30 Jahre Deutsche Einheit: „Flucht im deutsch-deutschen Verhältnis – Wie ist es, alle hinter sich zu lassen? ist das Thema eines Zeitzeugengesprächs mit Sigrid Richter und Michael Schwerk am Dienstag in der Auslandsgesellschaft. Wir haben vorab mit Sigrid Richter gesprochen.
Von Anastasia Zejneli
Sie saß am Frühstückstisch und machte sich etwas zu essen, noch nicht ganz angezogen und freudig auf den Tag. Es sollte nach Dresden in die Innenstadt gehen. Der Mann hatte schon früh das Haus verlassen, um zur Arbeit zu fahren. Er war Zahnarzt, nicht weil das sein Traum gewesen war, sondern weil es das war, was er im Sozialismus machen durfte. Studieren durften nicht alle, schon gar nicht was sie wollten. Sigrid Richter wollte nach ihrem Abitur Psychologie studieren, auch das blieb ihr verwehrt. Sie wurde stattdessen Lehrerin.
„1984 und 1985, da hat man sich noch nicht aufgelehnt, man wäre einfach allein gewesen.“
Doch heute an diesem Morgen dachte sie nicht an diese Probleme, sie wollte sich schnell anziehen und losgehen als es an der Tür klopfte. Sie erwartete niemanden, doch machte die Tür einen Spalt auf. Eine Frau und ein Mann im Ledermantel standen davor. Sie wurde panisch. ___STEADY_PAYWALL___
„Ich bin noch nicht angezogen!“, rief sie und die Tür fiel krachend ins Schloss. Sie wusste es in dem Moment, als sie die beiden vor der Tür gesehen hatte. „Wie man es sich immer vorgestellt hat, in ihrem Ledermänteln standen sie da und ich wusste, dass mich die Stasi abholt.“
Es war das letzte Mal, dass sie ihr Haus gesehen hat. 21 Monate saß Sigrid Richter als Republikflüchtling im Gefängnis- ohne dass sie jemals versucht hatte zu fliehen.
„Wir stehen nicht am Abgrund, wir sind schon einen Schritt weiter.“
Sigrid Richter und ihr Mann Rainer lebten zusammen mit ihrem Sohn Thomas in Freital, Sachsen. Während Sigrid sich nie aktiv gegen das System aufgelehnt hatte, war Rainer von klein an politisch geprägt. Ihm gefiel die prekäre Lage in der DDR nicht.
„Es gab keine Goldfüllungen, es gab keine Kronen und er ist nicht Zahnarzt geworden nur um Löcher zu verschließen.“ Sigrid, die Kunsterziehung und Deutsch unterrichte, sagt über die damalige Zeit „Es war schwierig die Schüler anzulügen, sie merken, wenn man schwindelt.“ Einmal hatte Sigrid sich nicht zurückhalten können.
„Wir lasen uns die Wochenzeitung durch und es ging darum, dass es der DDR vorne und hinten an Ressourcen mangelte und wir dem Ende nahten. Da konnte ich es mir nicht verkneifen und meinte: Wir stehen nicht am Abgrund, wir sind schon einen Schritt weiter.“ Heute lacht sie darüber, nur eine Schülerin hatte wirklich verstanden, was das bedeutet hatte und ihre Mutter rief Sigrid am Abend an. Mehr ist jedoch nicht passiert.
Das erste Mal ein Gefühl von Freiheit? Das war der Zelturlaub in Ungarn.
Auch wenn Sigrid sich durch ihren Mann politisiert hatte, blickt sie meist ungläubig auf die Zeit zurück. „So vieles was damals passierte, haben die normalen Bürger nicht mitbekommen.“ In der Schule las man nur DDR- Literatur. Das erste Mal ein Gefühl von Freiheit? War der Zelturlaub in Ungarn. Mit der Zeit beschlossen sie, dass die DDR nicht mehr ein geeignetes zu Hause war.
Illegal über die Grenze fliehen, wollten sie nicht. Zu große Angst um den damals neunjährigen Thomas.“ Wir glaubten damals an die Rechtstaatlichkeit der DDR und die Möglichkeit auszureisen. Wir beriefen uns auf das Helsinki-Abkommen und beantragten eine Ausreisegenehmigung.“
In der „Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (KSZE) in Helsinki im Jahr 1975 unterzeichnete unter anderem auch die DDR eine Schlussakte, in der sie sich auch zur Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten bekannte. Doch der Antrag der Richters wurde abgelehnt. „Wir saßen sechs Monate auf gepackten Koffern und hofften jeden Moment ausreisen zu können.“ Ein Zurück gab es nicht- Sigrid hatte ihren Job als Lehrerin gekündigt, ein sehr ungewöhnlicher Schritt zu der Zeit. Die Richters wollten gehen. Doch keiner ihrer Anträge wurde bewilligt.
Sigrid Richter: „Die Stasi hatte uns über Monate hinweg beobachtet.“
Es war der 8. März 1985 als eines Abends ein junger Mann vor ihrer Haustür stand. Ihr Mann meinte einen fränkischen Dialekt erkannt zu haben. Er kam mit einem Brief von Freunden aus dem Westen. Freunden denen sie vertrauten. Und einem Angebot.
Sie sollten mit dem Auto über die Grenze geschleust werden. Erst nach Ostberlin, dann über die Autobahn- zu dritt in einem Kofferraum. Sigrid hatte Angst und Zweifel. Sie hatten doch einen so jungen Sohn, ihr Mann war jedoch überzeugt.
„Der Fremde redete sehr eindringlich auf uns ein. Wir waren verzweifelt, wussten nicht wann wir hier rauskommen würden.“ Sie sagten dem Fremden zu, doch diskutierten die ganze Nacht weiter. Am nächsten Morgen entschieden sie den Plan abzusagen. Im Nachhinein hätten sie den Mann anzeigen müssen- denn so hatten sie sich strafbar gemacht. Familie Richter war kriminalisiert. Und wurde seit dem ersten Antrag von dem Staatssicherheitsdienst beobachtet.
„Erst im Nachhinein, Jahre später hatten wir die Möglichkeit unsere Akten durchzusehen. Die Stasi hatte uns über Monate beobachtet.“ Rainer begleiteten sie zur Arbeit, der Direktor- Jahrelang Sigrids Vorgesetzter- entwendete im Sportunterricht den Schlüssel aus der Tasche des Sohnes. Innerhalb einer Stunde machten sie eine Kopie und legten ihn zurück. Während das Ehepaar im Rat des Kreises ihr Anliegen zur Ausreise schilderte, durchsuchten die Beamten ihre Wohnung. „Man muss sich überlegen wie viel Macht die Stasi damals hatte, dass sie den Direktor der Schule dazu bewegen konnten, den Schlüssel aus der Tasche zu entwenden.“
Am 20. März 1985 wird Sigrid Richter festgenommen
Am 20. März 1985, es ist nicht mal zwei Wochen her, dass der Fremde vor der Tür stand, wird Sigrid Richter festgenommen. Während sie am Frühstückstisch saß und sich über das Klopfen an der Tür wunderte, war ihr Mann längst an der Bushaltestelle abgefangen worden- der gemeinsame Sohn schon auf dem Weg in ein Kinderheim.
Sie wusste nichts von der Überwachung und plädierte für ihre Unschuld. „Ich dachte bis dahin, dass ich nichts falsch gemacht habe. Ich hatte nie einen Fuß über die Grenze gesetzt.“ Bis heute weiß sie nicht, wer der Fremde an ihrer Tür war. Ob er für die Stasi arbeitete oder erpresst wurde ist bis heute unklar. Er kam nie in einer Akte vor.
Doch der Staatssicherheitsdienst wusste Bescheid und verurteilte das Ehepaar. Sigrid wurde in das „Frauenzuchthaus Hoheneck“ gebracht, das berüchtigtste Frauengefängnis der DDR. „Ich konnte nicht fassen was passiert war, aber ich hatte Hoffnung, ich wusste, dass ich rausgekauft werden könnte.“ Sie durfte Kontakt zu Dr. Wolfgang Vogel aufnehmen, der Ostberliner Anwalt, der zu DDR-Zeiten den Freikauf von tausenden Häftlingen und Kindern organisierte.
„Man machte keinen Unterschied zwischen politischen Flüchtlingen und den wirklichen Kriminellen.“
Auch wenn ihre Zeit absehbar war, war es die Hölle für Sigrid Richter. „Ich habe Todesängste durchstanden. Man machte keinen Unterschied zwischen politischen Flüchtlingen und den wirklichen Kriminellen.“ Sie durfte Kontakt zu ihrem Sohn haben und ihm Briefe schreiben, jedoch durfte nur die Schwiegermutter Sigrid besuchen.
„Die Besuche haben mich besonders fertig gemacht. Sie rissen mich aus dem Alltag, den ich mir aufgebaut hatte.“ Zu acht teilten sich die Frauen eine Zelle, dort lernte sie Irmchen kennen. Sie wurde schnell zu Sigrids Vertrauensperson. „Wir redeten Nächte lang.
Für mich hätte es jeden Moment so weit sein können, daher hatte Irmchen immer unser gemeinsames Geld bei sich getragen.“ Sie passten auf einander auf, denn Prügeleien waren nicht selten.
Am 30. Oktober 1986 kaufte die Bundesregierung Sigrid Richter frei, wenige Tage später durfte sie ausreisen. Auch Irmchens Entlassungstag war für wenige Monate später angesetzt. Ihr Mann verließ zum selben Zeitpunkt die Haftanstalt.
Es war 16.05 Uhr am 4. November 1986. Sigrid Richter war frei.
„Ich weiß wie wir alle in einem Bus saßen, von Wachsoldaten umgeben. An jeder Autobahnausfahrt stand Polizei. Ich wusste nicht, ob sie Angst hatten, dass wir aussteigen wollten oder dass andere einsteigen wollten.“
Kurz vor der Grenze stiegen die Wachen aus, Sekunden später rasten sie über die Autobahn, die Grenzpfeiler verschwanden hinter ihnen. „Ich begrüße sie in der Bundesrepublik Deutschland“, rief der Busfahrer. Es war 16.05 Uhr am 4. November 1986. Sigrid Richter war frei.
Seit 2008 besucht sie im Rahmen des Zeitzeugen Projekts der Ruhr Uni Bochum Schulen und berichtet über die Zeit in der DDR. „Junge Leute sollten wissen, dass nichts vom Himmel gefallen ist.“
Einen Ratschlag an ihr damaliges Ich hat Sigrid Richter auch: „Wie kann man so blöd sein? Ich hatte Abitur und studiert und hatte trotzdem nicht verstanden, was hinter den Kulissen geschehen ist.“
Sie lacht und weiß sie hat in Irmchen eine Freundin fürs Leben gewonnen und ganz viel Wertschätzung für die heutige Zeit.
Reihe 30 Jahre Deutsche Einheit
- Mo 05.10.20, 18:30 Uhr
Vom Grenzsoldat zum ersten freigewählten Oberbürgermeister in Zwickau
Moderation: Erich G. Fritz
Der ehemalige Oberbürgermeister der Dortmunder Partnerstadt Zwickau Rainer Eichhorn berichtet von seinem bewegten Leben als Teil der deutsch-deutschen Geschichte.
- Di 06.10.20, 18:30 Uhr
Flucht im deutsch-deutschen Verhältnis – Wie ist es, alle hinter sich zu lassen?Zeitzeugengespräch mit Sigrid Richter, Michael Schwerk
Flucht ist nicht nur ein Phänomen, was die Anderen betrifft, sondern auch hautnah in der eigenen Geschichte zu finden ist. Wir wollen erinnern an die Flucht aus der DDR – von Menschen, die nach Prag geflohen sind oder aber direkt den Weg über die Mauer gefunden haben. Aber auch, was schon der Verdacht Republikflucht bedeutete. Sigrid Richter, die drei Jahre ins Gefängnis musste wegen „Republikflucht“, ohne dass sie je ihre Wohnung verlassen hätte um zu fliehen. Michael Schwerk, mit der S-Bahn aus der DDR geflüchtet, Mauerspringer.