Von Thomas Engel
Auftaktkundgebung der IG Metall eine Stunde vor Beginn der 1. Verhandlung in der Tarifrunde der Metall- und Elektroindustrie NRW am 16. November in Dortmund. Zur Abwechselung mal rote Fahnen am Westfalenstadion, ohne dass ein Ball in der Nähe wäre. Der Musiker Heiko Fänger stimmt die KundgebungsteilnehmerInnen mit dem Klassiker „Bella Ciao“ auf das ein, was da kommen mag. Es geht um die Wurst: sechs Prozent sollen es sein. Und um Wahloptionen bei der Gestaltung der wöchentlichen Arbeitszeit. Daneben soll auch was für die Jugend herausspringen.
„Und wie sagt man hier? Glückauf! Gemeinsam im Ruhrgebiet, in Nordrhein-Westfalen!“
„Herne-West“ und „Lüdenscheid-Süd“ auf der Kundgebungstribüne zuvor einträchtig um den Hals geschlungen, jetzt am Mikrophon nur noch im roten Schal seiner Gewerkschaft, für die er gleich als Verhandlungsführer in der ersten Tarifrunde mit den Vertretern des Verbandes der Metall- und Elektroindustrie NRW verhandeln wird: Knut Giesler, Bezirksleiter der IG Metall NRW, ist sichtlich um Einheit unter Blau-Weiß und Schwarz-Gelb bemüht.
Das mit dem „Glückauf“ dürfte in Dortmund seit der Schließung des letzten Pütts zwar ein wenig verschollen sein bzw. dem ungeliebten Nachbarn Richtung West-West-Nord zugeschrieben werden – aber eins ist klar: Die IG Metall demonstriert ihre Entschlossenheit.
Was für die 700.000 Beschäftigten in der Metall- und Elektroindustrie dabei herumkommt, bleibt abzuwarten.
Im letzten Sommer konnte die Gewerkschaft in Nordrhein-Westfalen eine Erhöhung der Einkommen in zwei Stufen und eine geringfügige Einmalzahlung durchsetzen.
Diesmal soll es neben den geforderten Entgelten und Ausbildungsvergütungen um sechs Prozentpunkte vor allem um eine „Flexibilisierung“ von Arbeitszeiten im Sinne jener Menschen gehen, die ihre Arbeitskraft tagtäglich mit maximaler Schmiegsamkeit zur Verfügung stellen müssen – ohne Rücksicht auf sich verändernde Lebenslagen oder besondere individuelle Bedürfnisse.
Beschäftigte sollen demnach ihre Arbeitszeit ohne Begründungszwang auf bis zu 28 Stunden in der Woche für einen Zeitraum von bis zu 24 Monaten reduzieren und anschließend wieder auf ihre frühere Arbeitszeit zurückkehren können. So die Kernforderungen der IGM.
Arbeitszeiten am Leben orientieren, statt nur zu leben, um zu arbeiten
Letzteres geht gar nicht, so die Gewerkschafter einhellig auf der Kundgebung. Permanente Verfügbarkeit, wann immer die Verwertungslogik des Kapitals ruft?
Nach einer Befragung der IG Metall unter bundesweit 680.000 Beschäftigten machen 57,3 Prozent der Lohnabhängigen Überstunden, fast die Hälfte arbeitet samstags, ein Viertel sogar sonntags. Und gut ein Drittel arbeitet Schicht. – Wer sollte sich so etwas als Betroffener schon freiwillig ausgesucht haben?
„Wir wollen mehr Selbstbestimmung bei der Arbeitszeit für alle Beschäftigten erreichen. Bisher geht die Flexibilisierung der Arbeitszeit in den Betrieben einseitig zu Lasten der Beschäftigten. Damit wollen wir Schluss machen. Flexibilität darf keine Einbahnstraße sein“, verkündete dazu Ulrike Kletezka, Zweite Bevollmächtigte der IG Metall Dortmund. Bei ihrer Ansprache übrigens neben dem IGM- auch im BVB-Schal; sie hatte ja Heimrecht.
Damit ist sie nah bei den 82 Prozent der befragten Gewerkschaftsgenossen, die gerne vorübergehend weniger arbeiten wollen. Und 89 Prozent von ihnen wünschen sich, dass sie ihre Arbeitszeit kurzfristig an ihre Bedürfnisse anpassen können. Solche Wünsche sind aber nach geltendem Recht kaum selbstbestimmt planbar; ihre Umsetzung gleicht vielmehr einem Vabanquespielchen, denn es gibt bei der gesetzlichen Teilzeit kein Recht auf Wiederaufnahme einer Vollzeitbeschäftigung.
Spannende Frage: Dem Wolfe die vegane Speisekarte schmackhaft machen?
„Die Wahloption auf kürzere Arbeitszeit ist auch für Unternehmen gut, weil sie dadurch attraktiver werden – etwa für Arbeitnehmer, die Kinder zu betreuen oder Angehörige zu pflegen haben“, betont Ulrike Kletezka.
„Wer sich heute als Arbeitgeber modernen Arbeitszeitinstrumenten verweigert, der wird morgen ohne Fachkräfte dastehen. Daher ist es wichtig, tariflich geregelte Ansprüche auf flexible Arbeitszeiten anzubieten, die sich an den unterschiedlichen Bedürfnissen und Lebensphasen der Beschäftigten orientieren“.
Und: Nach Informationen der IGM zeigte selbst eine Studie des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft: Nur in acht Prozent der Unternehmen passte sich die Personalpolitik den unterschiedlichen Lebenssituationen der Beschäftigten an. – Offenbar sind viele Unternehmen zu doof, ihre eigenen Interessen wahrzunehmen.
Nachhilfeunterricht von Seiten der IGM in Familienfreundlichkeit und Fachkräftewettbewerb
Da braucht‘s Nachhilfeunterricht von der IGM, nämlich, dass ansonsten ein Fachkräftewettbewerb drohe. Denn natürlich würden sich die qualifizierten Mitarbeiter dorthin orientieren, wo im Personalbüro lächelnd Kinderbetreuungszeiten etc. als Begründung für zeitweilige Arbeitszeitverkürzungen mit Rückkehrrecht akzeptiert werden.
Erst im letzten Sommer war eine entsprechende Initiative von Bundesarbeitsministerin Nahles (SPD) noch grandios gescheitert. Durch den Druck der Arbeitgeber auf das Kanzleramt, wie zu hören war.
Dass das Argument vom drohenden Fachkräftemangel daher ein ziemlich frommes, eher verhandlungstaktisch herbeigebetetes an die Unternehmen ist, ihre kurzfristigen Rendite einzustampfen und stattdessen strategisch zu handeln, scheint auf der Kundgebung niemanden zu stören. Wie auch. Der Zusammenhalt in den eigenen Reihen ist wichtig.
Wirtschaft gut, alles gut? Dann aber bitteschön auch für jene, die viel, viel Reichtum schaffen!
Na ja, die Manager wirken bei ihrem 48-Stundentag ja auch mit. Aber dafür gibt es bei Bankrott traumhafte Abfindungen. Und die Rendite der Kapitaleigner fließen ggf. über El-Paradiso-Panama-Sonstwas netto.
Teilhaben am Wirtschaftswachstum jedoch wollen alle. Darauf stützt sich die Prozentforderung der IG Metall hier und anderswo. Ihr Kern heißt: Gerechtigkeit.
Und dann wieder der Nachsatz wie zum Wolfe in Sachen einer wirklich arbeitnehmerfreundlichen Arbeitszeitflexibilisierung: Unsere Forderung tut allen gut! In diesem Fall ist die Anbetungswürdige Deutschlands Wirtschaft. Es winkt das Kaufkraftargument: Wachstum als Folge von privatem Konsum, auch durch die von der IGM durchgesetzten Kaufkraftverstärkungen aus der Metall- und Elektroindustrie.
Daher liegt auf der Hand: „Zur Zurückhaltung gibt es angesichts dieser Prognosen keinen Grund. Im Gegenteil: Die hervorragenden Wirtschaftsdaten sind eine gute Grundlage, um ordentliche Entgeltsteigerungen für die Beschäftigten durchzusetzen“, bekräftigt Hans Jürgen Meier, Erster Bevollmächtigter der IG Metall Dortmund. „Mit unserer Forderung nach 6 Prozent setzen wir unsere verlässliche Tarifpolitik fort.“
Und am Ende die Zukunft: Einen vergüteten freien Tag je Prüfungstag für Auszubildende und dual Studierende fordert die IGM-Jugend. Nicht, um den über‘s Jahr Faulen einen Tag zum witzlosen Versuch des Nachholens zu verhelfen, sondern um zu relaxen vor einer Prüfung, die mitentscheidend über das weitere Leben sein kann. Um zu entspannen und sicher zu sein. Für das, was Du geleistet hast.