Von Joachim vom Brocke und Alexander Völkel
Sie ist eine Institution in Dortmund – und hat – gemeinsam mit ihrem Team – eine Million Kundenanfragen und Anliegen gehabt. Doch nach 35 Jahren ist für sie Schluss: Helene Schulte-Bories (63), die Leiterin der Verbraucherzentrale in Dortmund, verabschiedet sich in den Ruhestand. Ihre Stelle bleibt jedoch nicht vakant: Nachfolger ist Rafael Lech (40). Der gebürtige Nordstädter freut sich, endlich auch beruflich in seine Stadt zurück zu kehren. Bis Ende Juni ist der BVB-Fan noch in Gelsenkirchen (!) tätig.
Die Leiterin hat mit ihrem Team rund eine Million Kundenanfragen bearbeitet
„Helene heißt ,die Strahlende’“, meinte Dr. Iris van Eik, Bereichsleiterin der Verbraucherzentrale NRW. Helene Schulte-Bories gehörte zu den „Pionieren der Verbraucherbereitung“. Seit Juli 1989 im Amt habe sie in den dreieinhalb Jahrzehnten ihrer Tätigkeit und ihrem Engagement über Dortmund hinaus für „viel Strahlkraft“ gesorgt.
Viele Kontakte seien von ihr geknüpft, viel Netzwerkarbeit geleistet worden. „Helene Schulte-Boris hat der Verbraucherberatung nach innen und außen ein Gesicht gegeben“, lobt Dr. Iris van Eik.
„Mit ein bißchen Wehmut“ verabschiedete Oberbürgermeister Ullrich Sierau die scheidende Leiterin der Verbraucherzentrale. „Sie haben immer, auch der Politik gegenüber, viel Überzeugungsarbeit geleistet, wenn es zum Beispiel um die finanzielle Ausstattung gegangen ist“, lobte Sierau.
Auch zivilgesellschaftlich habe sich die Verbraucherberatung eingemischt. Sie sei für die Dortmunder Bürger*Innen mehr gewesen als „nur eine Rechtsberatung“. Zu Nachfolger Rafael Lech meinte Sierau: „Als Dortmunder wissen Sie, worauf Sie sich eingelassen haben“.
Nicht ganz ohne ein paar Tränchen freute sich Helene Schulte-Boris „über die Wertschätzung ihrer Arbeit“. Sie liebe die Stadt Dortmund und sei gerne aktiv tätig für die Bürger*innen gewesen: „Es war schön, in dieser tollen Stadt zu arbeiten“, sagte die frühere Leiterin und benutzte nach eigenen Angaben beim Abschied erstmals „Glück auf!“
Hausfrauenbund und Koop-Frauengilde stießen die Gründung vor mehr als 55 Jahren an
Bewegte Zeiten liegen hinter der Verbraucherzentrale, die in Dortmund seit mehr als 55 Jahren besteht. Der Hausfrauenbund und die Koop-Frauengilde haben die Gründung der Verbraucherzentrale in Dortmund angestoßen.
Gemeinsam mit der Sparkasse brachten sie die Einrichtung auf den Weg. Es war die achte Verbraucherzentrale in Nordrhein-Westfalen – angesiedelt war sie in der damaligen Sparkassen-Hauptstelle – dem heutigen Museum für Kunst- und Kulturgeschichte.
„Die Sparkasse stellte der Verbraucherzentrale die Räume kostenlos zur Verfügung und finanzierte auch eine Mitarbeiterin“, berichtet die scheidende Leiterin der Dortmunder Einrichtung, Helene Schulte-Bories. Die zweite Beraterin wurde von der Verbraucherzentrale NRW finanziert.
Zu Beginn der Verbraucherzentrale waren noch Beratung um Preise und Qualitäten gefragt
„Als die Republik die Wirtschaft als Wunder erlebte, war angesichts ungeahnter Warenvielfalt und immensen Nachholbedarfs Beratung um Preise und Qualitäten gefragt“, so Schulte-Bories. „Engagierte Frauenverbände setzten sich für Verbraucherbelange ein, um Verbrauchers Rolle als gleichberechtigter Partner in der Wirtschaftsdemokratie einzuüben.“
Früher hieß es in der Beratungsstelle angucken, anfassen, ausprobieren. Wie bediene ich eine Waschmaschine oder welche Saugkraft sollte der Staubsauger haben? Ungelöste Fragen, die beantwortet werden wollten. Ausstellungsstücke dienten dabei als Lehr- und Lernmodell. 1980 war damit – nach dem Umzug in das RAG-Gebäude – Schluss.
Die Spannbreite der Arbeit war vielfältig – und ist noch breiter geworden: Reinfälle bei Haustürgeschäften, irreführende Warenbeschreibungen, fehlerhafte Kleidung und Schuhe – hierzu suchten Ratsuchende zuhauf in den 1960er Jahren Hilfe. Jeder Beschwerde, jeder Reklamation wurde nachgegangen.
Ratsuchende erwarten gesichertes Wissen über gesundheitliche und ökologische Risiken
Kreisten in den Aufbruchjahren die Fragen um Preise, Qualitäten, Funktionen und allenfalls noch um die Sicherheit von Produkten, geriet ihr Weg von Herstellung bis Entsorgung Mitte der 1980er Jahre zunehmend in die Kritik.
Nitrat im Wasser und Gemüse, überlastete Deponien, Weichmacher in Spielzeugen, Glykol im Wein, Formaldehyd in Möbeln, die Auswirkungen der Tschernobyl-Katastrophe – für die Verbraucherzentrale stellten sich damit neue Herausforderungen. Denn Ratsuchende erwarteten von ihr nunmehr auch gesichertes Wissen über gesundheitliche und ökologische Risiken sowie gesunde Ernährung.
„Mein Einstieg in die Verbraucherarbeit im August 1985 war geprägt von Skandalen wie Glykol im Wein, Dortmund musste sich von Stahl, Kohle und Brauereien verabschieden, die Arbeitslosenquote stieg über 17 Prozent und Kredithaie zogen ihre Kreise, der Handtaschenraub erfolgte noch analog an der Haustür oder am Telefon und die Digitalisierung war noch lange kein Thema.“
Verbraucherinsolvenzen: Budget- und Entschuldungsberatung wurde immer wichtiger
Die Budget- und Entschuldungsberatung wurde immer wichtiger. Weil am Ende des Geldes noch reichlich Monat übrig war, suchten viele Haushalte das finanzielle Heil in Ratenkrediten – teils mit Wucherzinsen.
1983 buchte die Verbraucherzentrale daher Fachwissen hinzu: Der erste Honorar-Rechtsanwalt begann mit der Überprüfung von sittenwidrigen Verträgen. Tipps zum Haushaltsgeld und Familieneinkommen gab es schon von Anfang an.
„Haben wir früher Budgetberatung mit schwarzen Zahlen gemacht, mussten wir plötzlich auch bei roten Zahlen beraten“, erinnert sich Schulte-Bories. „Viele Haushalte waren und sind hoch verschuldet.“ 1999 eröffnete der Gesetzgeber mit der Insolvenzordnung erstmals für Privatleute die Chance auf einen Neuanfang. Bedeutete Überschuldung bis dahin ein lebenslängliches Dasein am Existenzminimum, bestand seither die Aussicht, von der Schuldenlast befreit zu werden.
„Zum 20-jährigen des Verbraucherinsolvenzverfahrens im letzten Jahr konnten wir Bilanz ziehen: mehr als 6900 Betroffene haben wir begleitet – davon profitieren auch Angehörige und Kinder“, berichtet die scheidende Leiterin.
Finanzdienstleistungen, Telekommunikation und Energieversorgung als Themen
Die Entwicklungen im Finanzdienstleistungsmarkt forderten die Verbraucherschützern stark: Denn viele Finanzinstitute erwiesen sich für die Kunden nicht als „die sichere Bank“: Die Hilfesuchenden erhofften sich bei den Verbraucherschützern Transparenz über Kosten oder Renditen, Überschussbeteiligungen oder zu erwartende Zinsen. Manche Bankenpraxis wurden zur Klärung an Justitia überwiesen.
Aber auch Fragen zum richtigen Versicherungsschutz, zur notwendigen privaten Altersvorsorge und zum optimalen Finanzierungskonzept einer Immoblilienfinanzierung brauchten kompetente Antworten. Anbieterunabhänge Lösungswege können geschulte Fachkräfte seit Anfang 2000 aufzeigen.
Ein umfangreicheres Betätigungsfeld, eröffnete die Liberalisierung und Deregulierung bei Telekommunikation und Energieversorgung: Seit 1998 mussten Telefonkunden beim Griff zum Hörer nicht mehr automatisch eine Verbindung mit der Deutschen Telekom eingehen. Mehr als 120 Unternehmen tummelten sich auf dem Privatkundenmarkt: Tarifklarheit und Wahrheit war aber – zumindest am Anfang – eine Illusion. Den Fallstricken hat die Verbraucherzentrale seitdem den Kampf angesagt.
Mehr als 9000 Ratsuchende kamen allein im vergangenen Jahr in die Beratung
Insgesamt kam es im vergangenen Jahr in Dortmund bei 9.103 Verbraucher*innenanliegen 2019 zu 4.934 Rechtsberatungen und- vertretungen. In 47 Prozent der Anfragen drehte es sich um den Finanzhaushalt, Probleme wie Insolvenzen, Schulden etc.
13 Prozent entfallen auf den Bereich der Dienstleistungen. So klärte die Verbraucherzentrale 2019 unter anderem ausführlich über Abzockermaschen von Notdiensten auf. Zehn Prozent der Verbraucher*innen-Probleme hatten mit Fragen rund um Internet- und Telefonanbieter und -verträge zu tun. Neun Prozent entfielen auf den Bereich Konsumgüter und sieben Prozent auf den Sektor Energie.
„Meinen Abschied aus der aktiven Verbraucherarbeit habe ich mir eigentlich anders vorgestellt, doch er gestaltet sich genauso dynamisch und bunt wie mein gesamtes Berufsleben: Geprägt von den Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Dortmunder Verbraucherhaushalte und von den neuen Anforderungen an einen engagierten Verbraucherschutz werde ich den Staffelstab an meine Nachfolge übergeben“, so Schulte-Bories.
Solides Fundament: Die Finanzierung der Arbeit ist bis Ende 2024 gesichert
Sie freut sich, dass die Finanzierung der Einrichtung bis Ende 2024 gesichert ist. „Es ist der richtige Zeitpunkt für einen Wechsel. Und Rafael Lech traut sie zu, dass er die Arbeit erfolgreich fortsetzt. Auch wenn er – und auch das erwartet sie – für frischen Wind sorgt und neue Impulse gibt.
Daher geht sie mit einem lachenden und einem weinenden Auge: „In all den Jahrzehnten war es nie langweilig, unsere Aufgabe ist aktueller denn je und fordert alle Akteure täglich aufs Neue heraus. Unser Wirken und unser Erfolg waren zugleich immer ein Gemeinschaftswerk – eng vernetzt und begleitet durch viele fruchtbare Kooperationen und engagierte Unterstützerinnen und Unterstützer. Dafür sage ich Danke!“
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