Einen Tag vor dem offiziellen Verkaufsstart stellten Aladdin El-Mafaalani und Sebastian Kurtenbach im Dietrich-Keuning-Haus ihr Buch „Kinder – Minderheit ohne Schutz“ vor. Im Gespräch mit der stellvertretenden Verlagsleiterin Helga Frese-Resch beschrieben die Autoren die dramatische Lage, hatten aber auch konkrete Handlungsvorschläge im Gepäck. Der dritte Autor, Klaus Peter Strohmeier, fehlte krankheitsbedingt. Im Nachhinein der Vorstellung hatte das Publikum Gelegenheit, Fragen zu stellen, die rege genutzt wurde. Unter anderem wurde die Frage diskutiert, ob Deutschland kinderfeindlich sei – oder ob die Menschen sich dessen einfach nicht bewusst seien.
Wahlkampf für die größte Wählergruppe: 60 plus
Helga Frese-Resch führte humorvoll durch den Abend, wobei sie gerne Bezüge zum eigenen Leben als Babyboomerin herstellte. Ihre eindringliche Botschaft: „Wir haben ein fettes Problem in Deutschland, was die meisten noch nicht kennen. Die junge Generation, die bald Verantwortung übernehmen soll, gesellschaftlich und politisch, wird gesellschaftlich und politisch übersehen. Wie wenig dieses Problem verstanden ist, kann man, glaube ich, auch daran sehen, dass es im Wahlkampf jetzt überhaupt keine Rolle spielt und das wollen wir heute ändern.“ ___STEADY_PAYWALL___
So wie er Helga kenne, habe sie das Buch bereits an einige Politiker*innen geschickt, scherzte El-Mafaalani. Mona Neubaur, stellvertretende Ministerpräsidentin von NRW, war scheinbar eine der Empfängerinnen und teilte am Erscheinungstag ein Foto vom Buch in ihrer Instagram-Story. Das Medieninteresse an dem Buch ist groß, und wenige Tage nach dem Erscheinen wird es nun auf Platz 17 in der Spiegel-Beststellerliste geführt. „Wir wollen, dass es das Hauptwahlkampfthema wird“, so die Autoren.
„Wie erleben Kinder aus diesen Positionen heraus Normalität?“
Die Jahrgänge der „Boomer“ zählen jeweils etwa eine Million Menschen. „In spätestens zehn Jahren werden Wahlen entschieden durch Rentnerinnen und Rentner. Das ist auch eine demokratische Herausforderung. Dass die Leute bösartig abstimmten, darum gehe es gar nicht. Sondern dass es ein strukturelles Problem ist, dass diejenigen, die die Wahlen entscheiden können, den Laden nicht am Laufen halten müssen. Das ist demokratietheoretisch erst mal so nicht angedacht gewesen“, erklärte El-Mafaalani.
„Deswegen ist der Wahlkampf so, wie er ist: wenn Eltern eine kleine Gruppe sind und Kinder sowieso noch nie interessiert haben und der Altersschwerpunkt so weit oben ist, dann muss man, wenn man Wahlkampf macht, am besten Leute 60 Plus hauptsächlich adressieren. Das ist die große Wählergruppe“.
Im Gespräch beschrieb Sebastian Kurtenbach die großen Unterschiede, die Kinder erlebten: die Unterschiede zwischen Familien, zwischen den „Sonderumwelten“ wie Schulen, Kitas oder dergleichen, der Qualität dieser Einrichtungen, im Alltag, unterschiedliche Nachbarschaft und Freizeitorte.
Auf Grundlage dieser Ausgangssituation formulierte er die Frage: „Wie erleben Kinder aus diesen Positionen heraus Normalität?“. Wegen der enormen Unterschiede, gäbe es statt „dieser einen Kindheit“ nun „fragmentierte Kindheiten“. In der Zeit der Babyboomer sei solch eine Fragmentierung „so nicht vorhanden“ gewesen, auch wenn es natürlich Unterschiede gegeben habe.
Bildungsinstitutionen müssen multifunktionaler werden
Es müsse wegen der veränderten Umstände ein wirklicher Kulturwandel vollzogen werden: weg von einer „Normalitätsvorstellung“ und der Erwartung „Familie muss es richten“. Kurtenbach setzte den Gedanken fort: „Geld brauchst du, aber Geld alleine wird es nicht wuppen. Wir brauchen ein anderes Nachdenken: Kinder in den Mittelpunkt stellen. Nicht davon ausgehen, was braucht man in den Institutionen? Sondern: Was kann eine Institution für das gelingende Aufwachsen bieten. Da sind wir nicht.“
El-Mafaalani ging mit mehreren Beispielen auf die aktuelle Situation an Schulen ein. Er sagte, mit Blick auf die eigene Schulzeit: „Wenn Schule 12:30 Uhr vorbei ist, ist es als Zwangsveranstaltung ‚tragbar‘.“ Aber bereits jetzt und zukünftig verbrächten Kinder dort mehr Zeit als Wachzeit in der Familie.
„Es geht nicht mehr, das als Zwangsveranstaltung zu machen. Das, was früher schon sinnvoll war, ist heute immer noch sinnvoll, aber heute ist es richtig notwendig, weil sich Dinge verändert haben, weil Familien viel gestresster sind, viel mehr unter Druck stehen.“ Die Schlussfolgerung lautete: „Wir müssen Teile dessen, was früher Familien gemacht haben, ersetzen.“ Allerdings fügte er hinzu: „Ich befürchte, wir hätten noch nicht mal einen Konsens. Es ist nicht so, dass alle überzeugt wären“.
Einen Ort für alle schaffen, Synergieeffekte nutzen, überlastete Systeme entlasten
Nichtsdestotrotz entwerfen die Autoren im Buch einen Lösungsansatz: „Community Zentren“. Man solle Vereine, Initiativen, Organisationen einen Ort geben, rund um die Schulen. Jeder, der sich dort aufhalte, müsse Schule etwas zur Verfügung stellen um so das völlig überlastete System zu entlasten. Man könne auch Kindern und Erwachsenen dort das gleiche Mittagessen anbieten, eventuell würde dadurch direkt die Qualität steigen. Kurtenbach führte aus: „Kinder würden Gemeinschaft und Gesellschaft zusammen erleben. Sie würden die Erfahrungswelt ihres Stadtteils tatsächlich vor Ort erfahren. Es würde ein Commitment geben von den Einrichtungen, Institutionen“. Berufstätige Menschen könnten Räume in den Zentren als Coworking Spaces nutzen, so hätten Eltern kürzere Fahrtzeiten, wenn ihre Kinder sozusagen nebenan zur Schule gingen.
Man könne auch darüber nachdenken, Pfleger*innen an Schulen einzusetzen, das sei keine komplizierte Lösung, „Schulkrankenschwestern“ gab es schon in früheren Zeiten. Wenn dann gesundheitliche Beschwerden wie zum Beispiel ein Asthma-Anfall direkt von der Fachkraft behandelt werden könnten, seien die Schule und das Gesundheitssystem damit nicht belastet. Es erziele ganz viele Synergieeffekte, vor Ort vernetzt zu arbeiten, so El-Mafaalani. „Wir haben nicht einfach wild ein Luftschloss gebaut“.
Ein Umdenken hin zur Bedürfnisorientierung sei notwendig. Sie sähen diese Lösung als „ernsthaften Versuch, es unter den gegebenen Bedingungen umzusetzen“. Helga Frese-Resch brachte in dem Zusammenhang auch die Sprache auf die wachsende Einsamkeit in großen Teilen der Gesellschaft. Sebastian Kurtenbach formulierte einen knappen Appell: „Das, was schon da ist, zusammenzubringen und es in Verantwortung füreinander zu bringen, das muss doch im Interesse dieser Gesellschaft sein“.
Zu Beginn des Abends rief Levent Arslan zu Spenden für Taranta Babu auf. Dort sind auch signierte Bücher zu haben, im Geschäft oder unter: verein@tarantababu.de
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