Zehn Jahre Debatte für einen Schritt Dekolonialisierung in Dortmund

Gegen falsche Erinnerung: Umbenennung der Nettelbeckstraße in May-Ayim-Straße vollzogen

Sklavenhändler wird durch deutsche Afroaktivistin ersetzt
Feierliche Umbenennung der Nettelbeck- in die May-Ayim-Straße in der Dortmunder Nordstadt Marei Thiele

Von Marei Thiele und Sandra Danneil

Wenn Straßen nach Städten benannt sind oder mit ihnen bekannte Dichter deutscher Kanonliteratur gewürdigt werden, ist das ganz normal, überall im Land. Bei der Nettelbeckstraße in der Dortmunder Nordstadt muss man schon tiefer ins historische Gedächtnis der Erinnerungskultur eintauchen. Nettelbeck war zumindest Grund für eine Debatte, die seit 2014 anhielt. Gestern wurde die unauffällige Eckstraße am Künstlerhaus Dortmund zur May-Ayim-Straße unbenannt.

Pressetermin mit wenig öffentlichem Interesse

Zum offiziellen Pressetermin luden Bürgermeisterin Barbara Brunsing und Bezirksbürgermeisterin Hannah Rosenbaum ins und ans Künstlerhaus Dortmund. Nach über zehn Jahren komplizierter Uneinigkeit mit der SPD-Fraktion ist von ampelgewohntem Argwohn heute keine Spur mehr.

Straßenumbenennung am Künstlerhaus weckte nur wenig Interesse
Städtische Vertreter:innen feierten mit Mitarbeiter:innen des Künstlerhauses und des Schauspiels einen Schritt Dekolonialisierung. Marei Thiele

Die Grünen-Politikerinnen sind sich einig: Eine Straßen benannt nach einem Sklaventreiber wie Nettelbeck ist unzumutbar, vor allem für die Anwohner:innen mit Zuwanderungsgeschichte in der Nordstadt.

Trotz des geringen öffentlichen Interesses, liegt ein Hauch von Stolz auf diesem Nachmittag. Der lange Kampf um Konsens über Dekolonialisierungsbestrebungen in Dortmund kommt zu einem längst überfälligen Ende, mit dem alle einverstanden sind.

Sklavenhändler Nettelbeck – eine unbestritten umstrittene Figur

Über den bisherigen Straßenpatron – mit vollem Namen Joachim Christian Nettelbeck (1738-1824) – Aushängeschild einer eher schlichten Übereckstraße zwischen Treib- und Blumenstraße – gibt es weitaus mehr zu spinnen als nur Seemannsgarn. Nettelbeck war ein tüchtiger Seefahrer des 18. Jahrhunderts, der sich zu Kolonialzeiten vor allem im Menschenhandel einen Namen machte.

Schild vor der Enthüllung der Gedenktafel mit Infos zu May Ayim
Schild vor der Enthüllung der Gedenktafel mit Infos zu May Ayim. Marei Thiele

Nettelbeck selbst war Obersteuermann auf einem niederländischen Sklavenschiff, das zwischen Afrika und Indien sein Unwesen trieb. Für die Nachwelt verewigte sich Nettelbeck später in seiner Autobiografie. Die „Abenteuerliche Lebensgeschichte eines aufrechten Deutschen [sic!] (von ihm selbst aufgezeichnet)“ machte den Musterpatrioten später – na klar – zu einem Helden für den Nationalsozialismus.

Was heute von ihm bleibt, ist nicht mehr als das Sinnbild einer schambehafteten Vergangenheit und Symbol von verbrecherischer Unmenschlichkeit. Die Grünen fordern gemeinsam mit Bürger:innen auch andernorts seit über zehn Jahren (Nordstadtblogger berichtete mehrfach) die Umbenennung von Straßen, deren Namensgeber zu Lebzeiten als militaristische Unterdrücker gefeiert wurden.

Langwierige Debatte nun zielführend und einsichtig

Auf Initiative von Bürger:innen wurde schon 2014 ein erster Versuch gestartet, den geschichtlich belasteten Straßennamen zu ändern. Unterstützung suchte man sich beim Dortmunder Stadtarchiv.

Nettelbeckstraße bleibt noch für ein Jahr zur Orientierung – und verschwindet dann kommentarlos
Laterne ziert nun ein Stück deutsche Erinnerungskultur der afrodeutschen Community Marei Thiele

Für kurze Zeit sollte sie deshalb nach einem Friedensaktivisten, Antifaschisten und Gewerkschafter  zur Willi-Hoffmeister-Straße werden, zumindest wenn es nach der SPD-Fraktion gegangen wäre (NSB berichtete am 9. Dezember 2021).

Der Streit versandete und wurde erst mit der Kommunalwahl 2020 erst wieder ausgebuddelt. Die Bezirksbügermeisterin Hannah Rosenbaum von den Grünen blieb dran. Erst nach Neubeantragung der Namensänderung 2023 wurden die Segel für einen Beschluss nun endgültig gehisst.

Straße würdigt afrodeutsche Aktivistin und Dichterin May Ayim

Ein Tag vor dem heutigen „Internationalen Tag der Erinnerung an den Sklavenhandel und an seine Abschaffung“ der UNESCO, jährlich am 23. August, wird die Nettelbeckstraße offiziell in die May-Ayim-Straße umbenannt. Auch wenn das zeitliche Aufeinanderfolgen der Umbenennung und des Gedenktags laut Bezirksbürgermeisterin Rosenbaum ein Zufall ist, sei dies ein thematisch passender Umstand, welcher zum Nachdenken und Erinnern anregt.

Bezirksbürgermeisterin der BV Nordstadt Hannah Rosenbusch gibt Einblicke in Ayims Leben und Schaffen
Bezirksbürgermeisterin der BV Nordstadt Hannah Rosenbusch gibt Einblicke in Ayims Leben und Schaffen Marei Thiele

Anwohner:innen einigten sich im Beteiligungsverfahren mit May Ayim auf eine bedeutende Persönlichkeit aus der afrodeutschen Community.

May Ayim lebte von 1960 bis 1996 in einer Zeit als Begriffe wie People of Color (PoC) noch in ferner Zukunft lagen. Ein Flyer und eine Rede erinnern die Teilnehmenden an das Leben der Dichterin und Vertreterin für die Rechte von Schwarzen in Deutschland.

May Ayim – Dichterin mit Doppeltem Bewusstsein

May Ayim hieß eigentlich Brigitte Sylvia Andler und wurde als Tochter eines ghanaischen Medizinstudenten und einer deutschen Mutter 1960 in Hamburg geboren. Weil ihr Vater sie aus rechtlichen Gründen nicht in seine Heimat mitnehmen konnte, wuchs sie in einer strengen Pflegefamilie auf, in der sie das einzige Familienmitglied mit anderer Hautfarbe war.

Neben dem Redenpult lächelt May Ayim freundlich ins Publikum
Neben dem Redenpult lächelt May Ayim freundlich ins Publikum. Die Aktivistin und Dichterin starb bereits mit 36 Jahren. Marei Thiele

Anfang der 1980er studierte sie Pädagogik und Psychologie und wurde eine wichtige Wegbereiterin der Schwarzen Deutschen Bewegung.

Schon im Kindesalter kam sie nicht los von dem Gefühl des „Andersseins“ – ein Gefühl, das der US-amerikanische Soziologe und Autor W.E.B. Du Bois schon 1903 mit dem Begriff des „doppelten Bewusstseins (engl. double consciousness) definierte. Diskriminierungserfahrung und ein Gefühl der Zerrissenheit waren wichtige Aspekte, die Ayims politische Lyrik erfüllten.

Ihre Diplomarbeit „Afro-Deutsche: Ihre Kultur- und Sozialgeschichte“ gilt als die erste wissenschaftliche Auseinandersetzung der Geschichte von Deutschen afrikanischer Abstammung.

Sie schreibt Gedichte und politische Texte über das Leben von Afrodeutschen. Mit dem Verdacht auf Multiple Sklerose nimmt sie sich im August 1996 mit nur 36 Jahren das Leben.

Aktivistin mit Nachwirkung

Im Programm der Feierlichkeit erinnert Bezirksbürgermeisterin Hannah Rosenbaum an das eindrucksvolle und viel zu kurze Leben von May Ayim, der man in Berlin Kreuzberg mit dem May-Ayim-Ufer schon seit 2010 gedenkt.

Schauspielerin am Theater Dortmund, Akasha Daley, liest eins von Ayims Gedichten
Schauspielerin am Theater Dortmund, Akasha Daley, liest eins von Ayims Gedichten Marei Thiele

Auch die Interventionistische Linke Nürnberg setzte sich mit der Umbenennung der M*gasse in May-Ayim-Straße erst im letzten Jahr durch. Seit 2004 gibt es den May Ayim Award für Schwarze Deutsche Literatur.

Akasha Daley, Ensemblemitglied am Schauspiel Dortmund, performt eines von Ayims bekanntesten Gedichten aus ihrem 1995 erschienenen Lyrikband „Grenzenlos Unverschämt“. Mit poetischen Zitaten aus May Ayims Werken verleiht die Schauspielerin der eher kurz gehaltenen Veranstaltung einen melancholisch feierlichen Beiklang.

Nettelbeck bleibt noch für ein Jahr – zu Orientierungszwecken

Das verwaschene Straßenschild der Nettelbeckstraße soll aus Orientierungszwecken noch insgesamt ein Jahr hängen bleiben. Danach wird Nettelbeck unwiderruflich und kommentarlos aus der Erinnerungskultur Dortmunds gelöscht. Das neue Schild der May-Ayim-Straße bleibt und verleiht mit seinen strahlend weißen Lettern auf blauem Hintergrund der fast farblosen Straße neuen Glanz.

Besonders stolz ist man über die Texttafel, welche Scharfsichtige über die Person May Ayim informiert. Die Stadt setzt damit ein wichtiges Zeichen für Verständigung, Diversität und Dekolonialisierung in Dortmund.


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