Es ist eigentlich „nur“ die Vorstellung eines neuen Sozialberatungsangebots der Ev. Lydia-Gemeinde in der Nordstadt. Aber zugleich ist es eine schallende Ohrfeige für die deutsche Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, was Sozialberater Jonny Bruhn-Tripp aus seinem beruflichen Erfahrungsschatz berichten kann.
Sozialberatung findet an jedem 1. Donnerstag im Monat statt
Bruhn-Tripp ist kein Mann der lauten Töne. Ruhig und sachlich spricht er über Nöte und Hilfsgesuche, Missstände und Planungsfehler. Der Mann, der acht Jahre das Arbeitslosenzentrum Dortmund geleitet hat (heute macht das seine Frau), war anschließend jahrelang bei den Vereinigten Kirchenkreisen beschäftigt. Jetzt – in der passiven Phase der Altersteilzeit – setzt der 60-Jährige ehrenamtlich die Sozialberatung fort. Ab 4. September jeden ersten Donnerstag im Monat ab 10 Uhr im Luther-Zentrum, Flurstraße 41.
„Hartz IV hat Hunger in Deutschland geschaffen. Das war vorher unvorstellbar!“
Kirchenmitarbeiter verwenden bei Jahreszahlen gerne den Zusatz „vor Christus/ nach Christus“. Bruhn-Tripp denkt in anderen Kategorien: Im Sozialrecht unterscheidet er in „vor Hartz IV“ und „nach Hartz IV“.
„Durch die Einführung von Hartz IV haben wir in Deutschland eine Armut geschaffen, die es vorher so nicht gab“, sagt Bruhn-Tripp. Für ihn besonders verwerflich: „Wir haben Hunger in Deutschland geschaffen. Das war vorher unvorstellbar!“
Sozialberater erleben viel Not und Verzweiflung
Seit Jahrzehnten kümmert er sich um die Menschen, die Rat und Hilfe im Sozial- und Arbeitslosenrecht brauchen. Seit „Hartz IV“ sind die Hilfesuchenden mehr geworden. Viel mehr.
„Den Menschen fängt die Hand an zu zittern, wenn sie einen Brief vom Amt aus dem Briefkasten nehmen sollen“, weiß Jonny Bruhn-Tripp. „Wenn sie einen Bescheid bekommen, stehen sie da und wissen nicht, was mit ihrem eigenen Leben passiert. So viel Not und Verzweiflung wie durch Hartz IV habe ich in den 25 Jahren davor noch nicht erlebt.“
Bürokratiemonster sorgt auch bei Bildungsbürgern für Verständnisprobleme
Das liegt nicht am Bildungsstand. Denn die Hartz-Gesetze haben ein Bürokratiemonster erschaffen, das häufig auch die Menschen vom Amt nicht mehr oder nicht richtig durchblicken. Um Hilfe zu beantragen, sind zehn bis zwölf Formulare notwendig. „Eine Steuererklärung ist ein Klacks dagegen“, versichert der erfahrene Berater.
Denn ein Bewilligungsbescheid für eine vierköpfige Familie umfasst ein dutzend Seiten. Häufig müssen die Berater drei bis vier Stunden mit einer Familie sprechen und dann zwei bis drei Aktenordner sichten, um die Lebenswirklichkeit und die Aktenlage zu durchdringen. Wenn dann noch jemand eine Arbeit hat und als Aufstocker Leistungen beantragt, reicht ein Tag für die Beratung nicht mehr aus.
Sozialberater als Übersetzer zwischen Lebenswirklichkeit und Antragswesen
Denn Jonny Bruhn-Tripp ist ein „Übersetzer“ zwischen der Lebenswirklichkeit der Menschen und den bürokratischen Hürden der Sozialgesetzgebung.
„Ich muss zuhören, Bescheide prüfen und schauen, ob es Wege aus der Not gibt.“ Ein immenser Aufwand, für den es viel zu wenig Berater gibt. Und die wenigen Beraterinnen und Berater – die es gibt – kommen nicht mehr nach.
„Eigentlich bräuchten wir eine neue Sozialpolitik“, betont der erfahrene Experte. Doch ein Wandel sei nicht zu erwarten – „Arbeitslosigkeit ist sozialpolitisch kein großes Thema mehr. Die Politik hat sich an Arbeitslosigkeit und Armut gewöhnt. Irgendwie läuft es“, sagt er mit Resignation in der Stimme.
Ehrenamtliche Beratung in Kirchen und bei Migrantenorganisationen
Doch resignieren will hier niemand. Sonst würde Jonny Bruhn-Tripp sich auch nicht ehrenamtlich engagieren. In der Friedenskirchengemeinde in Scharnhorst hat er damit begonnen und bietet auch Migranten beim VDMO Beratungsstunden an. Zudem schult er Sozial- und Jugendarbeiter in Sozialrechtsfragen. In der Lydia-Gemeinde in der Nordstadt gibt es für ihn ein weiteres Betätigungsfeld.
Schon jetzt kommen viele Menschen und suchen in der Gemeinde nach Rat und Hilfe. „Doch wenn das Einkommen nicht ausreicht, ist guter Rat gefragt. Und den wollen wir geben“, sagt Pfarrerin Carola Theilig. Bisher konnten sie mit kaum mehr als Lebensmittelgutscheinen oder Lebensmitteln helfen. Doch diese Möglichkeiten sind sehr beschränkt. Daher will die Gemeinde jetzt grundsätzlicher Hilfestellung bieten.
Rat und Hilfe bei Arbeitslosengeld, Sozialhilfe, Grundsicherung im Alter
Deswegen haben Theilig und ihre Kolleginnen die Initiative zur Sozialberatung ergriffen. Arbeitslosengeld, Sozialhilfe, Grundsicherung im Alter – einige der Themenstellungen, die am 4. September kompetent beantwortet werden sollen.
Die Gemeinde hat die Werbetrommel gerührt. Auch in den fünf eigenen Nordstadt-Kitas sind die Erzieherinnen über das neue Angebot informiert worden. „Es macht viel aus, wenn ein Sozialberater beim Amt anruft. Er weiß schließlich, worauf die Menschen ein Anrecht haben“, betont Pfarrerin Birgit Worms-Nigmann.
Die Hilfesuchenden sollen ihre Rechte und Möglichkeiten kennen und so eine Chance bekommen, wieder Souverän ihres eigenen Lebens zu werden. Damit am Ende des Geldes künftig nicht mehr so viel Monat übrig ist…
Reader Comments
Birgit
Insgesamt ein guter und wichtiger Beitrag. Mir fehlen aber illustrierende anschauliche Beispiele, die auch diejenigen Menschen erreichen, die keinen Bezug zu Hartz IV Empfängern haben. Wieso kommt es dazu, dass sie Hungern müssen? Wie weit reicht die Einflussnahme des Arbeitsamtes auf das Leben? Sicher lässt sich das nicht mit einem einzigen Blogbeitrag beschreiben, aber irgendwie hatte ich mir nach der Überschrift „mehr Butter bei die Fische“ erhofft. So bleibt alles nüchtern an der Oberfläche.
Dieter
Vor Hartz IV gab es keine Armut? Keiner musste Hungern? Aha, ganz was neues. Gehört ihr zu denen, die vor Hartz IV zu Sozialhilfeempfängern und Obdachlosen, Menschen mit kleiner Rente (ja die gab es auch da schon) etc gesagt haben „Ihr seid nicht arm, schaut mal in die 3. Welt, Das ist Armut“ und über die gesagt haben mit Sozialhilfe lässt es sich gut leben und ähnliche Sprüche? Ich habe vor Hartz iV von Sozialhilfe gelebt, musste schon vor Hartz IV zu Tafel oder in die Armenküche gehen, das Geld reichte nicht zum Leben, oft erlebte ich es dass auch einfach kein Geld vom Amt kam, ohne Begründung, ohne Ankündigung, ohne Grund. Ich bin auch nicht der Einzige den es so ging, ich habe in den Armenküchen ganz viele angetroffen denen es ähnlich erging. Aber ich vergaß, die damaligen Sozialhilfeempfänger waren ja faul und selbst Schuld, wahrscheinlich haben wir einfach nur unser Geld für Flachbildschirme, Mercedes, Alkohol und Drogen ausgeben. Wenn man keine Ahnung hat, einfach mal Klappe halten. Oder gehörten wir nicht zu den Einwohnern in Deutschland?
Erich Ollnow
Machen wir uns nichts vor.
Der Spruch: „Eigentum verpflichtet“ lautet im Klartext: „Verstecke meine Millionen, wer kein Geld hat stirbt eben“
Diejenigen, die über die Mittel verfügen die Not und Armut in unserem Land auszurotten, lesen Armutsberichte nicht, wenn nicht von vornherein klar ist, dass sich dahinter eine Möglichkeit des Abkassierens verbirgt. Klartext: Bestes Beispiel der Verbrecher aus der Fussballscene.
Der Teil, der noch Arbeit hat, egal ob abgezockter Aufstocker oder nicht, schließt sich der allgemeinen Bigotterie des vorgetäuschten Lebens in Nächstenliebe an und hetzt gegen den eigenen Nachbarn bis hin zu Verwandten. Motto: „Alles faule Socken, die es sich von meinen Steuern gut gehen lassen“.
Und 95% derer, die in Armut leben bekommen, nach dem Motto: „jene die sich engagieren werden es schon richten und ich kann sowieso nichts erreichen“, das Hinterteil nicht hoch. Statt den Reichen die Armutsberichte über das wirkliche Leben regelmäßig in die Briefkästen zu stecken, bleibt man in seiner Hungerbude und schämt sich vor dem Nachbarn – ohne zu wissen, ob es dem nicht genau so geht und ob die / der nicht genau so versteckt vor sich hin kränkelt.
Und genau diese Fakten sind es, die es den meisten Politikern und Unternehmern ermöglichen eine unerträgliche Armut zu schaffen, in Folge die Leute in Sklavenarbeitsverhältnisse zu zwingen. Sie können ganz schamlos ihre Leidenschaft zur Totengräberei der „demokratischen Sozialverantwortung einer Solidargemeinschaft“ ausleben.
PS: Mein Name darf ruhig veröffentlicht werden, ich habe diese verdammte Bigotterie zu satt, um mich noch zu verstecken.