Im Verfahren gegen den Dortmunder Neonazi Steven F. ist am vierten Verhandlungstag ein Urteil ergangen. Zwei Jahre und drei Monate Haft für fünf Körperverletzungen, Beleidigung, Bedrohung und Sozialbetrug verhängte das Schöffengericht. Zudem muss der Angeklagte in Untersuchungshaft verbleiben, da weitere Verfahren anhängig sind und das Amtsgericht Fluchtgefahr sieht – denn auch zur Bewährung ausgesetzte Haftstrafen – sollte das neue Urteil rechtskräftig werden – würden widerrufen.
Der Angeklagte soll ein „Klima der Angst“ verbreitet haben – seit November in U-Haft
Der Angeklagte befindet sich seit November 2018 in Untersuchungshaft in der JVA Dortmund, da er u.a. im Dortmunder Stadtteil Marten ein „Klima der Angst“ geschaffen haben soll, so der Vorwurf von Polizei und Staatsanwaltschaft.
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Insgesamt wurden sechs Anklagen vor dem Schöffengericht des Amtsgerichtes Dortmund verhandelt, deren Delikte sich durch das gesamte Strafgesetzbuch ziehen: Raub, Bedrohungen, Beleidigungen, Körperverletzungsdelikte, Nötigungen sowie Verwendung verfassungsfeindlicher Symbole (Hitlergruß) und Sozialbetrug.
Der Angeklagte zeigte sich in Teilen geständig und reumütig – zumindest bezüglich der Vorwürfe, wo er zweifelsfrei durch Zeugen überführt werden konnte. In anderen Zusammenhängen wurde eine Tatbeteiligung zuweilen bestritten oder die Vorwürfe – insbesondere die Beleidigungen – durch den Wahlverteidiger, Rechtsanwalt André Picker, relativiert.
Dieser kritisierte zudem Teile der Medien, die seinen Mandanten unverpixelt gezeigt hatten. Dabei ließ Picker unerwähnt, dass zuvor die Neonazis sowohl den vollen Namen, als auch Fotos seines Mandanten in Umlauf gebracht hatten. So wurde der Name auf Demonstrationen skandiert, es gab Aufkleber mit Namen und Gesicht, die in vielen Stadtteilen geklebt wurden.
Außerdem wurden Unterstützungsaufrufe mit Namen und Foto auf Szene-Portalen der Neonazis veröffentlicht. Für diese Unterstützung bedankte sich Steven F. Noch vor der Urteilsverkündung.
Oberservationsvideo der Polizei beschädigt – CD nicht lesbar – keine Datensicherung
Ein Tatvorwurf – das Zeigen eines „Hitler-Grußes“ – wurde abgetrennt. Der Vorwurf basierte auf einer Video-Observation des Angeklagten. Das Video selbst war allerdings nicht abspielbar. Auch die Kriminaltechnik konnte die CD aus der Gerichtsakte nicht mehr wiederherstellen – eine Datensicherung gab es bei der Polizei nicht.
Die zuvor gefertigten Videoprints lagen zwar vor, Rechtsanwalt Picker bezweifelte allerdings die Rechtmäßigkeit der Überwachung. Er will deshalb vor dem Verwaltungsgericht gegen den Polizeipräsidenten Gregor Lange vorgehen. Wenn die Überwachung rechtswidrig sei, dürften die Aufnahmen auch nicht bei diesem Verfahren gewertet werden.
Allerdings hatte Picker keine Unterlagen zu seiner Klage beigebracht. Diese sei fertig – er müsse nur auf Senden drücken – betonte der Wahlverteidiger. Um auf Nummer sicher zu gehen, wurde daher das Verfahren in diesem Vorwurf abgetrennt. Dem Verteidiger wurde die Frist gesetzt, binnen von vier Wochen die entsprechende Klage einzureichen.
Tritte und Schläge im Nachtexpress: Zeugen konnten oder wollten sich nicht erinnern
Der Vorfall im Nachtexpress im Oktober 2018 – hier sollen der Angeklagte und weitere Mittäter mehrere Personen beleidigt und tätlich angegriffen haben, des Weiteren sollen der Hitlergruß und Mittelfinger gezeigt worden sein. Als Sicherheitsleute der Gülich-Gruppe die Kontrahenten trennen wollten, seien diese selbst ins Visier der rechtsextremen Schläger geraten und erlitten schwere Prellungen durch mehrfache Tritte und Schläge.
Auch diese Tat räumte der 28-Jährige ein, wahrscheinlich nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass es von dem Vorfall einen Videomitschnitt gibt. Er gab sich reuig und er sei froh, dass niemand ernsthaft verletzt worden sei. Sein Verhalten sei ihm im Nachhinein regelrecht peinlich und er distanziere sich davon.
Er sei stark alkoholisiert gewesen und habe kaum noch eine Erinnerung an den Vorfall, gab er am ersten Verhandlungstag zu Protokoll – beteuerte aber am vierten und letzten Verhandlungstag, seit Jahren weder Alkohol noch Drogen zu konsumieren.
Doch die Sicherheitskräfte konnten sich nicht an die Vorfälle erinnern, weitere Zeugen und Geschädigte wollten nicht aussagen bzw. gaben vor, sich ebenfalls nicht genau erinnern zu können. Daher konnten die einzelnen Taten – insbesondere die Beleidigungen – trotz des Videos nicht genau zugeordnet werden. Dieser Vorwurf wurde daher eingestellt.
Raubvorwurf war nicht aufrecht zu halten – ist „Zigeuner“ eine Beleidigung?
In einem Fall stand eine Körperverletzung in Tateinheit mit Raub im Raum, weshalb auch vor dem Schöffengericht im Amtsgericht verhandelt wurde. Die Anordnung des Haftbefehls wurde u.a. mit dem Raubvorwurf und einer möglichen Wiederholungsgefahr begründet.
Doch der Raub – hier ging es um eine Auseinandersetzung wegen eines Handys auf der Bartholomäus-Kirmes in Lütgendortmund – ließ sich nicht aufklären. Steven F. soll einen von ihm als „Zigeuner“ titulierten Geschädigten aufgefordert haben, sein Handy rauszurücken, soll es ihm anschließend aus der Hand geschlagen und dem Geschädigten mit einem heftigen Fausthieb ins Gesicht geschlagen haben, so dass das Opfer unmittelbar zu Boden ging.
Das Handy war anschließend verschwunden – doch der Verbleib blieb unklar. Daher ließ sich zumindest der Raubvorwurf nicht beweisen. Gegenstand blieben jedoch die Körperverletzung und die Beleidigung. Ob dies eine gefährliche Körperverletzung war und der Vorwurf eine Beleidigung, war zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung strittig.
Gefährliche Körperverletzung: Geschädigten wurden Zähne ausgeschlagen
Besonders gravierend wirkte sich eine gefährliche Körperverletzung aus, die der Angeklagte vor der Gaststätte Gänsemarkt begangen hatte. Nach einem Wortwechsel schlug er dem Geschädigten so unvermittelt und heftig mit der Faust ins Gesicht, dass dieser rückwärts eine Treppe runter stürzte.
Bei dem Schlag brach eine Brücke auf den Schneidezähnen. Diese mussten anschließend komplett entfernt werden. Auch zwei Jahre nach der Tat ist das Opfer noch in zahnärztlicher Behandlung und beeinträchtigt.
Der Vorwurf, der Angeklagte schüre ein „Klima der Angst“, schimmerte in mehreren Tatvorwürfen heraus. So wurden neben der Körperverletzung gegen den als „Zigeuner“ verunglimpften Sinti auch Äußerungen gegen politisch Andersdenkende sowie gegen einen Geschädigten, den die Neonazis dem jüdischen Glauben zurechnen, verhandelt.
Staatsanwalt: „Geschädigte wurde in ihrer Lebensqualität massiv geschädigt“
So wurden zwei Martener, die Neonazi-Aufkleber von einer Laterne knibbelten, verbal attackiert, mit einem Handy gefilmt und bedroht. Auch Schläge wurden ihnen angedroht bzw. angedeutet – ein Tritt streifte zudem die Schulter eines Opfers. Offenbar wurden die beiden zudem verfolgt.
Ab dem Abend fanden sich mehrfach Nazi-Aufkleber an der Haustür – diese hatte es vor dem Vorfall nicht gegeben. Wenige Tage nach der Tat flog ein Steinchen gegen das Fenster der WG. Als die BewohnerInnen herausblickten, hatten sich dort zehn bis 15 vermummte Neonazis versammelt.
Ziel war offensichtlich, die BewohnerInnen, die die Neonazis dem links-alternativen Spektrum zurechnen – einzuschüchtern. Zumindest bei einer Martenerin, die auch beim Aufkleber-Knibbeln bedroht wurde, hatte dies nachhaltig Wirkung gezeigt. Sie traute sich alleine nicht mehr mit ihrem Hündchen auf die Straße und ließ sich monatelang von MitbewohnerInnen begleiten. „Sie wurde in ihrer Lebensqualität massiv geschädigt“, macht die Staatsanwaltschaft in ihrem Plädoyer deutlich.
Bedrohung eines Pärchens nach einer Demo: „Ich schlage Deine Frau tot“
Ebenfalls auf Einschüchterung zielte eine andre Bedrohung ab. Steven F. und weitere Mittäter sollen ein Pärchen nach einer Demo bedroht und beleidigt haben.
Für den als Zeugen geladenen Lebensgefährten wog der Vorwurf der Bedrohung wesentlich schwerer als die Beleidigung, denn dies sei man von derartigen Veranstaltungen gewohnt.
Die Situation verschärfte sich allerdings, als der Angeklagte gesagt haben soll: „Ich ficke Deine Frau“ und „Ich schlage Deine Frau tot“. Für die beiden Zeugen, welche in Begleitung der Opferberatung BackUp zum ersten Verhandlungstag gekommen waren, war dies eine ernstzunehmende Bedrohung.
Sie verwiesen dabei auch auf den 14. Todestag von Thomas Schulz, der von einem Neonazi in Dortmund erstochen wurde. Doch gerade die Absicht, diese Bedrohung in die Tat umzusetzen, bestritt die Verteidigung.
Selbst die Verteidigung gesteht ein, dass eine Haftstrafe unausweichlich ist
Insgesamt machten jedoch alle Beteiligten – auch die Verteidiger – deutlich, dass man hier über eine Haftstrafe nicht herumkommen werde.
Während die Staatsanwaltschaft eine Gesamtstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten für vier der sechs angeklagten Taten als angemessen erachtete, forderte der Pflichtverteidiger eine Strafe von deutlich unter zwei Jahren.
Das Urteil des Schöffengerichts lautete letztendlich zwei Jahre und drei Monate Haft Gesamtstrafe. 15 Monate betrachtete das Schöffengericht alleine für die ausgeschlagenen Zähne am Gänsemarkt für angemessen.
Den Kirmes-Vorfall wurde mit einem Jahr, die Beleidigung und Bedrohung des Pärchens mit sechs Monaten, der Vorfall mit dem Aufkleber-knibbelnden Duo mit acht Monaten sowie der Jobcenter-Betrug mit zwei Monaten bewertet. Für einen der antisemitischen Vorfälle in Marten – hier wurde eine Person u.a. als „Judenhundesohn“ beleidigt – gab es drei Monate.
Haftbefehl bleibt in Kraft – Untersuchungshaft wird wegen Fluchtgefahr fortgesetzt
In der Gesamtsumme wurde dies auf 27 Monate Haft zusammengefasst. Wird das Urteil rechtskräftig – werden auch zwei Bewährungsstrafen widerrufen. Allein bei einem der Verfahren wären noch zehn Monate Haft offen.
Noch gravierender ist für den Angeklagten, dass das Gericht den Haftbefehl nicht aufhebt. Der Neonazi muss daher weiter in Untersuchungshaft verbleiben. Die Verteidigung hatte bereits am zweiten Verhandlungstag die Aufhebung beantragt, weil der schwerwiegendste Vorwurf des Raubes nicht zu halten sei. Eine Fluchtgefahr oder Verdunkelung seien nicht zu befürchten, machte Picker in seinem Plädoyer deutlich.
Im Gegenteil sah er eine günstige Prognose: Denn neben einer Wohnmöglichkeit bei seinem Bruder legte Rechtsanwalt André Picker auch zwei Stellenangebote vor, wo der Angeklagte nach der Haftentlassung hätte anfangen können. Neben einem Midi-Job in einem Wettbüro in Dortmund sei auch eine volle Stelle in Thüringen („Mitteldeutschland, nicht Ostdeutschland“, wie Picker betonte) in Aussicht.
Doch genau dieses Jobangebot wertete das Schöffengericht als eine Option zur Flucht – mit Hilfe seiner Kameraden. Denn neben der bereits jetzt verhängten Haftstrafe und der zum Widerruf anstehenden Bewährungsstrafe sind aktuell noch zwei weitere Verfahren anhängig.
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Reader Comments
Polizei Dortmund (Pressemitteilung)
Kein Freiraum für Neonazis – Polizeipräsident begrüßt das Urteil gegen Dortmunder Rechtsextremist
Der Dortmunder Polizeipräsident Gregor Lange begrüßt das heutige Urteil des Amtsgerichtes Dortmund gegen einen bekannten Dortmunder Rechtsextremisten.
Steven F. war am 29. November 2018 festgenommen worden, weil er Straftaten begangen hatte, die darauf abzielten, die Martener Bevölkerung einzuschüchtern.
„Das heutige Urteil sendet ein deutliches Signal in Richtung der rechten Szene, die wir intensiv im Blick haben und der wir keine Freiräume in Dortmund lassen“ so der Polizeipräsident. „Rechtsextremistische Verfassungsfeinde, die letztlich auch die Härte des Gesetzes zu spüren bekommen, sollen wissen: Wir halten an unserer Null-Toleranz-Strategie fest.“
Thommy
2 Jahre und 3 Monate.?
Sorry, aber das scheint nun doch ein bischen wenig angesichts des Terrors, den der Angeklagte verbreitete.
Da es sich um einen Wiederholungsgewalttäter mit ungünstiger Sozialprognose handelt, sollte das Gericht bei den noch ausstehenden Prozessen gegen diesen rechtsradikalen Intensivtöter, der bewiesen hat, dass er eine Gefahr für die Allgemeinheit und für jeder Mann und jede Frau ist, die ihm zufällig über den Weg läuft.ist, auch die Möglichkeit der Sicherungsverwahrung ins Auge fassen.
Letztlich ist es doch nur Zufall, dass bisher niemand, der Bekanntschaft mit der Gewalttötigkeit dieses Neonazis gemacht hat, noch schlimmer verletzt wurde.
Wolfgang Richter
Es ist diese „Null-Toleranz-Strategie“ des Polizeipräsidenten, unter der Alt- und Neonazis in der City und in ausgewählten Stadtteilen bandenmäßig auftreten, die Verfassung verhöhnen und Menschen martialisch bedrohen. Und trotz der großen Worte des Herrn Präsidenten („gebe ihnen keinen Millimeter Freiraum“) immer gefährlicher geworden sind. Offenbar will er genauso weitermachen. (WR 10.05.)
Bebbi
Was wäre denn eine bessere Strategie?