Der Holocaust-Gedenktag im Dortmunder Rathaus am 70. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz stand ganz im Zeichen der Situation von Holocaustüberlebenden. Deren Situation wurde in zwei Vorträgen einfühlsam vor Augen geführt. Im Hintergrund stand die Frage, wie die Erinnerung an den Holocaust tradiert werden kann, wenn die letzten Zeitzeugen gegangen sind.
Erinnerungsprojekt von Grundschülern: „Um Vergangenheit nicht zur Zukunft werden zu lassen!“
Den Auftakt machten aber Schüler der „Weingartenschule am See“ aus Hörde, einer Schule, in der Kinder aus 32 Nationen zusammen lernen. Sie erzählten zusammen mit ihrer Sozialarbeiterin Tania Heidbreder von ihrem aktuellen Projekt der Erinnerungsarbeit. Andreas Roshol vom Stadtjugendring hatte auch hier, wie so oft, wichtige Impulse gegeben.
Die Kinder hatten sich mit dem Schicksal der Dortmunder Jüdin Berta Mathilde Lewy beschäftigt, die an ihrer Vorgängerschule in Hörde zur Schule gegangen war, ehe sie 1938 mit ihren Eltern ins holländische Aalten flüchten musste. Als die Nazis unser Nachbarland überfielen, musste sich die Familie an wechselnden Orten verstecken. Sie wurde aber 1943 verraten, ins Vernichtungslager Sobibor deportiert und dort mit Gas ermordet. Berta wurde nur 14 Jahre alt.
Da das Mädchen und seine Eltern nicht so viele Lebenszeugnisse hinterlassen haben und es teilweise eine Parallelgeschichte ist, haben sich die Schüler auch mit dem Schicksal Annes Franks befasst. Weil es von Berta kein Foto mehr gibt, haben die jungen Schüler ihr ihre Augen, Mund, Nase, Gesicht, Haare geliehen und so ein Bild von ihr gefertigt, „um zu zeigen, dass alle Menschen gleich sind“, sagte eine junge Schülerin.
Eine eindrucksvolle Geste menschlicher Solidarität und Absage an den Rassenwahn der Nazis, die starken Beifall erntete. Zu Schlüsselstellen wie der Flucht und dem Versteck hatten die Kinder eindrückliche Bilder gemalt und Berta rührende Briefe geschrieben. Sie hatten das Thema Verrat intensiv diskutiert und dabei festgestellt, dass die Menschen sehr wohl Entscheidungsspielräume haben, aber Zivilcourage vonnöten ist, soll die Unmenschlichkeit nicht obsiegen.
Die Kinder haben Aalten besucht, wo das kleine „Untertauchmuseum“ das Schicksal der holländischen und nach Holland geflüchteten Juden beleuchtet. Dort werden am 13. Februar und im Sommer in der Hermannstraße 152 in Hörde, wo die Familie vor ihrer Flucht gelebt hatte, Stolpersteine verlegt, die an die Lewys und ihr Schicksal erinnern, die Weingartenschüler immer dabei.
„Breit aufgestellt“ – OB Sierau zur antinazistischen Erinnerungsarbeit in Dortmund
Anschließend baten Fabian Karstens und Lara Schimmeregger, zwei „Botschafter der Erinnerung“, Oberbürgermeister Ullrich Sierau zum Gespräch. Er hatte sich schon sehr früh für eine lebendige Erinnerungsarbeit in seiner Stadt eingesetzt, ein Großonkel war im Widerstand. Er besitzt heute noch den Button, mit dem Anfang der 80er Jahre erfolgreich für den Erhalt der Steinwache und die Errichtung der späteren Mahn- und Gedenkstätte dort gekämpft wurde.
Sierau ist stolz, dass es in Dortmund, neben vielen anderen antinazistischen Initiativen, mittlerweile mehr als hundert junge Menschen gibt, die als „Botschafter der Erinnerung“ mit vielfältigen Aktivitäten gegen Schlussstrich-Forderer und Ewiggestrige die Erinnerung an die NS-Greuel und die NS-Opfer wachhalten und als Lehre aus dieser Zeit für eine freiheitliche, solidarische, menschenfreundliche Gesellschaft kämpfen. Die „Gnade der späten Geburt“ dürfe eben nicht als Recht zur Verantwortungsflucht missverstanden werden.
In das Lob schloss er auch die Weingartenschüler noch einmal ausdrücklich ein. Er hob hervor, dass das Projekt vorbildlich die notwendige Anbindung an die Lebenswelt der Kinder leiste. Sierau freute sich über die blühende jüdische Gemeinde und empörte sich über das unverschämte „Judenzählungsbegehren“ eines neonazistischen Dortmunder Ratsmitglieds.
In den kommenden Monaten wird es viele weitere Veranstaltungen zum Thema geben. Denn das Kriegsende am 8./9. Mai 1945 jährt sich zum siebzigsten Male und kurz zuvor wird der Karfreitagsmorde in der Bittermark gedacht – auch hier gestalten die „Botschafter der Erinnerung“ mit. Außerdem pflegen die Bundesrepublik und Israel seit bald fünfzig Jahren diplomatische Beziehungen. Dortmund wird daran erinnern, natürlich auch zusammen mit seiner israelischen Partnerstadt Netanya, so der OB.
„Überstressung in der Psyche“ – AMCHA kümmert sich um posttraumatische Belastungsstörungen Holocaustüberlebender
In einem ersten, hochpolitischen Vortrag berichtete dann Peter Fischer von der Arbeit seines Vereins „AMCHA“, der sich seit 1987 psychosozial um die Überlebenden des Holocaust kümmert.
Der Name bedeutet auf Hebräisch „Dein Volk“. Fischer wuchs in einer kommunistischen Familie in der DDR auf, der Holocaust war in seiner jüdischen Familie lange kein Thema, die Mutter schwieg, die nächtlichen Albtraumschreie des Vaters waren ein Tabu. Erst ein längerer Forschungsaufenthalt in Polen und ein Auschwitzbesuch änderten das für ihn. Seit den späten 80er Jahren engagiert er sich in der jüdischen Gemeinde und sehr bald schon in „AMCHA“.
Heute leben noch ca. 198.000 Holocaustüberlebende in Israel, größere Gruppen gibt es auch in Russland und der Ukraine, in Frankreich, England und eine kleinere in Deutschland. Fischer erinnerte daran, dass die Nazis bis buchstäblich zur letzten Minute ihrer Terrorherrschaft die europäischen Juden quälten und ermordeten. Als die Rote Armee am 27. Januar 1945 Auschwitz befreite, lebten dort nur noch 7.000 Häftlinge. In diesem Zusammenhang kritisierte er, dass sich die Organisatoren der zentralen Gedenkveranstaltung in Auschwitz nicht um eine Teilnahme Putins bemüht hätten.
Mehrere zehntausend Häftlinge waren, vor den vorrückenden Alliierten her, auf Todesmärschen in noch unbesetzte Gebiete getrieben worden, was unter den Entkräfteten zahlreiche weitere Opfer forderte. Auch in den KZs, die keine Vernichtungslager waren, hatten die Juden nur eine Überlebensrate von 2-5%. Anders als bei den anderen Opfergruppen, mit Ausnahme der Sinti und Roma, wollten die Nazis in ihrem antisemitischen Rassenwahn ausnahmslos alle Juden ermorden. Dieses Todesurteil bedeutete für jeden einzelnen Juden eine permanente „Überstressung“.
Wer wider Erwarten überlebte, trug neben physischen Folgeschäden aus Folter, Hunger, Zwangsarbeit auch extreme psychische Belastungen davon. Nicht nur, dass man fast alle Freunde und Verwandte verloren hatte. Man machte sich Vorwürfe, dass man selbst überlebt hatte. War man nicht allein dadurch schuldig geworden? War das Überleben im Lageralltag mitunter nicht nur auf Kosten von Mithäftlingen möglich gewesen? Viele Überlebende versuchten zu verdrängen, stürzten sich in die Bewältigung der Zukunft, schwiegen auch gegenüber ihren neugegründeten Familien. Die schrecklichen Erfahrungen hatten das menschliche Urvertrauen zerstört, so ließen sich schwer neue Freundschaften schließen.
Dazu kam, dass sich auch in den Aufnahmegesellschaften lange niemand für sie interessierte. In den Ländern im ehemals deutschen Herrschaftsbereich mochte es ein schlechtes Gewissen sein wegen unterlassener Hilfe, Kollaboration und Mittäterschaft, einfach nur Furcht vor Bestrafung oder Angst vor Restititution, von einem fortexistierenden Antisemitismus ganz zu schweigen. Fischer erinnerte hier beispielhaft an die Pogrome im frühen Nachkriegspolen und die Vertreibung der letzten polnischen Juden 1968. Aber auch im frühen Israel feierte man lieber die zionistischen Helden der Staatsgründung und Verteidigungskriege als die „passiven“ Opfer der Shoah. Erst mit dem Eichmann-Prozess Anfang der 60er Jahre begann sich dies langsam zu ändern.
Selbsthilfeorganisation von Holocaust-Überlebenden: Die Arbeit wird nicht weniger, sondern mehr
Aber im Alter kamen die Erinnerungen unerbittlich wieder hoch. Die Einsamkeit trug dazu bei, wenn Partner, eingeweihte Freunde und Leidensgenossen verstorben, die Kinder aus dem Haus waren. So ist es kein Wunder, dass vierzig Jahre danach „AMCHA“ entstand, als Selbsthilfeorganisation von Holocaustüberlebenden. Heute kümmern sich in Israel 450 Fachkräfte und 900 Ehrenamtliche in 14 Zentren um 16.000 Überlebende. Sie machen 50.000 Hausbesuche im Jahr.
Heute kommen immer mehr Kinderüberlebende hinzu, jetzt auch schon in den Achtzigern. Den jungen, ungeschützten Seelen hatten sich die schrecklichen Erfahrungen des Holocaust besonders tief eingebrannt. Auch die Kinder von Überlebenden trugen seelische Narben davon. Die Arbeit wird nicht weniger, sondern mehr.
Fischer regte an, dass die Stadt Dortmund förderndes Mitglied von „AMCHA“ werden sowie jährlich eine Benefiz-Veranstaltung zugunsten der Holocaust-Überlebenden durchführen könnte. Denn „AMCHA“ lebt von Spenden.
Der Redner beschloss seine bewegenden Ausführungen mit einem aufrüttelnden Ausblick: Gerade in Deutschland müssten historische Aufklärung und demokratische Bewusstseinsbildung gegen eine immer noch verbreitete Hasskultur gesetzt werden. Gedenkstättenfahrten Jugendlicher sollten weiter gefördert werden, die gestiegenen Besucherzahlen gingen auf ausländische, nicht deutsche Besucher zurück. Schließlich sollte aber gerade in Deutschland neben der Empathie für die Opfer auch der Blick auf die Täter und „Bystander“ geschärft werden, um so Verhaltensmaßstäbe für eine demokratische Zivilgesellschaft zu entwickeln. Die jungen Weingartenschüler hätten dies mustergültig vorgemacht.
Heimatsucher: „Wir, die wir zuhören, können zu Zeugen werden“ (Elie Wiesel)
Den letzten Teil der Gedenkveranstaltung bestritt Ruth-Anne Damm von „Heimatsucher – Shoah-Überlebende heute“. Das Projekt beleuchtet im Rahmen von Ausstellungen und Seminaren mit Schulklassen die Lebensgeschichten Überlebender.
Sechs ehrenamtliche Personen in Vollzeit, unterstützt von sechs Helfern, tragen den Verein, alle in den Zwanzigern, Mitstreiter willkommen. 18 Überlebende haben sie seit 2010 aufgespürt, 10 in Israel, 8 in Deutschland. Vom 3. Februar bis 10. April wird die Ausstellung in der Steinwache zu sehen sein, begleitet von Fachvorträgen, Workshops und Führungen, darunter der gerade für Dortmund hochaktuelle Schwerpunkt „Geschichte und Gedächtnis in der Migrationsgesellschaft“. Anmeldungen hochwillkommen.
Damm illustrierte und variierte anhand von konkreten Zeitzeugenschicksalen die Befunde Peter Fischers:
Rolf Abrahamson aus Marl überlebte sieben KZs und verlor im Holocaust sämtliche Familienmitglieder. Er litt an Alpträumen und Schlaflosigkeit, die er zunächst mit langen nächtlichen Autofahrten, später mit Teppichknüpfen zu bekämpfen suchte, mehrere hundert Stunden Arbeit braucht einer, sein ganzes Haus hängt voll davon. Gleichwohl baute er im Nachkriegsdeutschland an führender Stelle die jüdischen Gemeinden im Ruhrgebiet wieder mit auf und spricht über sein Schicksal vor Schulklassen. Im Gedenken an seine ermordete Familie kaufte er ein Grundstück im israelischen Akkon und bepflanzte es mit Bäumen. 3000 Bäume zählt der Wald, am 9. März wird er 90, 10.000 Bäume will er schaffen.
Eliezer Ayalon sah 1942, als das Radoner Ghetto in Polen aufgelöst wurde, zum letzten Mal seine Familie. Seine Arbeitserlaubnis bewahrte den damals Vierzehnjährigen vor dem Vernichtungslager Treblinka, nicht jedoch vor fünf weiteren Lagern, darunter auch Plaszow. Dort trieb der aus dem Film „Schindlers Liste“ bekannte SS-Führer Amon Göth sein Unwesen. Elizier wachte nach der Befreiung jeden Morgen mit dem Blick auf ein kleines Tässchen auf, ähnlich dem voller Honig, das seine Mutter ihm damals zum Abschied mit den Worten gab: „Es ist vorbestimmt, dass du ein süßes Leben haben wirst.“ Sechs Tage die Woche arbeitete er daran, dass das Geschehene nicht in Vergessenheit gerät. Der Israeli hielt Vorträge, begleitete Führungen in Yad Vashem und beantwortete Fragen. Seit Elie Wiesel ihm gesagt hatte, dass es vorherbestimmt sei, dass er seine Geschichte erzählt, hatte er damit nicht mehr aufgehört. 2012 starb er.
Chava Wolf, geboren 1932 in Rumänien, gehört zu den Kinderüberlebenden und lebt auch in Israel. Auch heute kann sie von ihren schrecklichen Erlebnissen nur in Form von Bildern und sehr poetischen Gedichten erzählen. Ihre Existenzangst zeigte sich auch in ihrer Panik, wenn ihre Kinder einmal nicht rechtzeitig nach Hause kamen. Aber die Familiengründung empfindet sie als Sieg über die Nazis. Den jungen Heimatsuchern gab sie zum Abschied mit: „Vergesst nie unsere Geschichte.“
Das wollen sie tun. So können die Nachgeborenen zu „Zweitzeugen“ werden, wenn die überlebenden Zeitzeugen verstorben sind.
Das Gedenken und Erinnern in Dortmund geht weiter
Gedenkveranstaltung bildet den Auftakt zu einer ganzen Reihe von Erinnerungsveranstaltungen in diesem Jahr.
Zum Holocaust-Gedenktag am 27.01.2015 hatten die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, der Jugendring, der IBB, die Auslandsgesellschaft, die VHS, die Steinwache, das Schulreferat der Ev. Kirche und die Ev. Jugendkirche in den Bürgersaal des Dortmunder Rathauses eingeladen.
Musikalisch umrahmt wurde die Veranstaltung von einem Ensemble des Bert-Brecht-Gymnasiums unter der Leitung von Susanne Laurischkus, moderiert von Heiko Hamer vom IBB.
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Bündnis gegen Rechts
Einladung: Erinnerung an den „Judenkönig“
„Judenkönig“ – so nannte die SS den Auschwitz-Häftling Nr.58866, Kurt Julius Goldstein, nicht ohne Respekt. Schauspieler Andreas Weißert liest aus dem gleichnamigen Buch von Rosemarie Schuder. Ein Filmporträt von Ingrid Strobl lässt den Juden, Kommunisten und Widerstandskämpfer, der 1904 in Dortmund-Scharnhorst geboren wurde, selbst zu Wort kommen.
Wir laden ein zu einer Veranstaltung des Bündnis Dortmund gegen Rechts und der VVN/BdA Dortmund zum Gedenken an die Befreiung des KZ und Vernichtungslagers Auschwitz am 27. Januar 1945 und an den Beginn der faschistischen Barbarei mit der Machtübergabe an Hitler am 30. Januar 1933.
Die Veranstaltung findet am 30. Januar 2015 um 19 Uhr in der Mahn- und Gedenkstätte Steinwache auf der Nordseite des Hauptbahnhofs statt.