16 Jahre macht Michael Schliesser nun Zeitzeugengespräche über den Holocaust, sein Leben und Leiden als jüdischer Junge im Ghetto und Lager. Erstmals ist er in Dortmund, um über seine Erlebnisse in Westerbork zu berichten. „Ich will nur mal eben die Namen der Dortmunder Opfer sehen, vielleicht kenne ich ja wen“, sagt er den Organisatoren von IBB und Jugendring und geht zu den Stellwänden. Dort trifft es ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel: Klaus Weinberg, sein bester Freund aus Kindertagen, steht auch auf der Liste der ermordeten Juden aus Dortmund.
Traurige Gewissheit in Dortmund – nach 69 Jahren
„Er war mein bester Freund im Lager. Ich habe gar nicht gewusst, dass er aus Dortmund war“, gesteht der 75-Jährige. Geboren am 10.01.1938, wohnhaft am Ostwall 58. Seine Eltern flohen mit ihm nach Holland und wurde dort gefasst. Drei Jahre verbrachten sie in Westerbork. Drei Jahre, in denen Klaus und Micha beste Freunde waren. Plötzlich war Klaus verschwunden. Jetzt hat Schliesser traurige Gewissheit: Im Alter von nur sechs Jahren endete das Leben seines Freundes – Klaus wurde am 7. Juli 1944 von Nazischergen in Auschwitz ermordet.
Deutsche Antifaschisten als Lebensretter für holländische Juden
Von Klaus erzählt er in Dortmund, vom Leben im Lager in Holland, von der Verfolgung der Juden. Sichtlich bewegt verfolgen die Dortmunder Jugendlichen seinen Zeitzeugenbericht in der Jugendkirche in der Dortmunder Nordstadt.
Dabei stand Schliesser jedoch nicht allein: Mirjam Ohringer, 89, berichtete ebenfalls aus ihren Erfahrungen. Sie war als Jugendliche im Widerstand gegen die Nazis aktiv. Doch auch ihre Einblicke überraschten: „Die deutschen Antifaschisten – die Verfolgten der ersten Stunde – haben uns alles beigebracht“, erzählt sie. „Sie haben uns damit das Leben gerettet.“ Sie überlebte die Judenverfolgung und berichtet nun seit 1977 von der Zeit.
Dankbarkeit der Überlebenden für jugendliches Engagement
Ihre Berichte sind lebendige Zeugnisse des dunkelsten Kapitels deutscher Geschichte. Doch die holländischen Gäste waren zugleich dankbar, dass sich Dortmunder Jugendliche so intensiv um die Erinnerung der ermordeten jüdischen Kinder und Jugendlichen kümmern.
Mehr als 200 junge Leute aus Dortmund und Castrop-Rauxel haben seit März 2013 intensiv die Schicksale der Kinder von Westerbork erforscht, Gedenkstätten in den Niederlanden und Polen besucht und bisher unbekannte historische Quellen gesichert. Zum Abschluss dieses Projekts luden die Initiatoren – das Internationale Bildungs- und Begegnungswerk e. V. in Dortmund und der Jugendring Dortmund – zu einem Projekttag ein.
„Für die Kinder von Westerbork“ erinnert an Massenmord
Die beiden Zeitzeugen sowie Eva Weyl, Überlebende des Lagers Westerbork, waren zuvor zu Gast in mehreren Dortmunder Schulen. Sie richten den Fokus auf 1145 Kinder und Jugendliche aus dem heutigen Nordrhein-Westfalen, die im Mai und Juni 1943 aus dem Übergangslager Westerbork in den besetzten Niederlanden verschleppt, nach Sobibór (heute Polen) verbracht und kaltblütig ermordet wurden. An diese Massenverschleppung erinnert das gemeinsame Projekt „Für die Kinder von Westerbork“.
Erfolgreiche Spurensuche gegen das Vergessen – in Deutschland und Holland
Ziel der Veranstaltungsreihe war und ist es, die Kinder und Jugendlichen des Lagers in Westerbork vor dem Vergessen zu bewahren.
„Es war für die Jugendlichen und für uns Begleiter einmal mehr sehr interessant festzustellen, dass sich heute noch viele Hinweise finden auf die Schicksale dieser Kinder“, berichtet Andreas Roshol vom Jugendring, der das Projekt gemeinsam mit Heiko Hamer vom IBB Dortmund konzipiert und begleitet hat. Das Recherche-Team hatte unter anderem ein Poesiealbum eines Kindes für die Nachwelt sichern können, dessen Einträge beklemmend klar die Sorge und Not der verfolgten jüdischen Kinder spiegelt.
„Zug der Erinnerung“ motivierte 200 Dortmunder Jugendliche zur Teilnahme
Aufgerüttelt durch die ersten Informationen im „Zug der Erinnerung“ nutzten insgesamt mehr als 200 Jugendliche aus Dortmund und Castrop-Rauxel die Gelegenheit, sich intensiver mit diesem Kapitel der Geschichte zu beschäftigen.
Ein Teil besuchte das frühere Durchgangslager Westerbork in den Niederlanden, andere nutzten die insgesamt drei Gedenkstättenfahrten nach Amsterdam. Einige Jugendliche aus Dortmund gedachten in Westerbork der Opfer, andere nahmen an der offiziellen Gedenkfeier zum 70. Jahrestag des Aufstandes von Sobibór in Polen teil.
„BotschafterInnen der Erinnerung“ beeindrucken die Überlebenden
Michael Schliesser haben seine Treffen mit den Dortmunder Jugendlichen gut gefallen. Zwei Gruppen der „BotschafterInnen der Erinnerung“ hatte er zuvor in den Niederlanden getroffen. „Ich habe noch nie solch interessierte Jugendliche getroffen“, räumt er ein. Daher habe er gerne die Einladung nach Dortmund eingenommen. „Es war mein erster Zeitzeugenbesuch in Deutschland.“ Bereut hat er den Besuch nicht, auch wenn er hier traurige Gewissheit über das Schicksal seines damals besten Freundes bekommen hat.
Mirjam Ohringer kann Michas Gefühle gut verstehen – auch wenn die Befreiung von der Nazi-Herrschaft nun schon 68 Jahre her ist: „Für uns bleibt es wie gestern“, sagt die Jüdin. Sie kann und sie will nicht vergessen: „Die Treffen mit den jungen Menschen bedeuten mir sehr viel“, sagt sie bei der Veranstaltung in der Nordstadt. „Das gibt mir die Hoffnung, dass es eine andere deutsche Generation ist, die Lehren aus der Vergangenheit zieht.“
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Jugendliche werden Botschafter der Erinnerung: Wichtiger Einsatz gegen das Vergessen und für die Menschenrechte | Nordstadtblogger
[…] IBB und Jugendring organisieren Gedenken: Gegen das Vergessen […]
IBB: Projekt „Erinnern-inklusiv “ – Taube Juden und der „Deaf Holokaust“ (PM)
Über die noch wenig erforschte Geschichte tauber Juden und tauber Nationalsozialisten berichtet der Historiker und Pädagoge Mark Zaurov in der Online-Session am Freitag, 9. Juni 2023 vom 17 bis 19 Uhr im Rahmen des deutsch-polnischen Kooperations- projekts „Erinnern-inklusiv“. Anmeldungen sind ab sofort möglich.
Taube Juden waren in der NS-Zeit eine doppelt gefährdete Minderheit: Durch ihre ethnische und religiöse Zugehörigkeit wurden sie verfolgt und deportiert. Zudem wurden sie wie Men- schen mit geistiger Behinderung behandelt, denen entsprechend der NS-Rassenlehre Zwangssterilisation oder Krankenmord im Rahmen der „Aktion T4“ drohte.
Ihre Sinnesbeeinträchtigung konnten viele Gehörlose jedoch geschickt verschleiern. In den Konzentrationslagern wurden sie dann meist als arbeitsfähig eingestuft, was ihre Chance zu überleben erhöhte. Doch sobald ihre Taubheit erkannt wurde, drohte die sofortige Ermordung. Bekannt ist dies nur durch die wenigen Überlebenden, deren Geschichte lange nicht erforscht wurde. Meist reichte eine falsche Reaktion auf Fragen oder Befehle der Aufseher, um sofort erschossen zu werden.
Der Historiker und Pädagoge Mark Zaurov berichtet über seine Forschung zum Deaf Holokaust und Deaf Studies. Er referiert außerdem im Zusammenhang mit dem Art. 30, Abs. 4 der UN-Behindertenrechtskonvention über die Förderung der Gehörlosenkultur, die für eine paritätische Erinnerungskultur vonnöten ist. Mark Zaurov hat an der Universität Hamburg Geschichtswissenschaften, Pädagogik und Gebärdensprache studiert und promoviert interdisziplinär über taube Juden in Kunst, Politik und Wissenschaft vom 19. bis zum 21. Jahrhundert.
Das Online-Meeting am Freitag, 9. Juni 2023, von 17 bis 19 Uhr ist offen für alle Interessierten.
Die Teilnahme ist dank EU-Förderung unentgeltlich. Nähere Informationen und den Link zur Anmeldung finden Sie unter http://www.ibb-d.de bzw. hier: https://t1p.de/ij2bb
Das deutsch-polnische Partnerschaftsprojekt „Erinnern-inklusiv“ organisiert die IBB gGmbH in Dortmund gemeinsam mit dem Museum Stutthof in Polen und dem Verein Schwarzenberg e.V. in Berlin. Das Projekt wird im Rahmen des EU-Programms „Bürger, Gleichberechtigung, Rech- te und Werte“ gefördert.
Über das IBB Dortmund:
Grenzen überwinden – dieser Leitgedanke ist für das Internationale Bildungs- und Begeg- nungswerk Vision und Lösungsmodell, Ziel und Mittel seiner Arbeit. Weiterbildung und in- ternationale Begegnungen sind seit 1986 die bewährten Markenzeichen des IBB in Dortmund.
Das IBB e.V. ist zertifizierter Träger der Erwachsenenbildung und der politischen Bildung sowie anerkannter Träger der Jugendhilfe. Die IBB gGmbH betreibt zusammen mit belarussischen Partnern die Internationale Bildungs- und Begegnungsstätte „Johannes Rau“ in Minsk.
Seit 2016 ist die IBB gGmbH vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend anerkannte Zentralstelle zur Förderung von Gedenkstättenfahrten.