Von Alexander Völkel
Hartmut Anders-Hoepgen ist eines der bekanntesten Gesichter des Engagements gegen Rechtsextremismus sowie für Vielfalt und Demokratie in Dortmund. Nach zwölf Jahren in exponierter Position geht er in den Ruhestand. Erneut. Denn seine Aufgabe als ehrenamtlicher Sonderbeauftragter hat er erst im Ruhestand angetreten. Doch nun – mit 75 Jahren – soll endgültig Schluss sein.
Die Beauftragung warf die Ruhestandsplanung komplett über den Haufen
An die Anfänge denkt Anders-Hoepgen mit einem Schmunzeln zurück. Der damalige Superintendent und Vorstandsvorsitzende der Vereinigten Evangelischen Kirchenkreise für Dortmund und Lünen stand wenige Tage vor seiner Pensionierung, als ihn in seinem Büro ein Anruf aus dem OB-Büro erreichte.
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Der Oberbürgermeister bittet um ein Gespräch. „Frag bitte Jürgen Lembke“, sagte Anders-Hoepgen mit Blick auf seinen designierten Nachfolger. „Ich bin doch quasi schon weg.“ Aber der Dortmunder OB wolle den künftigen Ruheständler sprechen.
Dieses Gespräch mit dem damaligen Oberbürgermeister Dr. Gerhard Langemeyer warf die ganze Ruhestandsplanung über den Haufen. Dieser wollte ihn als ehrenamtlichen Sonderbeauftragten der neu zu schaffenden „Koordinierungsstelle für Vielfalt, Toleranz und Demokratie – gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus“, die im Rathaus direkt im Bereich des Oberbürgermeisters angesiedelt werden sollte.
Der damalige Stadtdirektor und heutige OB Ullrich Sierau hatte Langemeyer den Vorschlag gemacht. Der Superintendent war dem damaligen Planungsdezernenten als engagierter Streiter im Gestaltungsbeirat aufgefallen.
Rat beschließt 2007 einen lokalen Aktionsplan für Vielfalt, Toleranz und Demokratie
Am 13. September 2007 gab der Rat der Stadt Dortmund der Verwaltung den Auftrag, einen lokalen Aktionsplan für Vielfalt, Toleranz und Demokratie zu erstellen. Der Grund waren die zunehmenden Aufmärsche und Aktionen von Rechtsradikalen und Neonazis, denen sich die Stadt in den letzten Jahren ausgesetzt sah und die sie zur Zielscheibe einer lebensfeindlichen und menschenverachtenden Ideologie machen.
Diese Arbeit dagegen zu organisieren, damit sollte eine Persönlichkeit der Zivilgesellschaft betraut werden. Anders-Hoepgen war ein bekanntes Gesicht, eine respektierte Persönlichkeit, gut vernetzt, parteipolitisch ungebunden, aber durchaus sehr politisch.
„Ich war noch nicht ganz verabschiedet, als die Anfrage kam“. Eigentlich hatte sich Hartmut Anders-Hoepgen geschworen, ein Jahr lang gar nichts zu machen. „So lange können wir aber nicht warten. Das muss jetzt sein“, macht die Stadtspitze ihm eindringlich deutlich. Also rang Anders-Hoepgen mit sich und seiner Familie. Dann sein Entschluss: „Ich mache es.“ 15 Stunden die Woche wollte der frisch gebackene Pensionär für sein neues Ehrenamt aufbringen.
Anders-Hoepgen fiel seine Entscheidung eigentlich nicht schwer. Denn gleich drei Komponenten – eine biografische, eine theologische und eine politische – sprachen dafür. Diese drei gehören für ihn zusammen. „Ich bin 1944 geboren. Mein Vater war schon tot, als ich geboren wurde. Das hat mich beschäftigt“, berichtet der heute 75-Jährige.
„Mein Adoptivvater hatte ein Jahrzehnt in Gefangenschaft verbracht. Ich war fünf oder sechs Jahre alt, als er in die Familie kam. Er war gezeichnet vom Krieg und den Folgen und ich habe die zertrümmerten Städte gesehen.“
„Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus“ als persönliche Maxime
Das hat den Westfalen geprägt und seine politische Achtsamkeit und Wahrnehmung geprägt. Die Maxime „Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus“ prägte, auch aus theologischer Sicht. Denn er wurde früh christlich sozialisiert. Seine kritische Haltung zu seiner evangelischen Kirche hat er sich zeitlebens behalten. Trotz vieler „kritischer Phasen“ habe er immer Theologe werden und sein wollen. Doch auch die Auseinandersetzung und Aufarbeitung der „unrühmliche Rolle insbesondere der Kirche im Dritten Reich“ war ihm ein Herzensanliegen.
„Die Kirchen haben insgesamt zu wenig zum Widerstand beigetragen“, sagt er selbstkritisch, ohne die Menschen damals zu verurteilen. „Ich vermag nicht zu urteilen, wie ich mich selbst verhalten hätte“, so Anders-Hoepgen. Doch die Entstehung der neuen Bundespolitik mit seinen Verfassungsorganen hat ihn schon als Junge interessiert. „Das tut es heute noch.“ Die Demokratie ist ihm wichtig. „Ich bin nie einer Partei beigetreten, aber dennoch ein sehr politischer Mensch.“
Vor allem die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948, beschlossen von den Vereinten Nationen, die den größtmöglichen Schutz aller Menschen im Hier und Jetzt gewährleisten soll, ist ihm wichtig. „Da ist viel vom christlich-ethischen Hintergrund eingeflossen. Die Menschenrechte sind für mich die überzeugendste Grundlage. Dafür lohnt es sich einzusetzen, zu kämpfen und nicht nur zu beklagen, dass sie in Gefahr sind oder abgeschafft werden sollen.“
„Da sind wir schon nah am Thema Rechtsextremismus“ sagt er und liefert einen der wichtigsten Gründe, warum er sich für die Übernahme des Ehrenamtes entschieden hat. „Meine Erfahrungen aus der Kindheit waren unglaublich. Und auch der Antisemitismus war Gesprächsthema in der Familie.“ Ihn treibt es auch heute noch – vielleicht mehr denn je – um, „was an Gedankenübel – ich sage Gedankenübel, nicht Gedankengut – wieder Anklang findet“, sagt er mit Blick auf Rechtsextremismus und Rechtspopulismus.
Rechtspopulismus als weiteres Handlungs- und Arbeitsfeld
Der Rechtspopulismus bereite dem Rechtsextremismus immer stärker den Weg. Das Ziel, die Demokratie als Ganzes abzuschaffen, werde immer deutlicher sichtbar. „Das ist ist die Motivation., die mich bewogen hat, die Beauftragung zu machen. Und jetzt auch so lange schon.“ Was allerdings auf ihn zukommen würde, hatte Anders-Hoepgen unterschätzt. Statt 15 Stunden pro Woche wurde es mehr als ein Vollzeit-Job. „Ich hatte keine Ahnung, was auf mich zukommen würde.“
Die Aufgabe war und ist groß, die der Rat mit seinem Aktionsplan 2007 auf den Weg gebracht und seitdem mehrfach fortgeschrieben hat. Damals habe die Kommunalpolitik das rechtsextreme Problem unterschätzt oder verdrängt.
Dabei stand sie, die Stadt, aber nicht allein – auch bei Polizei und Justiz sowie beim BVB identifizierte Anders-Hoepgen seinerzeit dieselben Probleme. Es waren vor allem zivilgesellschaftliche Akteure und Gruppen, die vor dem wachsenden Problem warnten. Sie standen jedoch zumeist allein.
Daran sollte der Aktionsplan ansetzen. Doch vorgeschaltet wurde eine Analyse der Problemlagen des Rechtsextremismus in Dortmund. Aber fast noch wichtiger war, wie bestehende Strukturen und Aktivitäten gegen Rechts effektiv vernetzt, unterstützt und zielgerichtet ausgebaut wurden. Das Ziel war und ist ein umfassendes städtisches Handlungskonzept für Vielfalt, Demokratie und Toleranz.
Ein Schwerpunkt liegt dabei insbesondere in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Individuelle Prävention ist ein wichtiger Baustein des Aktionsplans. Vielfalt, Toleranz und Demokratie sind nicht selbstverständlich – sie sind immer wieder Angriffen ausgesetzt. Alle Bürgerinnen und Bürger sind gefordert, sich zu wehren und gemeinsam an einer vielfältigen Gesellschaft zu bauen.
Hauptamtliche Unterstützung wurde schrittweise ausgebaut
Die Arbeit hat sich entwickelt, auch ab Koordinierungsstelle, der Anders-Hoepgen vorsteht. Zunächst war es Uwe Büscher, der von Januar 2008 mit einer halben Stelle dem ehrenamtlichen Sonderbeauftragten zur Seite stand. Als Uwe Büscher nach nur wenigen Monaten in dieser Funktion eine neue Aufgabe bei den Dortmunder Stadtwerken übernahm, folgte ihm der Historiker Dr. Stefan Mühlhofer nach.
Das Besondere: Mühlhofer hatte rund drei Jahre lang (01.09.2008 – 31.12.2011) eine halbe Stelle in der Koordinierungsstelle sowie eine weitere halbe Stelle als Leiter der Mahn- und Gedenkstätte Steinwache. Damit gab es eine einmalige Verbindung in der Arbeit zwischen dem Gedenken und der Aufarbeitung des historischen Nationalsozialismus und der Arbeit gegen die heutigen Auswüchse – „Alter Hass in neuen Kleidern“.
Mittlerweile ist – nicht zuletzt wegen der erkannten Notwendigkeit und der vielfältigen Aufgaben – die hauptamtliche Struktur in der Koordinierungsstelle gewachsen. Seit April 2011 war es Birgit Miemitz und ab Mai 2013 verstärkt um Michael Plackert, die sich hauptamtlich um die Arbeit kümmerten.
Seit September 2018 wurde das Team mit Julian Becker verstärkt. Eine vierte Stelle ist in der Ausschreibung. Komplettiert wird das hauptamtliche Team durch Kim Wollnik. Sie ist externe Projektbegleitung für das Programm „Demokratie leben!“, bzw. „Partnerschaften für Demokratie“.
Durch das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ werden in ganz Deutschland Städte, Gemeinden und Landkreise unterstützt, um im Rahmen von lokalen „Partnerschaften für Demokratie“ Handlungskonzepte zur Förderung von Demokratie und Vielfalt zu entwickeln und umzusetzen. Auch Dortmund beteiligt sich daran.
Dortmunder Beratungsstelle für Opfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt eingerichtet
Was waren Meilensteine auf diesem Weg – in den 12 Jahren? Prägend waren die Anfeindungen gegen eine Dorstfelder Familie durch Neonazis im Jahr 2009, die anschließend sogar weggezogen ist.
Deren Gewalterfahrungen – manche subtil, manche offen körperlich – hatte die Stadt damals öffentlich gemacht. Für Hartmut Anders-Hoepgen waren sie mehr als ein Warnsignal. Sie gaben den Ausschlag, dass er sich mit Stefan Mühlhofer auf den Weg machte, um sich für eine Beratungsstelle für Opfer von rechtsextremer und rassistischer Gewalt einzusetzen.
Dies gelang 2011 – mit nachhaltigem Erfolg. Finanziert von Stadt und Land, arbeitet „Back-Up“ noch heute. Mittlerweile wurde die Arbeit auf Opfer von antisemitischer Gewalt erweitert – ebenfalls eine der negativen Entwicklungen, die auch in Dortmund leider zum Alltag gehören. Um diese Arbeit aber leisten zu können, brauchte es einen zivilgesellschaftlichen Träger für die Beratungsstelle. Bis ein eigens dafür gegründeter Verein dies übernehmen konnte – er musste erst gegründet werden – hatte „Der Paritätische“ diese Aufgabe übernommen.
„Back Up“ bietet eine Beratung für Opfer rechter Gewalt, deren Freund*innen und Angehörige sowie Zeug*innen. Das Team unterstützt u. a. bei rechtlichen, finanziellen und psychischen Fragen. Die Beratung ist kostenlos, vertraulich und parteilich. Die Berater*innen kommen an einen Ort, den die Betroffenen selbst bestimmen können.
2014 Vereinsgründung – „U-Turn“ bietet Aussteiger- und Präventionsberatung an
Im Januar 2014 konnte der Verein „BACKUP – COMEBACK – Westfälischer Verein für die offensive Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus e.V.“ die Trägerschaft für die Opferberatung übernehmen. Der Verein – ebenfalls unter Vorsitz von Hartmut Anders-Hoepgen – hat sich die offensive Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus in ganz Westfalen zum Ziel gesetzt.
Zu diesem Zwecke ist der Verein Träger zweier Projekte, die eine Bundes-, Landes sowie kommunale Förderung erhalten. Neben der Opferberatung „Back-Up“ unterhält der Verein die Aussteigerberatung „ComeBack“. Die Aussteiger- und Präventionsberatung „ComeBack“ will mit dem neuen Projekt „U-Turn“ Wege aus dem Rechtsextremismus und der Gewalt bereiten. Beratung, Begleitung und Prävention sind die Arbeitsschwerpunkte ab 2020.
Damit wird das Modellprojekt „ComeBack – You are not alone (CoBa-Yana)“ abgelöst. Das von der Stadt Dortmund mitgeförderte Projekt hat einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, zivilgesellschaftliche und städtische Akteure zu qualifizieren und zu beraten. Zudem wurden junge Menschen durch das Projekt beim Ausstieg aus der rechtsextremen Szene begleitet oder dabei unterstützt, alternative Lebensperspektiven zu entwickeln, um einen Einstieg in die Szene zu verhindern und stattdessen ein Teil unserer demokratischen Gemeinschaft zu werden.
Um auch zukünftig zu verhindern, dass junge Dortmunder*innen sich der rechtsextremen Szene anschließen, ist weiterhin ein qualifiziertes und gemeinsames Agieren städtischer und zivilgesellschaftlicher Akteure für Dortmund unerlässlich. Die Expertise des Vereins „BackUp – ComeBack e.V.“ und des Projekts „CoBa-Yana“ spielen in diesem Zusammenhang eine bedeutsame Rolle. Das Dortmunder Projekt hat – sehr zur Freude von Hartmut Anders-Hoepgen – den Zuschlag bekommen. Der Antrag seines Vereins wurde positiv beschieden. Eine Auszeichnung: Nur 100 Projekte bekamen grünes Licht – 900 wurden negativ beschieden.
Rechtspopulismus kam als weiteres Handlungsfeld in den Dortmunder Aktionsplan
Auch der Aktionsplan selbst ist für den Sonderbeauftragten ein Meilenstein – einer, der regelmäßig fortgeschrieben werden muss. „Er ist ein Handlungsprogramm für die ganze Stadt“, erklärt Anders-Hoepgen. Das Thema Rechtspopulismus ist neu hinzugenommen, ebenso wie die Bereiche Prävention und Öffentlichkeitsarbeit.
Fortgeschrieben wurde er „mit ganz starker Beteiligung der Zivilgesellschaft, der Fraktionen und der Stadtverwaltung“ betont er. Der Rat hat es beschlossen. Für ihn ist das auch eine Positionsbestimmung der Stadt und für die Stadt. „Unser Bestreben ist schon, dass wir uns daran orientieren, uns selbst hinterfragen und die Arbeit weiterentwickeln.
Klar ist für den scheidenden Sonderbeauftragten: „Es ist eine Arbeit, die weitergehen muss. Die Frage ist, ob uns das überfordert.“ Formuliert sind strategische Ziele, Maßnahmen und Vorschläge. Die Hoffnung: „Wenn die Vorschläge abgearbeitet sind, ist die Demokratie gewachsen und Rechtsextremismus verkümmert.“ Doch Anders-Hoepgen ist weder naiv noch blauäugig, auch wenn schon viel getan und erreicht wurde.
Hauptamtlichkeit ist notwendig und eine wichtige Unterstützung fürs Ehrenamt
Apropos Überforderung: „Die Zivilgesellschaft braucht Hauptamtlichkeit.“ Das ist eine wesentliche Erkenntnis der Arbeit.
„Die meisten machen das alles ehrenamtlich. Bei so einer Problemlage braucht es auch hauptamtliche Strukturen, die die Arbeit gegen Rechts unterstützen. Denn Dortmund ist noch immer ein Hotspot für Rechtsextremisten.“ Ihre Personenzahl ist nicht riesig. Doch sie verstünden es, die demokratischen Spielregeln für ihre Zwecke zu missbrauchen.
„Es ist nicht ausgeschlossen, dass es zu Ermüdungserscheinungen im ehrenamtlichen Bereich kommt. Die Hauptamtlichkeit – in Dorstfeld mit den beiden Quartiersdemokraten – ist ganz wichtig“, findet Anders-Hoepgen, dessen Koordinierungsstelle wesentlichen Anteil beim Aufbau dieser Strukturen hatte. Allerdings müsse man aufpassen, dass sich die Ehrenamtlichen nicht drauf verlassen, dass die Hauptamtlichen alles machen und man sich zurücklehnen könne.
„Das kann das Hauptamt alleine auch nicht leisten. Die Dorstfelder können stolz sein, was sie durchgehalten, getragen und ertragen haben. Der Widerstand gegen Raumkampf braucht Zivilcourage und Engagement“, so der Theologe. „Wir haben sie auch schon begleitet und die Geschäftsführung des Runden Tisches in Dorstfeld gemacht. Wir müssen aufpassen, dass die Arbeit nicht an wenigen hängenbleibt. Doch die beiden Teilzeitkräfte sind stabilisierende Elemente.“
Kampf gegen mediale Schlagzeilen als Kampf gegen Windmühlen
Apropos Widerstand: Bei den Schlagzeilen und Berichten über „Dortmund – Hochburg der Neonazis“ kommt dem ansonsten sehr ruhigen Kirchenmann fast schon die Galle hoch. „Wir sind eine Hochburg des Widerstands, nicht der Neonazis“ wird er nicht müde, in unzähligen Interviews zu betonen. Doch insbesondere bei überregionalen und internationalen Medien wird das nicht gehört.
Die meisten Journalist*innen reproduzieren nur die immergleichen Bilder, Stereotypen und Vorurteile. „Mir stinkt, wie schlecht Dortmund wegkommt und dargestellt wird. Klischees über das braune Dortmund – so ein Quatsch. Da ist Dortmund herausragend im Engagement“, zeigt sich der 75-Jährige auch nach zwölf Jahren im Amt kämpferisch.
Gründe zum Frust gab und gibt es viele: Ob Spiegel, New York Times oder Neue Züricher Zeitung – von seinen Statements findet er zumeist nichts wieder. Die Medien-Vertreter*innen würden nur ihre vorgefertigten Meinungen veröffentlichen. Die unzähligen Statements aus der Zivilgesellschaft, von Aktiven der Runden Tische und der Kommunalpolitik würden zwar gehört, aber nicht gewürdigt.
Auch mit dem WDR hat sich Anders-Hoepgen geradezu den Mund fusselig geredet, damit der Neonazi-Tatort nicht „Dorstfeld“ hieß – er ging dann letztendlich als „Hydra“ über den Sender. Mit der Geschichte war er dennoch nicht zufrieden. Auch hier zu viele Klischees und Stereotype. Aber das Thema „Tatort“ ist in Dortmund ja insgesamt ein kontroverses Thema…
Demokratisches Wirkungsdreieck aus Zivilgesellschaft, Kommune und Polizei
Davon wollten sich aber weder Anders-Hoepgen noch die zahlreichen anderen Aktiven entmutigen lassen. Denn sie haben – abseits der nationalen Schlagzeilen – viele Erfolge verbucht. Die Zahl der Runden Tische und Bündnisse hat zugenommen. Die Stärkung und vor allem die Vernetzung wurde deutlich verbessert.
Stichwort Vernetzungsgremien: „Das ist ein ganz wichtiger Punkt“, betont der scheidende Sonderbeauftragte. Der Begleitausschuss für die Koordinierungsstelle, der auch über die Projektanträge entscheidet, sowie die Akteurs- bzw. Demokratiekonferenzen sind für Anders-Hoepgen wichtig. Fast alle stadtgesellschaftlich wichtigen Akteure sind beteiligt. Selbst der BVB sitzt mit am Tisch.
Als Gast und Gesprächspartner sitzt er im Begleitausschuss hier hin und wieder am Tisch. Das Klima hat sich – nicht zuletzt unter Polizeipräsident Gregor Lange – gewandelt. Denn insbesondere Antifaschist*innen hatten häufig massive Kritik gegenüber der Polizei geäußert. Lange hatte sich dem gestellt und einen deutlichen Kurswechsel eingeleitet. Der restriktive Kurs, der Aufbau der „SoKo Rechts“ und das konsequente Einschreiten sorgten für Wirkung, findet Hartmut Anders-Hoepgen.
Nur so könne man im Kampf gegen Rechts erfolgreich sein. Denn das demokratische Wirkungsdreieck bestehe schließlich aus Zivilgesellschaft, Kommune und Polizei. Dazu gehört auch die Umgestaltung der großen „Nazikiez“-Graffiti. Diese waren nur durch einen gemeinschaftlichen Kraftakt möglich – und ein wichtiger symbolischer Schlag gegen den rechtsextremen Raumkampf sowie die Macht- und Besitzansprüche einer kleinen aber lauten Minderheit in Dorstfeld.
Justiz als schwieriges Handlungsfeld – Nicht-Verbot der NPD als negativer Meilenstein
In den letzten Jahren wanderte der Blick auf die Justiz als vierter Akteur. Denn dort kamen viele Verfahren gegen Neonazis ins Stocken oder gingen aus, wie das Hornberger Schießen. Auch das hat sich – zumindest auf lokaler Ebene – verändert. Hier gab es in den vergangenen vier Jahren zahlreiche Urteile gegen Neonazis.
Nur die Bewertung der höchsten juristischen Ebene in Karlsruhe fällt für den ehemaligen Superintendenten negativ aus. Und das, obwohl dieser seit Kindertagen höchsten Respekt für das Grundgesetz und seine Wächter hegt. „Einer der negativen Meilensteine ist das Nicht-Verbot der NPD. Es ist verheerend, wenn ein Bundesverfassungsgericht sagt, dass die Partei zwar gewalttätig, gewaltbereit und verfassungsfeindlich, aber unbedeutend ist“, kritisiert Anders-Hoepgen.
„Ich war seit meiner Kindheit stolz auf die Verfassungsgremien und bin es immer noch. Offenbar hat das Verfassungsgericht nicht abgeschätzt, was das Urteil für einen Einfluss auf die untergeordneten Gerichte hat. Da müsste man mal eine Doktorarbeit drüber schreiben.“
Für ihn sind nicht wenige Entscheidungen der Gerichtsbarkeit ein Schlag ins Gesicht – aber auch ein Spiegel der heutigen Gesellschaft. Die fehlende Würdigung der verheerenden Bedeutung von Nazi-Parolen, der Vernetzung der Szene und die isolierte Betrachtung von einzelnen Delikten statt einer ganzheitlichen Betrachtung und Einordnung seien ein Problem.
Anders-Hoepgen: „Rechtspopulismus hat dem Rechtsextremismus den Weg bereitet“
Doch Anders-Hoepgen zieht ein sehr positives Fazit: Er erlebe eine unglaubliche Wertschätzung dessen, was Zivilgesellschaft, Kommune und Polizei leisten. Doch gesamtgesellschaftlich sieht er eine wachsende Gefahr für Demokratie und Menschenrechte. Darauf machten die Koordinierungsstelle, wie auch sein Verein „Back-Up – ComeBack“ mehrfach aufmerksam. Das Thema Antisemitismus ist mittlerweile auch wieder stärker auf die Agenda gerückt.
Bereits vor drei Jahren gab es eine Fachtagung mit dem Thema „Der Wolf im Schafspelz – wie der Rechtspopulismus dem Rechtsextremismus den Weg bereitet.“ Die aktuellen Wahlen zeigten, dass der Satz stimme.
„Es hat schon mal eine Zeit gegeben, in der solche Entwicklungen zu gleichgültig hingenommen wurden. Gleichgültigkeit ist überhaupt nicht angebracht“, so Anders-Hoepgen. „Außerdem braucht es eine Wertschätzung, was die Zivilgesellschaft tut.“ Nicht nur die Wertschätzung, auch das gesellschaftliche Engagement müsse sich verdoppeln und verdreifachen.
Die Forderung nach mehr Engagement und Zivilcourage gelte für die Straße und im Netz. So blickt er freudig auf die 2000, die nach den Morden von Halle in Dortmund auf die Straße gegangen sind – nach einem gemeinsamen Aufruf aller Bündnisse. 2000 waren gut. Aber ich hätte gerne 5.000, 10.000 oder auch 20.000 gesehen. Das wäre ein Zeichen gewesen. Aber als Kirchenmann kenne ich mich ja mit leeren Kirchenbänken aus“, sagt Anders-Hoepgen.
#Ichbinhier“ – mehr Engagement und Zivilcourage im Netz und auf der Straße
Auch die mitunter wenig sozialen Netzwerke dürfe die Zivilgesellschaft nicht den Feinden der Demokratie überlassen. Man dürfe nicht wegsehen oder darauf hoffen, dass andere etwas machen. „Nein. Ich muss selbst machen. Ich kann mich nicht nur aufregen, sondern muss auch aktiv werden“, so Anders-Hoepgen.
„Diese Online-Medien haben ein solches Gewicht bekommen, dass es erforderlich ist, dass mehr Menschen mit demokratiebewahrenden Zielen da reingehen – Stichwort #Ichbinhier.“
Dazu passt auch das Thema der letzten Demokratie-Konferenz, zu der die Stadt am 27. Februar einlädt: „Couragiert. Demokratie. Stärken“ ist das Thema seiner letzten Fachtagung, auf der er auch verabschiedet wird. Es ist ein Appell für die wehrhafte Demokratie.
„Die Verfassung wurde kurz nach dem Krieg als eine wehrhafte gemacht, die sich gegen die, die ihr schaden wollen, wehren kann“, erinnert der 75-Jährige. Couragiert die Demokratie stärken und mehr Zivilcourage zeigen. Das ist sein Wunsch.
Mit 75 Jahren will der ehemalige Superintendent – gemäß der Kirchenordnung – sein Engagement reduzieren und sein Ehrenamt als Sonderbeauftragter aufgeben. „Ich gehe zufrieden raus, weil ich die Möglichkeit hatte, für eine wesentliche Aufgabe eines freien Bürgers, der die Demokratie und die Menschenrechte schätzt, arbeiten und eintreten zu können“, betont Hartmut Anders-Hoepgen.
„Ich hatte gehofft, dass es sich mit dem Rechtsextremismus in Dortmund erledigen würde. Da habe ich mich getäuscht. Umso stärker habe ich mich mit anderen zusammen engagiert. Und das sind viel mehr als die, die der Demokratie schaden wollen.
Anders-Hoepgen fordert die Berufung eines neuen ehrenamtliche Sonderbeauftragten
Mit seinem Ausscheiden ein halbes Jahr vor den Kommunalwahlen möchte er den Platz für eine mögliche Nachfolge frei machen. Für ihn ist es allerdings unabdingbar, dass es erneut eine*n ehrenamtliche*n Sonderbeauftragte*n geben wird – auch wenn die hauptamtliche Struktur gestärkt und ausgebaut wurde. Denn ein Beauftragter aus der Gesellschaft ist kein politischer Beamter, sondern hat einen hohen Grad an Freiheit.
„Er arbeitet zwar eng mit dem OB zusammen, aber er kann selber gehen und sagen, was er will. Unser Modell ist gut. Und ein Sonderbeauftragter wird heute mehr denn je gebraucht. Wir brauchen einen Menschen, der Netzwerk-Kettenglied zwischen Zivilgesellschaft und Kommune ist“, skizziert Hartmut Anders-Hoepgen die Anforderung. Insbesondere brauche der oder die Neue Zeit und Kapazitäten für diese Aufgabe.
Er ist gespannt, ob es eine Nachfolge gibt und wer ihn „beerben“ wird. Er selbst wird dann nicht weg sein, sondern wahrscheinlich auch im Begleitausschuss als Teilnehmer am Tisch sitzen. Denn Vorsitzender „seines“ Vereins „BackUp/ ComeBack“ will er vorerst noch bleiben. Dann wird er wohl dort noch mehr Zeit darauf verwenden, mehr Unterstützer*innen, Mitgliedsorganisationen und Aktive zu gewinnen. Niemals geht man so ganz…
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