Die Industrie- und Handelskammer (IHK) zu Dortmund hat eine aus den eigenen Reihen verfasste Studie zur Bedeutung der Gesundheitswirtschaft in der Region vorgestellt. Danach gibt es nicht viel zu übertreiben: die Wachstumsbranche wird immer mehr zu einem essentiellen Standortfaktor. Wie in Dortmund, Hamm, Unna, so in der Metropole Ruhr. – Was bedeutet das konkret? Welchen Herausforderungen sieht die Körperschaft regionaler Unternehmen vor dem Hintergrund fortschreitender Digitalisierung, Vernetzung und Automatisierung in der Medizin? Welche Entwicklungspotentiale gibt es? Schließlich: Welche politischen Fragestellungen ergeben sich – angesichts explodierender Kosten für die medizinische Versorgung und der vielbeschworenen demographischen Verschiebung der Altersstruktur in unserer Gesellschaft? – Die Autoren der Untersuchung – Ulf Wollrath und Patrick Voss, Geschäftsführer resp. Referent der IHK – erläutern Hintergründe und Prioritäten aus ihrer Sicht. Deutlich wird: Es geht um mehr als nur um eine blühende Wirtschaft. Sondern es werden Grundsatzfragen berührt, die einen diskursiv generierten Konsens über gesundheitspolitische Handlungsprämissen erfordern. Und letztendlich geht es ans Eingemachte: Wie gewichten wir zukünftig Freiheit und Solidargemeinschaft zueinander?
Von den Gütern der „Gesundheitswirtschaft“ und ihrer sensiblen Situiertheit auf dem Markt
Sie ist eine der größten Branchen in der Bundesrepublik. Ihr „Bereich“ wird vom zuständigen Bundesministerium auf seiner offiziellen Homepage als „Markt“ bezeichnet. Das bedeutet nach wirtschaftswissenschaftlicher Terminologie: hier treffen Angebot und Nachfrage bezüglich eines ökonomischen Guts zusammen. Dort wird getauscht: eine Ware oder Dienstleistung gegen ein anerkanntes Äquivalent, das Geld, zum bestehenden Marktpreis oder Tauschwert. – Soweit, so gut.
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Allerdings ist es in diesem Fall nicht nur nicht ganz so einfach, wie von der marktliberalen Grundlagentheorie idealtypisch angenommen, sondern noch etwas komplizierter. Denn die Rede ist von einem ziemlich speziellen „Gut“, was hier dem betreffenden Bundesministerium zufolge gehandelt wird. Genauer gesagt, geht es um unser Leben – nämlich im weitesten Sinne um „Gesundheit“ als Gegenstand unternehmerischen Handelns. Deren Gegenteil eben Krankheit, gegebenenfalls Tod bedeutet.
Auf diese Weise aber kommen Wirtschaftsinteressen, die in ihrer gesellschaftlichen Praxis selten durch ausgeprägte Moralität aufzufallen pflegen, wenn es um Gewinnmaximierung geht, mit einem Gut in Berührung, das – bei genauerer Betrachtung (s.u.) – an subjektive Rechte, daher an Unteilbarkeit gebunden ist. Weil es einen Konsens um staatliche Verantwortung für die Sorge um „Gesundheit“ gibt: um ihre Wiederherstellung und Erhaltung als einem „Wert“, der nicht allein dem freien Spiel der Kräfte überlassen werden darf.
Eine krisenfeste, wachstumsorientierte und Beschäftigung garantierende Branche
Insofern wandelt die „Gesundheitswirtschaft“ auf einem sensiblen Terrain. Allein schon deshalb ein spannendes Thema, in das sich die Industrie- und Handelskammer (IHK) zu Dortmund (d.h. einschließlich Hamm und Unna) in Eigenregie eingearbeitet hat. Doch was ist daran aus deren Sicht besonders interessant?
Die Antwort ist simpel: Es handelt sich definitiv um eine Wachstumsbranche, die für das Gesamt der Bruttowertschöpfung im Inland wie in der Metropole Ruhr in den letzten Jahren immer wichtiger geworden ist.
„Krisenfest“, „Garant für Beschäftigung und Wachstum“, markiert IHK-Geschäftsführer Ulf Wollrath, verantwortlich für die nun vorgestellte Studie, denn auch Eckpunkte der Motivation, sich als berufsständische Körperschaft der regionalen Unternehmen mit dem Thema zu beschäftigen. Formal lässt sich dies zunächst an relevanten ökonomischen Kennziffern ablesen.
Im Gesundheits- und Sozialwesen des Kammerbezirks sind (einschließlich der Selbstständigen) gut 3.660 Unternehmen tätig, die fast 84.000 Menschen beschäftigen, Tendenz steigend. In der Metropole Ruhr – mit über 340.000 Beschäftigen – hat die Gesundheitswirtschaft mittlerweile die Industrie als größten Arbeitgeber abgelöst.
Prognose: Wirtschaftliches Wachstum im Gesundheits- und Sozialwesen wird weitergehen
Vor allem aber kann diese Entwicklung erklärt und auf diese Weise mit einer gewissen Sicherheit die Fortsetzung dieser Expansionstendenz prognostiziert werden. Denn sie ist nicht nur eingebettet in den Megatrend infolge des Strukturwandels, im Zuge dessen der für das Ruhrgebiet traditionelle Industriesektor relativ zum Dienstleistungs- und Informationssektor bei fortlaufender Technologisierung und Digitalisierung weiter abschmelzen wird.
Hinzukommt die demographische Entwicklung: eine fortschreitend älter werdende Gesellschaft. Dies ist erstens Ausdruck einer verbesserten Medizintechnologie wie des medizinischen Wissens. Menschenleben können, nicht nur kurzfristig, sondern strategisch verlängert werden: Die durchschnittliche Lebenserwartung steigt.
Zweitens bewirkt dies (neben anderen Ursachen) eine Pathologisierung der Gesellschaft: Wir werden immer kranker – was entsprechende Behandlungskosten verursacht, die gedeckt sein wollen. Nicht nur, weil sich die Altersverteilung in der Bundesrepublik verschiebt, daher Menschen sich über ihre Lebensspanne im Mittel häufiger in medizinische Behandlung begeben und im Alter länger pflegerischer Dienste benötigen.
Pathologisierung der Gesellschaft durch verbesserte Diagnostik und Gesundheit als Ware
Sondern auch, weil immer feinere differentialdiagnostische Methoden in der Medizin zu immer mehr Befunden führen, die Krankheitssymptome erkennen und als behandlungsbedürftig erscheinen lassen, häufig unter Einsatz von kostenintensiven High-Tech-Therapien.
Drittens wird die eigene Gesundheit immer mehr zur Ware, zur Investition in die Zukunft wie zum kulturell verbindlichen Lifestyle-Paradigma. Fit sein, lange leben, auch um viel und intensiv zu arbeiten. Wer nicht permanent zielgerichtet durch die Gegend flitzt, ohne nach links oder rechts zu schauen, gehört bereits zum Kreis potentieller VersagerInnen.
Sich dafür um die eigene Gesundheit zu kümmern, wird genauso zur quasi-moralischen Pflicht, wie den täglichen Leistungsdruck im Berufsleben unhinterfragt zu akzeptieren, um den Ansprüchen nach Effektivität und Effizienz an die eigene Person zu genügen. Und auch hier steht allen durch Arbeitsverhältnisse involvierten Akteuren die „Gesundheitswirtschaft“ stets verlässlich mit Rat und Tat zur Seite, um für jedwedes Problem maßgeschneiderte Lösungswege zu präsentieren.
Die Struktur der „Gesundheitswirtschaft“: von Krankenhäusern zur Lifestyle-Wellness
Um den sehr weiten Begriff „Gesundheitswirtschaft“ fassbarer zu machen, greift die IHK in ihrer Studie auf das am Institut Arbeit und Technik entwickelte Schichtenmodell zurück. In seinem Kern wird sie von der ambulanten resp. stationären Versorgung, den Verwaltungs- und Reha-Einrichtungen und den Apotheken gebildet – also den an der Schnittstelle zur medizinischen Versorgung stehenden, zumeist staatlich garantierten Leistungen.
Um diesen Kernbereich gruppieren sich in einer zweiten Schicht die Pharmaindustrie, Medizin- und Gerontotechnik, Biotechnologie, Beratungsinstitutionen sowie der Handel mit Gesundheitsprodukten. In einem sehr vielfältigen Randbereich befinden sich unter anderem wirtschaftlich relevante Themen wie das weite Feld „gesunde Ernährung“ oder Aktivitäten in Sport und Freizeit.
Je nach Sichtweise, sind das Ausdrücke eines gesteigerten Gesundheitsbewusstseins in der Bevölkerung mit fließenden Übergängen zu Wertschöpfungszweigen wie „Wellness“. Oder Erfolge eines notorischen „Gesundheitsterrorismus“, den niemand braucht, wer beim Auftreten von Plastikpuppen in Hochglanzbroschüren auf irgendeinem Hometrainer nicht mitmachen will.
Debatte um zukünftige Finanzierbarkeit des Gesundheitswesens wegen demographischer Entwicklung
Soweit es um die Gesundheitsversorgung und den Zugang zu Waren und Dienstleistungen in diesem Sektor geht, gilt die Tendenz: je näher die hier exemplarisch genannten Bereiche potentiellen Wirtschaftens Richtung Zentrum rücken, desto stärker berühren unternehmerische Aktivitäten medizinische und pflegerische Versorgungsleistungen, die über das gesetzliche Kassensystem von der Solidargemeinschaft übernommen werden.
Hier verschränken sich Wirtschaftsparadigmen mit „Gesundheit“ als einem konsensuellen Gut, das, soll es staatlich garantiert sein – sofern hier subjektive Rechte eine Rolle spielen, es also um legitime Ansprüche auf Heilung oder Pflege geht –, nicht allein den Marktmechanismen überlassen werden kann. Diese Problemstellung lässt sich unter verschiedenen, gegenwartspolitisch relevanten Aspekten ausdifferenzieren.
Die Ausgaben für Gesundheit in der Bundesrepublik steigen seit Jahren stabil an; ebenso wächst ihr relativer Anteil am Bruttoinlandsprodukt. Debatten werden darum geführt, wie das Gesundheitswesen zukünftig noch finanzierbar sein kann.
Wenn durch den demographischen Wandel zudem Menschen immer älter werden. Oder anders: Wenn immer weniger junge Menschen aus ihrem Arbeitsleben heraus durch Krankenkassenbeiträge immer mehr Ältere und Alte finanzieren müssen. Ohne, dass es zu erheblichen Einbrüchen in der medizinischen Grundversorgung kommt.
Blindstelle: erhöhte Produktivität als gegenläufiger Faktor zum Älterwerden der Gesellschaft
Doch niemand weiß, inwieweit es sich hier lediglich um ein zwar plausibles, aber letztlich auch vordergründig problematisierendes Argument handelt. Denn für eine hohe Prognosesicherheit, dass die gesellschaftliche Entwicklung in den Status quo von Finanzierungsdisparität in der Gesundheitsversorgung führt, müsste die gleichermaßen zu berücksichtigende Augmentation der Wirtschaftsproduktivität einbezogen und gegengerechnet werden.
Weil sie – für sich genommen – auf dem Papier dazu führt, dass durch weniger Arbeit mehr Reichtum produziert wird, daher dem wegen der neuen Alterspyramide entstehenden Finanzierungsproblem entgegenläuft. Ein Zueinander-Wägen beider Tendenzen ist hingegen seriös kaum zu leisten. Das weiß auch Ulf Wollrath.
Es folgt: die durch demographische Verschiebungen prognostizierten Handlungsbedingen bleiben bestehen und führen – statt in Verteilungsfragen des Surplus an gesellschaftlich geschaffenem Mehrwert durch weiter expandierenden Technologieeinsatz – damit in bekannte Fahrwasser des gesundheitspolitischen Gegenwartsdiskurses.
Deren Leitfäden sich so in einem bestimmten gedanklichen Horizont bewegen – mit ziemlich eindeutigen versorgungspolitischen Implikationen.
IHK sieht angesichts demographischer Veränderungen individuelle Verantwortung stärker in der Pflicht
Sie lauten: Wenn die Gemeinschaft (nach dem Solidarprinzip) nicht weiterhin für die Mehrkosten im Gesundheitswesen aufkommen kann – dann muss dies aus individueller Verantwortung heraus geschehen, beispielsweise durch Abschluss privater Zusatzversicherungen.
Die IHK stellt in diesem Sinne und als Konsequenz ihrer Analyse aus der Perspektive demographischer Veränderungen explizit die rhetorische Frage, ob für eine „nachhaltige Finanzierung des Gesundheitssystems … das Umlagesystem der Beitragsfinanzierung den gegenwärtig hohen Stand der Gesundheitsversorgung sichern kann oder ob nicht eine Kapitaldeckung in Form von Altersrückstellungen künftig eine größere Rolle bei der Finanzierung spielen muss“.
Dies bedeutete faktisch: Personen, die sich solche „Rückstellungen“ nicht leisten können, haben unzureichend vorgesorgt und haben es sich insofern selbst zuzuschreiben, wenn ihnen zukünftig bestimmte Regelleistungen vorenthalten bleiben.
Kostendruck im Gesundheitswesen lenkt den Blick auf wirtschaftliches Handeln
Diese Positionierung der IHK zu Dortmund, die in einer Zukunftsfrage von immenser gesellschaftspolitischer Tragweite ist, kann sich einer nicht unbeachtlichen Hilfestellung versichern – und das sind die vor allem durch eine immer ausgefeiltere Medizintechnologie explodierenden Kosten im Versorgungsteil des bundesrepublikanischen Gesundheitswesens.
Sie sind unübersehbar und erzeugen seit Jahren einen immensen Druck zur Kostendämpfung qua Ökonomisierung und Rationalisierung. Damit wird die Versorgungsorganisation von Gütern der Gesundheit in einen untrennbaren Zusammenhang mit Prinzipien des Wirtschaftens gebracht. Knappe oder verknappte Ressourcen aber führen zu Verteilungskonflikten und erfordern Priorisierung.
Zum Streitthema wird die Struktur von Behandlungs- bzw. Zugangshierarchien zu Schlüsselbereichen des medizinischen Sektors werden, in denen es um „Gesundheit“ im engeren Sinne geht. So könnte in nicht ferner Zukunft vielleicht gefragt werden, ob ein alter Mensch noch eine neue Hüfte „braucht“? Ob es sich hier überhaupt „noch lohnt“? Bzw., weil dies vielleicht negativ beschieden wird: ob der Eingriff aus dem Repertoire der Grundversorgung dann nicht gestrichen werden sollte?
Die Szenarien lassen sich konform weiter denken. Irgendwann landen sie beim kaufmännischen Leiter eines Krankenhauses, der seinem Chefarzt zum Ende des Jahres darauf hinweisen muss, dass Dutzende von liegengebliebenen Hüften bis Weihnachten aus dem Keller verschwunden sein sollten. Damit es sich rechnet. Der Umgang mit „Gesundheit“.
Was ist eigentlich „Gesundheit“ – und kann mit ihr überhaupt auf dem Markt gehandelt werden?
Aber wovon ist hier eigentlich die Rede? – „Gesundheit“ ist ein komplexer Begriff. Ausgehend von der Weise, wie wir uns als Menschen gegeben sind (uns selbst wahrnehmen und interpretieren), steht er zwar zunächst allgemein für einen bestimmten Zustand – letztendlich von allem, was als Organismus, d.h. als lebendiges System störungsfrei funktioniert. Als speziell menschliche Gesundheit kommen positive Konnotationen hinzu: sie ist immer auch Soll-Zustand, den wir anstreben oder bewahren wollen.
Kann „Gesundheit“, so verstanden, eine Ware wie jede andere sein? – Aber, mag eingewandt werden: Wieso hier überhaupt eine langatmige Diskussion führen, wo es um das Thema „Gesundheitswirtschaft“ geht? Denn die gibt es ja offensichtlich – und sie ist nicht unbedeutend, weswegen sich die IHK aus gutem Grund mit ihr beschäftigt. Durch ihre pure Existenz beantwortet sich die Frage von allein und scheint aus diesem Grund überflüssig zu sein.
Doch, es ist, wie angedeutet, nicht ganz so einfach. Genauer gesagt, ist die Frage insofern essentiell, als sie Antworten darauf in sich trägt, wie wir in einer freien und solidarischen Gesellschaft miteinander umgehen wollen bzw. (als Mindeststandard) müssen. – Wodurch also zeichnet sich die Gesundheit eines Menschen aus? Gängige Definitionen können hier ziemlich weit gehen.
„Die Gesundheit ist des Menschen Wohl“, heißt es. – „Gesundheit“ bezeichnet nach herkömmlichen Bestimmungen nicht nur die Abwesenheit von Krankheit, sondern hat ebenfalls etwas mit unserem Wohlergehen zu tun: meist körperlich gedacht, zuweilen auch psychisch, und manchmal zusätzlich sozial (wie in der Definition der Weltgesundheitsorganisation, WHO). – Dann aber hat der Zustand „Gesundheit“ offenbar auch etwas mit individuellen Rechten, d.h. legitimen Ansprüchen zu tun, deren Einlösbarkeit durch eine Gemeinschaft gewährleistet sein muss.
Wiederherstellung individueller Gesundheit als unveräußerliches Recht eines jeden
Wie genau ist das zu verstehen? – Dahingestellt sei zunächst die Zweckmäßigkeit der sehr weit gehenden WHO-Definition von Gesundheit als einem umfassenden Wohlbefinden. An dieser Stelle genügt vielmehr eine relativ schlanke Annahme, die sich vom Prinzip her mit den gesundheitspolitischen Paradigmen hinter der bundesrepublikanischen Legalität deckt.
Sie lautet: Es gibt ein ethisch begründbares, daher staatlich zu garantierendes, subjektives Recht auf eine (möglichst vollständige) Wiederherstellung individueller Gesundheit im Falle von Krankheit, bei Gebrechen, chronischen Einschränkungen usf. – d.h. auf weitestgehende Heilung nach den Regeln der Kunst (Medizin, Pflege, behindertengerechte Umwelten, etc.).
Wenn dem aber so ist, entsteht Klärungsbedarf, was es denn genau mit besagter „Gesundheitswirtschaft“ auf sich hat. Können etwa individuelle Rechte bzw. Ansprüche als ein „Gut“ auf den Markt geworfen, veräußert oder gekauft werden? Wohl kaum. Denn „Rechte“ kommen in einem Rechtsstaat allen BürgerInnen – und als Menschenrechte schlicht allen Menschen – strikt gleichermaßen zu und sind deshalb unteilbar und „unveräußerlich“.
„Gesundheit“ als Gut darf in einer Solidargemeinschaft nie allein dem Markt überlassen werden
Das hat die simple Implikation, dass jene Rechte nicht durch Verkauf an jemand anders abgetreten oder erworben werden können. Ergo gilt dies auch für den legitimen Anspruch auf Wiederherstellung von Gesundheit. Der kann kein Marktgut sein, das wäre absurd: weil nichts nachgefragt werden kann, was einem jeden als Person eh schon zukommt.
Diese Vorüberlegung ist deshalb von grundlegender Bedeutung, weil mit ihr klar gemacht werden kann, dass der Marktmechanismus mit seinen Wettbewerbsregeln und der Bevorzugung jener, die dort obsiegen, der „Stärkeren“, in einer solidarischen Gesellschaft niemals ein relevanter Zuteilungsfaktor für „Gesundheit“ bzw. deren Wiederherstellung sein darf. Alles andere wäre sozialdarwinistisch und widerspricht dem Prinzip, Schwächeren zu helfen.
Wie funktioniert das also mit diesem verflixten „Gesundheitsmarkt“? Inwiefern kann es ihn dann überhaupt geben? Was gibt es dort zu kaufen, was ich nicht schon hätte – als InhaberIn von Rechten in diesem Zusammenhang? Und kann verkauft werden, obwohl da doch eigentlich alles „unveräußerlich“ ist?
Vielfalt des „Gesundheitsmarktes“ – von der Grundversorgung zu Surplus-Optionen
Entscheidend ist die Verortung von Grenzen zwischen garantierten Ansprüchen und individuell zu verantwortenden Prioritäten im je eigenen Lebensentwurf. D.h. zwischen dem, was alle BürgerInnen der Bundesrepublik rechtmäßig zur Grundversorgung als Leistungen des staatlichen Gesundheitswesens über die gesetzlichen Krankenkassen beanspruchen können – und dem, was der Eigenverantwortung durch private Zusatzvorsorge anheimgestellt wird.
Wie gesund will ich leben? Was tue ich dafür? Will ich mich für Eventualitäten absichern, die nicht über die staatliche Versorgung gedeckt sind? Was investiere ich als Privatperson aus dem Bestand meines Lebens dafür? – Diese Fragen obliegen nicht nur individueller Entscheidungen, sondern sind an die Gesetzeslage gebunden. Letztendlich daran, was der Staat als Regelleistung über die Krankenkassen (bei allen Unterschieden en détail zwischen ihnen) übernimmt, was nicht.
Es geht darum, was den Kernbereich oder den ersten „Gesundheitsmarkt“ ausmacht, wo es auch laut Bundesministerium um die „klassische“ Gesundheitsversorgung ginge – größtenteils finanziert von den Krankenversicherungen sowie der Pflegeversicherung. Dem liegt dann in der Tat ein essentiell politischer Aushandlungsprozess zugrunde, der sich über gesellschaftliche Mehrheiten an der Frage entscheiden wird, wie solidarisch oder individualistisch wir sein wollen, können, müssen.
Bedeutung der regionalen Wirtschaft im Bereich des Gesundheits- und Sozialwesens
Unabhängig von gesellschaftspolitischen und ethischen Fragen: die Studie der IHK belegt nachdrücklich und unterfüttert mit sorgfältig aufbereitetem Datenmaterial die Bedeutung der Gesundheitswirtschaft als Generator von Wertschöpfung und Bestandssicherung für Beschäftigungsverhältnisse in und um Dortmund.
Die hohe Dichte von medizinischen Versorgungseinrichtungen, gekoppelt mit einem vernetzten Forschungs- und Hochschulangebot, schließlich die guten Verkehrsanbindungen u.a. zeigen Wachstumspotential an.
Herausforderungen in der Gesundheitsbranche werden seitens der beiden Autoren insbesondere im Zusammenhang mit digitalen Innovationen gesehen. Da wäre etwa das Problem der Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung und vor allem das der Akzeptabilität, wenn es um Transparenz und Sicherheit im Umgang mit persönlichen Daten geht, die aus der Intimsphäre eines Menschen herrühren und niemals in falsche Hände geraten dürfen.
Insbesondere, wenn durch Digitalisierung die Möglichkeit besteht, einzelne Datensätze zusammenzuführen (elektronische Krankenakte, Gesundheitskarte, etc.). Ein immenser Vorteil vor allem bei chronisch Kranken mit multiplen Diagnosen für fachgerechte Indikationsstellungen wie für die Wirtschaftlichkeit von Ablaufprozessen in der medizinischen Versorgung.
Aber auch ein gefährliches Einfallstor für Missbrauch. Denn die allseits geforderte und gepriesene Vernetzung von Akteuren und Informationsbeständen verschafft eben auch unlauteren Absichten eine ungeheure Macht, gibt es einmal Zugänge ins interne Netz.
Weitere Informationen:
- Studie der Industrie- und Handelskammer zu Dortmund: Die Gesundheitswirtschaft. Eine zukunftsorientierte Wachstumsbranche im Westfälischen Ruhrgebiet; hier:
- Bundesministerium für Gesundheit (BfG) – Gesundheitswirtschaft im Überblick; hier:
- BfG – Bedeutung der Gesundheitswirtschaft; hier:
- Elektronische Patientenakten. Einrichtungsübergreifende Elektronische Patientenakten als Basis für integrierte patientenzentrierte Behandlungsmanagement-Plattformen (Studie im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung), hier:
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Gesundheitswesen – ein stark wachsender und hochmoderner Dienstleistungsbereich: Hybrid-Lehrgang „Geprüfter Fachwirt/-in im Gesundheits- und Sozialwesen“ (PM IHK)
Die Weiterbildung der Industrie- und Handelskammer (IHK) zu Dortmund bietet ab dem 25. Oktober 2024 den neuen Hybrid-Lehrgang „Geprüfter Fachwirt/-in im Gesundheits- und Sozialwesen“ an. Der IHK-Abschluss bietet eine vielfältige Entwicklungs- und Karrieremöglichkeit für Personen mit Berufserfahrung aus kaufmännischen, organisatorischen, verwaltenden Bereichen des Gesundheits- und Sozialwesens, welches dem Niveau eines Bachelor-Abschlusses entspricht. Das Angebot umfasst rund 596 Unterrichtseinheiten in einem Zeitraum von zwölf Monaten. Die Teilnehmer nehmen flexibel in Präsenz vor Ort oder live online über eine digitale Plattform am Unterricht teil. Die Lehrgangskosten in Höhe von 3.300 Euro können über das Aufstiegs-BAföG gefördert werden. Anmeldeschluss ist der 11. Oktober 2024. Weitere Infos zu den Unterrichtszeiten, Inhalten und Voraussetzungen unter http://www.ihkdo-weiterbildung.de. Ansprechpartnerin ist Sabrina Schnell, Telefon 0231 5417-421, E-Mail: s.schnell@dortmund.ihk.de.