Typische Debatte im Dortmunder Stadtrat: die demokratischen Parteien sind sich einig, variieren das Thema unter verschiedenen Aspekten. Es geht um Antisemitismus in der Stadt, auch in deren Zentrum, und darum, wie und warum ihm dringend zu wehren sei. Der AfD fällt nicht viel mehr ein, als die Ursachen dieses Phänomens gruppenbezogenen Menschenhasses bei den seit 2015 zugewanderten MigrantInnen zu verorten. Am Ende schließt sich der Rat einer „Grundsatzerklärung des Netzwerkes zur Bekämpfung von Antisemitismus in Dortmund“ mit überwältigender Mehrheit an. Deren Botschaft: Demokratie zu bewahren und stärken, bedeutet auch, Antisemitismus zu bekämpfen – und umgekehrt.
Antisemitismus geht in einer demokratischen Gesellschaft alle DemokratInnen etwas an
Das „Netzwerk zur Bekämpfung von Antisemitismus in Dortmund“ hat eine Grundsatzerklärung verfasst, in der vor allem auf den alltäglichen, latent verbreiteten Antisemitismus aufmerksam gemacht werden soll. Gegen all seine Formen fordert das Bündnis aus lokalen Organisationen und Personen ein entschlossenes Auftreten ein. Denn letztendlich ginge es um Erhalt und Förderung von Demokratie, wird in der Erklärung bedeutet.
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Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, sich in einer freiheitlich-demokratischen Gemeinschaft für ihren Bestand einzusetzen; doch die Realität in manchen Köpfen, auch inmitten der bundesrepublikanischen Gesellschaft, ist davon – mit Blick auf die steigenden Zahlen antisemitisch motivierter Übergriffe – noch viel weiter entfernt. Sie dokumentieren Intoleranz und Menschenverachtung, weil einem jeden Menschen unveräußerliche Rechte zukommen, zu denen die freie Ausübung der Religion gehört.
Das Netzwerk sucht deswegen dringend Öffentlichkeit; der entscheidende Passus seiner Erklärung lag dem Stadtrat als Teil jenes Resolutionstextes vor, der verabschiedet werden sollte. Die sich darüber im Stadtrat kurz entspannende Debatte zeugte mal wieder von der Bedeutsamkeit solcher Initiativen.
Jüdische DortmunderInnen haben Angst: „Sind Sie sicher, dass wir nicht angegriffen werden?“
Einen regelmäßig zu solch traurigen Anlässen fallenden Satz formuliert Michael Taranczewski (SPD): Es sei tragisch, solche Resolutionen über 70 Jahre nach dem Krieg verabschieden zu müssen, so der stellvertretende Vorsitzende des Integrationsrates; und fragt sich im Perspektivwechsel: „Was macht es mit den Menschen, wenn sie, ohne sich wehren zu können, permanent beschimpft, beleidigt, bedroht“ würden; dies weiter zuzulassen, käme einer Schande gleich.
Das sieht Bürgermeister Manfred Sauer (CDU) ganz ähnlich: jüdische Dortmunder und Dortmunderinnen hätten Angst – wegen der Entwicklung der Situation in den letzten drei Jahren. Wenn er ihnen dennoch sagte: „Gehen sie raus, feiern sie ihre Feste!“, dann bekäme er Antworten wie: „Sind sie sicher, dass wir nicht angegriffen werden?“
Seine wie die Konsequenz der überwältigenden Mehrheit des Rates ist eindeutig: sie spricht uneingeschränkte Solidarität mit den jüdischen MitbürgerInnen aus. So wie im November 2018: auch da ließen die Sätze keine Zweifel.
In weltoffener und toleranter Stadt: kein Platz für Menschenverachtung und Fremdenfeindlichkeit
„Dortmund ist eine weltoffene, vielfältige, tolerante und internationale Stadt, die von unterschiedlichen Herkünften und dem guten Zusammenleben aller ihrer Menschen profitiert. In ihr ist kein Platz für menschenverachtendes Gedankengut und Fremdenfeindlichkeit und damit auch nicht für Antisemitismus“, hatte es in der verabschiedeten Resolution unter anderem geheißen.
Jetzt hat der Rat mit großer Mehrheit beschlossen, sich der Grundsatzerklärung vom 18. Januar 2019 anzuschließen und sie als „einen weiteren, wichtigen Baustein zur Bekämpfung des Antisemitismus in Dortmund“ zu betrachten. Der Resolutionstext selbst beinhaltet nicht den ganzen Teil der Erklärung, sondern nur jenen ersten Absatz, der unter den demokratischen Parteien sicher unstrittig war.
Darin wird nicht nur gefordert, den „Antisemitismus in all seinen Ausprägungen“ zu bekämpfen, sondern dies „auch zum Gegenstand der Präventionsarbeit“ zu machen. Nur so könne „eine demokratische Gemeinschaft ihren eigenen Ansprüchen gerecht werden, nämlich eine Gesellschaft zu realisieren, die jeder Form der Menschenfeindlichkeit entgegenwirkt, wo immer sie sich manifestiert.“
Paradoxon der Toleranz – klare Sache: sie muss der Intoleranz mit deren Mitteln begegnen
Wie ein demokratisch verfasster Staat seine eigene Identität nur in der Abwehr jener Kräfte erhalten kann, die das Gegenteil seines Selbstverständnisses darstellen, so ist es ebenso ein Selbstschutzbedürfnis, das ihn dazu nötigen mag, entschiedener gegen Feinde einer offenen, vielfältigen Gesellschaft zu agieren.
Darauf verweist Lars Rettstadt, FDP-Fraktionsvorsitzender, mit der knappen Formel: „Keine Toleranz der Intoleranz“; und dies gälte für alle – egal etwa, welcher Religion sie angehörten. Will sich eine tolerante Gesellschaft erhalten, muss sie sich zwingend gegen jene zur Wehr setzen, die mit ihren intoleranten Überzeugungen eine Gefahr darstellen. Darüber herrschte unter den Befürwortern der Resolution im Prinzip Einigkeit.
Gerade vor dem Hintergrund deutscher Geschichte nicht nur „jegliche Art von Ausgrenzung“, so Rettstadt, abzulehnen, sondern deshalb auch mit verantwortungsbewusstem Bekenntnis zu verdeutlichen, was in den Worten von Taranczewski lautet: wo Antisemitismus anfängt, hört Meinungsfreiheit (definitiv) auf.
Dortmunder Neonazis machen sich zu Trittbrettfahrern internationaler Kritik an Israel
Neben diesem Fokus berührt die kurze Debatte zwei jener randständigen Positionen, durch die Antisemitismus in der Gegenwart auf unterschiedliche Weise verklärt wird.
Da ist jene rechtsextreme Variante, die „unter dem Deckmantel der Kritik an Israel verbreitet“ würde, wie Utz Kowalewski, Fraktionssprecher von „Die Linke & Piraten“ formuliert.
Eine aus der Dortmunder Neonazi-Szene bekannte Strategie, um ihren notorischen Antisemitismus zu rechtfertigen, indem sie zu Trittbrettfahrern der kritischen Haltung seitens der internationalen Gemeinschaft gegenüber der israelischen Politik werden.
Dass aber die politischen Probleme im Nahen und Mittleren Osten eine Sache, die Lage der Menschen jüdischen Glaubens in Dortmund eine andere ist, betont SPD-Sprecher Michael Taranczewski: es ginge (zunächst) nicht um das Existenzrecht Israels, sondern darum, dass jeder jüdische Mensch ein Existenzrecht in Dortmund habe.
Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft: Rechtspopulisten schieben auf MigrantInnen ab
Wie ich MitbürgerInnen jüdischen Glaubens begegne, hat nichts mit Israel und den Konflikten in der Region zu tun. Es hätte auch ein Moslem sein können; deswegen wäre er nicht für die Politik Saudi-Arabiens verantwortlich.
Sondern damit, wie wir im Zentrum Europas miteinander umgehen und leben wollen. Denn da ist dieses Individuum mit einem bestimmten Glauben; was zählt, sind unteilbare Menschenrechte, durch deren Anerkennung solchen Begegnungen eine regulative Grundlage zukommt.
Eine auch für den Rechtspopulismus kaum zu bewältigende Aufgabe, wie sich während der Diskussion zeigte. Hier offenbart sich die zweite Variante, vorgetragen vom AfD-Vertreter, Andreas Urbanek, die nicht auf antisemitischer Selbstverklärung basiert, sondern auf dem organischen Verbund von Xenophobie und Deutschtümelei.
Diese Kombination hatte ihn schon in der Frage zur Austragung des Festi Ramazan 2019 mehrfach dazu verleitet, seine Ablehnung in der Sache mit Betonpollern auf deutschen Weihnachtsmärkten zu begründen.
Überwiegende Mehrheit antisemitischer Straftaten kommt aus dem rechten Spektrum
Diesmal, statt damit alle Muslime für den islamistischen Terror quasi in Sippenhaft zu nehmen, macht er sie als die wahren Täter hinter dem Antisemitismus und die Deutschen als deren verführte Opfer aus. Als hätte sich in (potentiell) betroffenen Hirnen nach 1945 der Nationalsozialismus und dessen Ideologievorrat irgendwann – einfach in Luft aufgelöst.
Gegenüber einer Legendenbildung unter Annahme verwechselter Wirkungen und Ursachen betont der Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen, Ulrich Langhorst, dass Synagogen auch vor 2015 hätten bewacht werden müssen.
Und mit Bezugnahme auf die Expertenkommission des Bundestages: der Antisemitismus reiche in die Mitte der Gesellschaft hinein, bis in die Gewerkschaften, Parteien etc. Im ersten Halbjahr 2018 konnten von 401 antisemitischen Straftaten 349 rechts-motivierten Tätern zugeordnet werden. Und dies sei nur die Spitze des Eisberges.
Weitere Informationen:
- Beschlussvorschlag und Beschluss des Stadtrates, hier:
- Vollständige Grundsatzerklärung des Netzwerkes, hier:
- Dortmund aktiv gegen Rechtsextremismus, hier:
Mehr zum Thema bei nordstadtblogger.de:
Chanukka in Dortmund: Jüdische Gemeinde feiert trotz Antisemitismus ihr Lichterfest am Phoenixsee
AGNRW-Jugendaustausch: Deutsche und israelische Jugendliche bauen Brücken in eine bessere Zukunft
Polizeipräsident setzt im Kampf gegen Rechtsextremismus auf den Doppelpass mit der Zivilgesellschaft
https://www.nordstadtblogger.de/kommentar-ueber-neonazis-erwuenschte-schlagzeilen-fragwuerdige-einsaetze-und-gesellschaftliche-verantwortung/
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Attac Dortmund und DGB Dortmund (Pressemitteilung)
Attac Dortmund und DGB Dortmund: Diskussion zum Ratsbeschluss gegen Antisemitismus
Im Oktober d.J. hat der Rat der Stadt Dortmund eine „Grundsatzerklärung
zur Bekämpfung von Antisemitismus in Dortmund“ gefasst, obwohl schon im
Oktober vorher ein ähnlicher Beschluss abgestimmt worden war. Neu an
diesem Ratsbeschluss ist die Kennzeichnung einer konkreten Aktion,
nämlich der BDS-Bewegung, als „antisemitisch“. Die BDS-Bewegung tritt in
Anlehnung an die frühere Kampagne gegen den Apartheid-Staat Südafrika
für einen internationalen, gewaltfreien Boykott des Staates Israel ein,
bis die völkerrechts- und menschenrechtswidrige Besatzungs- und
Besiedlungspolitik der israelischen Regierung beendet ist.
Auf Grundlage dieses Beschlusses hat im September die Jury des
angesehenen Nelly-Sachs-Preises der Stadt Dortmund bekannt gegeben, den
diesjährigen Preis der pakistanisch-britischen Schriftstellerin Kamila
Shamsie doch nicht zuzuerkennen, weil sie sich als Unterstützerin dieser
Bewegung bekennt.
In der gemeinsamen Bildungsreihe von Attac, DGB , Nachdenktreff und der
„AG Globalisierung konkret in der Auslandsgesellschaft“ soll der
Ratsbeschluss und die sich daraus ergebenden Folgen diskutiert werden.
Wir haben deshalb den bekannten Journalisten Andreas Zumach eingeladen.
Er ist selber kein Unterstützer von BDS, wendet sich aber in seinem
Vortrag gegen die zahlreichen Versuche, legitime Kritik an der
völkerrechts- und menschenrechtswidrigen Politik der israelischen
Regierung als antisemitisch oder antiisraelisch zu diffamieren und zu
unterbinden.
Andreas Zumach ist seit 1988 Schweiz- und UNO-Korrespondent der taz am
europäischen Hauptsitz der Vereinten Nationen in Genf. Als freier
Journalist arbeitet er auch für andere deutsch- und englischsprachige
Print- und Rundfunkmedien. Darüber hinaus hat er mehrere Bücher
veröffentlicht. 2009 wurde ihm für sein friedens- und
menschenrechtspolitisches Engagement der Göttinger Friedenspreis
verliehen. Er hat schon mehrfach in unserer monatlichen Bildungsreihe zu
unterschiedlichen Themen referiert.
Er wird am Mittwoch, 11. Dezember, um 19 Uhr in der Paulus-Kirche,
Schützenstr. 35 sprechen und sich den Fragen und der Diskussion stellen.
GegenHassundGewalt
Alle Achtung Nordstadtblogger, dass ihr die Erklärung von Attac/DGB veröffentlicht habt. Ohne Angst vor den selbsternannten Antisemitismus-Wächtern? Der Demagogie-Blog „Ruhrbarone“ hat schon reagiert und seinen Hass voll auf Jutta Reiter, die das angeblich geschrieben hat, und auf den Referenten gerichtet, der auch persönlich diffamiert wird, und alles in einen Topf mit Neonazis, Linken und Islamisten geworfen (https://www.ruhrbarone.de/bds-der-dgb-dortmund-diskutiert-ueber-das-recht-israel-zu-boykottieren/175767) Da drüber schwebt wie meistens zu solchen Anlässen der Antisemitismusvorwurf. Ein Wort, das als Allzweckkampfbegriff missbraucht wird, um kritische Stimmen mundtot zu machen. Doch die Hassprediger sind damit erfolgreich und dürfen sich darüber freuen, wie ihnen Neonazis als Wasserträger für ihre Propaganda behilflich sind. Es ist erschreckend mitanzusehen, was da abläuft. Die jüdischen Opfer des NS-Regimes würden sich im Grabe umdrehen, wenn sie mitansehen müssten, wie schamlos von solchen Leuten Diskriminierung, Rassismus und Völkerrechtsverletzungen als selbstverständlich dargestellt werden. Im Gefolge von Trump scheint es normal geworden zu sein, sich über das Recht zu stellen. Macht genügt. Deswegen, Nordstadtblogger: Respekt, dass ihr euch nicht kleinkriegen lasst!