Von Clemens Schröer
Jüngst war eine Dortmunder Delegation aus der Stadtverwaltung und Freien Trägern in der bulgarischen Stadt Plovdiv, um eine vertiefte institutionelle Zusammenarbeit beider Städte zu allen Fragen rund um die bulgarische Armuts- und Arbeitsmigration aufzubauen.
Austausch mit Akteuren vor Ort und Pläne für transnationale Projekte
Sie haben sich vor Ort mit Akteuren ausgetauscht und Pläne für transnationale Projekte besprochen. Ziel ist unter anderem der Aufbau tragfähiger Strukturen in Plovdiv, einer der Herkunftsstädte bulgarischer ZuwandererInnen.
Dieses Programm stellten die beiden Dortmunder Stadtdezernentinnen für Soziales, Birgit Zoerner, und Jugend, Daniela Schneckenburger, sowie die ebenfalls mitgereisten Mitarbeiterinnen freier Träger, Ute Lohde, Betriebsleiterin der Grünbau gGmbH, Uta Schütte-Haermeyer, Fachbereichsleiterin Migration & Integration beim Diakonischen Werk, und Elena Genova, Sozialarbeiterin beim Caritasverband Dortmund, vor.
In Dortmund leben derzeit 3265 BulgarInnen, so viele wie noch nie. Davon kommen 650, ein Fünftel, aus Plovdiv, so viele wie aus keiner anderen Stadt Bulgariens, die übergroße Mehrzahl von ihnen wiederum aus dem abgehängten Stadtteil Stolipinovo, indem zwischen 50.000 und 90.000 Menschen (es gibt unterschiedliche Angaben) leben, überwiegend Roma.
Vier Zielgruppen von bulgarischen Armuts- und ArbeitsmigrantInnen
Damit kommen nach Dortmund vornehmlich nicht gut qualifizierte Facharbeitskräfte, sondern gering bis gar nicht ausgebildete Armuts- und Arbeitsmigranten, die, wie üblich, den einmal angelegten Migrationspfaden und der Maxime folgen, „dass es besser ist, in einem reichen Land arm zu sein als in einem armen“.
Ute Lohde (Grünbau und ISB) machte drei verschiedene Gruppen von Bulgaren aus, die jeweils besonderer Beratung und Betreuung bedürften: Diejenigen, die unbedingt ihre alte Heimat verlassen wollten. Die müsse man schon in Bulgarien auf ihr neues Leben in Dortmund vorbereiten und ihnen hier in Dortmund im Bedarfsfall unter die Arme greifen.
Die zweite Gruppe seien die, die unschlüssig seien, ob sie gehen sollten. Denen sollten zuvörderst Bleibeperspektiven geboten und ebenfalls realistische Einblicke in die Anforderungen und Anlaufschwierigkeiten in Deutschland vermittelt werden.
Und dann gibt es jene, die nach Bulgarien zurückkehrten: Denen müssten Re-Integrationsangebote unterbreitet werden. Jugenddezernentin Daniela Schneckenburger fügte als vierte Gruppe die Hin-und Her-Wandernden hinzu, bei denen die Gefahr dauernder Wurzel- und Perspektivlosigkeit bestehe.
Erfolgreiche Steuerung der Zuwanderung durch ein Fünf-Schritte-Programm
Birgit Zoerner, die sich nicht nur auf kommunaler, sondern auch auf nationaler und europäischer Ebene mit den Zuwanderungsfragen befasst, gab auch hier früh wichtige Anstöße, bei deutsch-bulgarischen Polizeistreifen auf dem Nordmarkt konnte es nicht bleiben.
Denn eine erfolgreiche Steuerung der Zuwanderung, so führte sie aus, könne nicht allein durch das Zielland oder eine einzelne Stadt im Zielland gelingen, sondern müsse auch die Situation im Herkunftsland der MigrantInnenen im Blick haben, sie verbessern helfen. In fünf Schritten wird nun die Zusammenarbeit ausgebaut.
1. Vorbereitung der regelmäßigen Kontakte durch KoordinatorInnen
Angeschoben von EU-Geldern benennen beide Seiten schon vor Projektbeginn KoordinatorInnen, um besser kommunizieren und sondieren zu können, auf Dortmunder Seite ist hier bereits Elena Genova, Sozialarbeiterin beim Caritasverband Dortmund, gesetzt.
Schon in dieser frühen Phase sind Muttersprachler wichtig (bulgarisch, romanes – am besten beides), die nicht nur übersetzen, sondern auch Hintergründe klären können, Missverständnisse und Misstrauen bei der von vielfältigen Diskriminierungserfahrungen geprägten Roma-Minderheit abbauen helfen können.
2. Regelmäßiger Fachkräfteaustausch zwischen Dortmund und Plovdiv
In einem zweiten Schritt soll über das europäische Erasmus-Programm und Rom-Act ein schneller Fachkräfteaustausch organisiert werden, um konkrete Projekte zu entwickeln.
Für Elena Genova, die voll Optimismus ob des fruchtbaren Austausches mit den bulgarischen Kolleginnen und Kollegen zurückgekehrt ist, ist das der wichtigste Teil.
Es geht weiter um Bildungsbeteiligung, ethnische Hintergründe bei der Bildung, frühzeitige Schulvorbereitung, Sozialbetriebe, Fachaustausch, Kinderschutz und Familienförderung.
3. Einrichtung einer Konsultationsstelle in Stolipinovo nach dem Vorbild von „Willkommen Europa“
Drittens soll in Bulgarien eine Konsultationsstelle eingerichtet werden, möglichst in Stolipinovo, komplementär zu „Willkommen Europa“ in der Nordstadt. Hier geht es zunächst einmal nicht um Ausreiseberatung, sondern um Aufklärungsarbeit über die Lebensumstände in Deutschland, die Schulung von Multiplikatoren.
Die Dortmunder staunten nicht schlecht, als ihnen die bulgarischen Schuldirektoren erklärten, in Deutschland bekäme man doch sofort Sozial- oder Arbeitslosenhilfe. Die Auswanderungswilligen müssten ein realistisches Bild von den Chancen auf dem deutschen Arbeitsmarkt bekommen.
Man solle schon zuhause gute Deutschkenntnisse erwerben, seine Papiere beisammen haben (bei den Geburtsurkunden fängt es an, bei Krankenversicherungskarten hört es nicht auf). Hier würden oft falsche Gerüchte gestreut, weil die Migration für interessierte Kreise ein glänzendes Geschäft sei (zurückgelassene Werte, teure Transfers, ausbeuterische Schwarzarbeits- und Vermietungsstrukturen in Deutschland usw.).
4. Ziel: Konkrete bedarfsbezogene Projekte beruflicher Qualifizierung ausbauen
Viertens geht es um konkrete bedarfsbezogene Projekte beruflicher Qualifizierung vor Ort. Für Bulgarien wurde die schon existierende Schneiderwerkstatt hervorgehoben. Sie soll kräftig ausgebaut werden, die ersten Absolventinnen konnten sich mittlerweile selbständig machen.
Weitere Sozialbetriebe wird es geben. Nicht zuletzt weil Plovdiv 2019 europäische Kulturhauptstadt sein wird, werden aber auch Bildungs- und weitere Kulturprojekte dazukommen.
So hoch auch die Arbeitslosigkeit in Bulgarien und hier wieder besonders bei den Roma ist, zugleich herrscht ein Mangel an qualifizierten Fachkräften, etwa im Medizin- und Pflegebereich, hier soll die Chance der Nachqualifizierung mit deutscher Unterstützung energisch ergriffen werden.
5. Unterstützung des Bildungsweges von Anfang an
Ein fünfter Schwerpunkt wird auf der „Unterstützung des Bildungsweges von Anfang an“ liegen, kein Kind soll zurückgelassen werden, damit alle eine realistische Chance erhalten, um ein Leben in Selbständigkeit führen zu können.
Die Dortmunder Jugend- und Schuldezernentin Daniela Schneckenburger schloss hier an, sekundiert von Uta Schütte-Haermeyer, Fachbereichsleiterin „Migration & Integration“ beim Diakonischen Werk.
Bei vielen bulgarischen Kindern in Dortmund ist die Befolgung der Schulpflicht ein Problem, dies kann daran liegen, dass sich mittlerweile mehr ZuwandererInnen auf den Weg machen, die bildungsferner und weniger bildungsbeflissen seien.
Aber auch ganz praktische Gründe gebe es: Wenn die alleinerziehenden Mütter arbeiten gingen, dann passten eben deren schulpflichtigen Kinder auf ihre kleineren Geschwister auf und blieben somit der Schule fern.
Den bulgarischen Weg, volles Kindergeld nur bei regelmäßigem Schulbesuch, kann, will und darf Deutschland aus grundrechtlichen Prinzipien nicht gehen. Überdies halfen diese Zwangsmaßnahmen auch nicht, die hohe Zahl von Schulabbrechern in Stolipinovo zu senken.
Wert von Bildung und beruflicher Qualifikation nur schwer zu vermitteln
Doch ist der Wert von Allgemeinbildung und beruflicher Qualifikation auch nur schwer zu vermitteln, gab Ute Lohde von Grünbau zu bedenken, wenn sogar Vollakademiker das Land verlassen, weil sie von den kargen Gehältern zuhause ihre Familien nicht ernähren können und deshalb im Ausland besser bezahlte Hilfsjobs annehmen müssen.
Auch die Zahl von ZuwandererInnen steigt, die behinderte Familienangehörige haben, denen in Bulgarien nicht oder unzureichend geholfen wird.
Ein anderes Problem sind die Kinder von RückkehrerInnen. Sie werden in Bulgarien wieder in die erste Klasse zurückgesetzt, da es bisher keine hinreichende und in Bulgarien anerkannte Dokumentation ihres Schulweges in Deutschland gibt, auch wenn sie hier schon in der dritten Klasse waren.
Dies müsse im Einvernehmen mit den bulgarischen Stellen schnellstens geändert werden. „Reisen bildet“, meinte Frau Schneckenburger und so nahm sie nach Dortmund das Konzept der Sommervorschule aus Plovdiv mit. Hier werden Kinder gezielt auf die Primarschule vorbereitet.
Weitere Felder sind länderübergreifende Maßnahmen gegen Menschenhandel mit Kindern und die Gewährleistung des Kinderschutzes (hier sind die Regelungen ähnlich den deutschen).
Alltagspragmatismus, jedoch unterschiedliche Akzentsetzungen zwischen Rot und Grün
Birgit Zoerner verfolgt einen klassisch sozialdemokratischen Ansatz. Der geht von den allen Menschen gemeinsamen Bedürfnissen nach gesicherten Lebensverhältnissen, Arbeit, Wohnung, medizinischer Versorgung, schulischer Bildung usw. aus.
Aufgabe der Politik sei es dann, den Menschen bei Bedürftigkeit zu helfen, wozu im weiteren Umfeld natürlich auch politische Teilhabe, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gehören, gleich ob in Dortmund oder Plovdiv.
Demgegenüber treten spezifische ethnische oder soziokulturelle Fragen zurück. Fixierungen darauf erscheinen bei der Problembewältigung eher als hinderlich, von rechtspopulistischen, völkisch-rassistischen Verzerrungen ganz zu schweigen.
Konsequenterweise fiel das Wort „Roma“ denn auch erst nach einer guten halben Stunde, als Daniela Schneckenburger ihre Eindrücke schilderte. Während die Grünen-Politikerin stärker darauf abhob, dass es darum gehe, in beiden Ländern menschenwürdige Lebensverhältnisse für die benachteiligte Minderheit zu schaffen, bekräftigte Zoerner, dass durch Aufklärung und vor allem Perspektivenverbesserung in Bulgarien aber auch die Zuwanderung nach Deutschland reduziert werden solle.
Natürlich greifen beide Ansätze aber in der Praxis wieder ineinander, das machten die Vertreterinnen der Freien Träger in ihren Statements mehr als deutlich.