76. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, 27. Januar 1945, Holocaustgedenktag. Am Mahnmal für die aus Dortmund zwangsdeportierten und ermordeten Sinti und Roma hat sich wie jedes Jahr eine kleine Gruppe von Menschen versammelt. Sie erinnern an einen entsetzlichen Teil der deutschen Geschichte, an die des Nazi-Regimes und seiner Verbrechen. Aber auch an die Ignoranz in der späteren Bundesrepublik im Umgang mit Überlebenden des „vagabundierenden Volks“. Daran, was einst mit Menschenverachtung, Hass, Rassismus ermöglicht wurde, in diesem „Fall“: Völkermord, nicht weniger. – Den Opfern zu Ehren hatten das Bündnis Dortmund gegen Rechts (BDgR), die Flüchtlingspaten und der VVN/BdA zu einer kleinen, aber würdigen Gedenkfeier aufgerufen. An jenem Stein, der den Ort markiert, von wo aus die „Rom“ – Frauen, Kinder, Männer – ins Konzentrationslager verschleppt wurden: dem ehemaligen Dortmunder Ostbahnhof.
Würdigung der Sinti und Roma, die dem rassistischen NS-Terror zum Opfer fielen
Es ist ein überschaubarer Kreis gleichsam „Unentwegter“, der sich bei feuchtkalter Witterung am Mahnmal für die Sinti und Roma eingefunden hat. Es müsste eigentlich empören, dass es so wenige sind. Etwa 25 Menschen, die sich hier am Rande der östlichen Innenstadt versammeln – Corona mit seinen Auflagen hin oder her. Denn auch ohne Pandemie wären es kaum mehr gewesen.
Immerhin, da ist eine kleine Anzahl Dortmunder Bürger*innen. Unentwegt sind sie – in der Tat: Jene, die noch einen Weg sehen, von dem sie sich nicht abbringen lassen. Und aus Überzeugung dafür einstehen. Am Schnittpunkt Weißenburger-/Gronaustraße, nahe dem alten Ostbahnhof, wo sich das bescheidene Mahnmal, die Stätte des Gedenkens an den Völkermord befindet.
Errichtet zu Ehren jener Menschen, die anders waren als das diffuse Bild vom Menschsein, das die Nazis mit ihrer borniert-verbrecherischen Ideologie der Welt aufoktroyieren wollten. Von hier zwangen die Schergen Hitlers 150 von ihnen, die zum „vagabundierenden Volk“ – den „Zigeunern“ – gerechnet wurden, am 9. März 1943 wie Vieh in Waggons, um sie zum Sterben von Dortmund ins Konzentrationslager nach Osten abzutransportieren. Konkret: Vernichtung durch Arbeit, Erschießungskommandos, Gaskammer.
Eine Gesellschaft muss sich an ihrem Umgang mit den Schwächsten in ihr messen lassen
Helmut Manz vom BDgR erinnert: „Am 8. Dezember 1938 stellte Himmler in einem Runderlass eine ‚Regelung der Zigeunerfrage aus dem Wesen dieser Rasse‘ in Aussicht. In diesem Erlass ist auch schon ausdrücklich von der ‚endgültigen Lösung der Zigeunerfrage‘ die Rede.“
Und appelliert: „Rom heißt Mensch. Einfach nur Mensch – ohne Habe, ohne Lobby, ohne Staat. Die Achtung der Roma ist der Prüfstein der Menschlichkeit. Damals und heute.“ Vermittelt so in einer bewegenden Rede nicht nur erinnerndes Gedenken. Sondern mahnt eine Gesellschaft, dass sie sich an ihrem Umgang mit den Schwächsten messen lassen muss.
Eine Gesellschaft, die teils nicht wirklich sehen will, bis heute. Der Blick des Redners richtet sich unvermeidlich auf die Gegenwart. Und darauf, dass niemand behaupten kann, es hätte keinerlei mahnende Erinnerung gegeben. Die kam einmal sogar von höchster Stelle.
Von „Wiedergutmachung“ konnte nach 1945 in der Bundesrepublik keine Rede sein
Am 16. März 1997 habe der damalige Bundespräsident Herzog den Forschungsstand in klare Worte gefasst: „Der Völkermord an den Sinti und Roma ist mit dem gleichen Motiv des Rassenwahns, mit dem gleichen Vorsatz, mit dem gleichen Willen zur planmäßigen und endgültigen Vernichtung durchgeführt worden wie der an den Juden.“ Auch hier, bei dieser Art von „Untermenschen“ arbeitete mithin alles in Richtung „Endlösung“.
Doch für die allermeisten Überlebenden seien solch deutliche Worte zu spät gekommen, konstatiert Helmut Manz, der selbst einmal für das Amt des Bundespräsidenten kandidierte. Auch nach 1945 wurden sie als „Asoziale“ und „Kriminelle“ stigmatisiert und schikaniert. Von „Wiedergutmachung“ habe keine Rede sein können. – Wobei klar sein muss: „wieder gutzumachen“ ist hier gar nichts mehr. Es geht um Anerkennung.
Doch davon war im Staate lange nichts zu spüren, im Gegenteil: Der Nazi-Völkermord an den Sinti und Roma – von ihnen selbst umschrieben mit dem Romanes-Wort „Porajmos“, das Verschlingen – sei in der Bundesrepublik, sei im „kollektiven Gedächtnis“ kaum präsent, konstatiert der engagierte Antifaschist. Kein Zufall. Die Opfer hatten über lange Zeit im Rechtsnachfolgestaat des deutschen Faschismus schlicht keine Stimme, die maßgeblich gehört wurde.
Von Bild kollektiv „minderwertiger Charaktereigenschaften“ zum Vernichtungswillen
So konnte über ein Jahrzehnt nach Kriegsende Unglaubliches geschehen. Manz – sichtlich ergriffen und mit immer wieder brüchig werdender Stimme – berichtet: „Noch 1956 rechtfertigte der Bundesgerichtshof den Naziterror vor 1943, weil er angeblich noch nicht rassistisch motiviert, sondern von den ,Zigeunern‘ selbst durch ‚eigene Asozialität, Kriminalität und Wandertrieb‘ veranlasst gewesen sei.“
In unerträglichem Herrenmenschenton sei den Opfern damit höchstrichterlich bescheinigt worden, dass ihnen, zitiert er, „vielfach die sittlichen Antriebe der Achtung vor fremdem Eigentum“ fehlten, „weil ihnen wie primitiven Urmenschen ein ungehemmter Okkupationstrieb eigen“ sei.
Das Skandalöse darin, das wird deutlich: Soziale Spannungen, Ausgrenzung, Diskriminierung bis hin zu Übergriffen, Verfolgung und Terror unterliegen hier gleichsam einer Naturalisierung. Indem sie als mehr oder weniger verständliche Reaktion auf kollektiv „minderwertige Charaktereigenschaften“ festgeschrieben werden.
Und am Ende kann dann ein zum Weltkrieg disponierter Herrenrassen-Wahn stehen. Darin es dann um die Vernichtung jener Anderen geht. Um die, die anders aussehen, anders leben. Um die, deren Sprache du nicht verstehst. Die dir Angst machen. Scheinbar eine Bedrohung darstellen, wie abwegig auch immer gedacht.
„… den Lebenden zur Mahnung, stets rechtzeitig der Unmenschlichkeit entgegenzutreten“
So stünde es auf dem Gedenkstein zum „ehrenvollen Gedenken an die Ermordeten“, an die insgesamt 500.000 Opfer, geschätzt vom Zentralrat der Sinti und Roma, erinnert Helmut Manz.
Antiziganismus ist in unserer Gesellschaft nicht Vergangenheit, sondern die Vergangenheit ist wie ein Pfahl im Fleische der Gegenwart. Das wurde während der kleinen Veranstaltung einmal mehr deutlich.
Und dass es Zivilcourage braucht, dem entschlossen entgegenzutreten. Auch, wenn es an diesem Tag des Gedenkens an die Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee im Winter 1945 wieder nur wenige Dortmunder*innen sind, die Flagge zeigen. Nichts ist letztendlich umsonst. Ob’s reicht, steht auf einem Blatt Papier. Doch vergessen wird hier niemand. – Begleitet wurde die Versammlung wie immer durch musikalische Beiträge von Peter Sturm auf der Gitarre. Soweit es das kalte Wetter, klamme Finger und das Instrument zuließen.
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