Die 43-Jährige Fatime Sahin lebt und arbeitet in der Dortmunder Nordstadt. Sie ist in der Wählergemeinschaft Bündnis für Vielfalt und Toleranz (BVT) politisch aktiv. Dieses wurde Anfang des Jahres gegründet und nahm somit erstmals im September 2020 an den Kommunalwahlen teil. Die Wählergemeinschaft konnte auf Anhieb jeweils ein Mandat im Stadtrat und in den Bezirksvertretungen Innenstadt-Nord, Eving und Huckarde erringen und kam auf insgesamt 0,82 Prozent aller Wählerstimmen. In der Dortmunder Nordstadt erlangte sie 4,7 Prozent. Fatime Sahin wird die Wählergemeinschaft in der Bezirksvertretung Innenstadt-Nord vertreten und ist (bisher) die Einzige unter den 19 Mandatsträger*innen mit Zuwanderungsgeschichte. Im Interview berichtet sie über ihr politisches Engagement.
Warum haben Sie sich entschieden, sich politisch zu engagieren?
Weil ich dazu beitragen möchte, die Nordstadt positiv zu verändern. Mir ist wichtig, politische Verantwortung zu übernehmen und in meinem Stadtteil Menschen zu helfen.
Warum wurde BVT gegründet? Für welche Ziele stehen Sie? Wie kann das Bündnis für Vielfalt und Toleranz politisch eingeordnet werden?
Als Bewohner*innen mit Migrationshintergrund fühlen wir uns einfach von keiner Partei in Dortmund wirklich gut vertreten: Weder im Rat, in der Bezirksvertretung noch im öffentlichen Dienst! Dieses Gefühl teilen viele Menschen, die in der Dortmunder Nordstadt leben. Das Bündnis für Vielfalt und Toleranz möchte daher ein Miteinander auf Augenhöhe erwirken. Wir stehen für mehr Aufklärungsarbeit in der Politik, für mehr Beteiligung und wir haben uns als Ziel gesetzt die noch inaktiven Personengruppen und die Jugendlichen zu aktivieren. Wir sind eine demokratische Partei, die die Interessen vieler Mitbürger*innen bündelt.
Was sagen Sie zu der Kritik, dass das BVT nur die Interessen der türkeistämmigen Bewohner*innenschaft in der Dortmunder Nordstadt berücksichtige?
Das stimmt so nicht, wir sind eine sehr junge Wählergemeinschaft und irgendwo müssen wir ja anfangen. Man hört oft, dass viele deutsch-türkische Menschen nicht wählen gehen. Genau hier haben wir angesetzt: Wir haben diese Bevölkerungsgruppe aktiviert, auch wenn die Statistiken dies noch nicht hergeben. Sehr viele, die uns ihre Stimme gaben, waren zuvor Nicht-Wähler*innen. Ich weiß aber auch, dass mich nicht nur deutsch-türkische Mitbürger*innen gewählt haben. Wir sind offen und freuen auf weitere Unterstützung!
Wie waren die Reaktionen auf Ihre politische Neugründung?
Von den Bewohner*innen im Stadtteil gab es viele positive Rückmeldungen. Leider kann ich dies von zwei etablierten Parteien nicht behaupten. Hier nochmal meine Bitte an alle: Ich möchte nachhaltig zu Veränderungen im Bezirk beitragen und bin stets bereit für den offenen Dialog.
Warum wollten Sie sich nicht bei den anderen Parteien engagieren?
Einerseits fühlte ich mich in keiner Partei hundertprozentig vertreten, andererseits wurde ich auch von keiner Partei angesprochen. Die deutsch-türkische-Plattform – deren Ziel es ist, Studierende, Akademiker*innen und namhafte Personen in unterschiedlichen Projekten zusammen zu bringen – fragte mich Anfang des Jahres, ob ich politisch aktiv werden wollte. Nach kurzer Bedenkzeit entscheid ich mich, bei der Kommunalwahl zu kandidieren. Meine Familie hat mich bei dieser Entscheidung unterstützt.
Die Wahlbeteiligung bei den Kommunalwahlen lag in der Dortmunder Nordstadt unter 25 Prozent. Wie erklären Sie sich diese geringe Wahlbeteiligung? Und was kann man dagegen tun?
Resignation? Unwissen? Wir sprachen mit vielen Menschen. Viele fühlen sich alleine gelassen. Sie sagen, dass die Politiker*innen zwei Monate vor den Wahlen auftauchen und nach den Wahlen wäre niemand mehr da. Sie hätten gerne Ansprechpersonen, bei denen sie sich jederzeit melden könnten.
Kann politische Teilhabe etwas bewirken? Menschen mit Migrationshintergrund sind in den etablierten Parteien unterrepräsentiert. Müssten die Parteien mehr Menschen mit Zuwanderungsgeschichte gewinnen?
Auf jeden Fall. Die Menschen in der Dortmunder Nordstadt möchten sich vertreten fühlen. Sie wünschen sich, dass die Parlamente die Stadtgesellschaft besser abbilden. Im neu gewählten Rat der Stadt Dortmund sind es nicht mals sieben Prozent und in der Bezirksvertretung Innenstadt-Nord bin ich bisher die einzige unter den 19 Mandat*innen mit Zuwanderungsgeschichte. Die Dortmunder Nordstadt hat einen Migrationsanteil von über 70 Prozent. Die Kandidat*innen mit Migrationshintergrund der anderen Parteien sollten daher nicht auf den letzten Plätzen der Listen landen. Hier geht also noch was!
Sie sprachen im Vorfeld der Kommunalwahlen mit vielen Menschen aus der Nordstadt. Darunter wahrscheinlich auch jene, die zu den Nichtwählern zählen. Warum enthalten sie sich der Wahl? Was wünschen Sie sich?
Viele Menschen haben sich nicht wirklich für die Kommunalwahlen interessiert. Ich erlebte oft Resignation und Verbitterung. Sie sind sich oftmals nicht wirklich bewusst, dass sie mit ihrer Stimme unsere Stadt mitgestalten können.
Wie wird ihre politische Arbeit in den nächsten Jahren aussehen?
Ich werde mit den Einwohner*innen in Kontakt bleiben und Transparenz schaffen. Ich möchte Ansprechpartnerin sein. Die Förderung der Schulen, die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen liegt mir besonders am Herzen. Ich bin selbst Mutter zweier Kinder, die auch im Bezirk zur Schule gehen.
Was wünschen sie sich, zu guter letzt, in politischer Hinsicht?
Ich wünsche mir trotz meiner Kritik an den etablierten Parteien eine gute Zusammenarbeit und hoffe auch viele nachhaltige, positive Veränderungen! Das Interview führte Ali Sirin