-Beitrag spannte Künstler Sven Hensel einen Bogen der Verfolgung über mehrere Jahrzehnte bis in die Jetztzeit. Abschließend diskutierten SLADO-Vorstandsmitglied Emily Veuhoff, Neofitos Argiropoulos vom Queeren Netzwerk NRW und Frank Magiera, LSBTIQ*-Beauftragter des Polizeipräsidiums Dortmund, was zu tun bleibt, um den Schutz queerer Menschen vor Gewalt zu verbessern. SLADO hat als Beitrag dazu in der vergangenen Woche die Kampagne #dortMUNDauf (www.dortmundauf.de) gestartet, die Betroffenen von queerfeindlicher Gewalt Unterstützung anbietet und zur Steigerung der Anzeigebereitschaft beitragen soll.