Wer sich von der Schützenstraße kommend in Richtung City bewegt, dem wird seit diesem Wochenende mehr geboten als der Blick auf Beton. Hunderte Schwarz-Weiß-Fotos, dicht an dicht, zeigen die Gesichter von Menschen – alt und jung, Männer und Frauen, verschiedene Nationen, überlebensgroß und alle ein wenig schräg.
Zeig dein Gesicht und drück aus, was du fühlst!
Die Portraits sind das Ergebnis einer Kooperation der „44309 – Street Art Gallery“ mit der „UZwei“, der Abteilung für kulturelle Bildung im Dortmunder U und Teil des „InsideOut“-Projekts des französischen Street Art-Künstlers JR.
Unter dem Motto „Face the Present – share your Inside“ waren die Dortmunder:innen aufgerufen Gesicht zu zeigen und ihren Empfindungen nach zwei Jahren Pandemie Ausdruck zu verleihen. An fünf Terminen entstanden 391 Aufnahmen – knapp 250 finden auf der Betonmauer ihren Platz, weitere Ort sind im Gespräch.
Auf den Fotos sind die Gesichter im Fokus, ihr Ausdruck ist durch die extreme Nahaufnahme überzeichnet. Es gibt viele lachende, aber auch nachdenklich blickende Menschen, manche nehmen besondere Posen ein oder ziehen extra eine komische Grimasse – in jedem Fall sieht es so aus, als hätte es allen großen Spaß gemacht.
Eines der größten partizipativen Kunstprojekte der Welt
Die Idee basiert auf der Arbeit des berühmten Street Art Künstler JR, der – statt „klassisch“ zu sprayen – Wände im öffentlichen Raum mit seinen Fotos tapeziert. Fast immer stehen Menschen und soziale Missstände im Mittelpunkt seiner Arbeit und seine Fotos sollen ihnen und ihren Anliegen zu mehr Sichtbarkeit verhelfen.
JR hat Solo-Projekte, aber man kann sich ihm auch anschließen: „Mit dem Projekt INSIDE OUT gibt JR seit 2011 Menschen die Möglichkeit, ihre Porträts und Anliegen mit der Welt zu teilen“, erklärt Daniela Bekemeier von der Street Art Gallery. „INSIDE OUT“ ist eines der größten partizipativen Kunstprojekte der Welt geworden, an dem bereits mehr als 400.000 Menschen aus 138 Ländern teilgenommen haben. Nun also auch in Dortmund.
Mit 21-mm den Menschen auf die Pelle rücken
In Zusammenarbeit mit dem Dattelner Fotograf Ken Kodak reichte Bekemeier das Konzept bei „INSIDE OUT“ ein und bekam ein OK zur Umsetzung.
Kodak interpretierte die Idee der Nähe zu den Menschen mit seiner Technik extrem, indem er für die Fotos ein Kameraobjektiv mit nur 21-mm Brennweite nutzte. Die Folge ist fast schon ein „Fischauge-Effekt“.
So nah an den Menschen zu sein erfordert Mut von beiden Seiten. Manch einer war erschrocken, sich so extrem dargestellt zu sehen. Am Ende haben aber alle ihre Freigabe zur Verwendung der Fotos erteilt.
Kennen Sie den oben links? Bin das nicht ich?
Die langen Fotoreihen anzuschauen und Bekannte zu suchen macht Spaß – ist das nicht die Kellnerin aus der Eisdiele Kugel-Pudel? Woher kenne ich den Mann unten rechts?
Und schließlich kann man sich auch selbst entdecken: so zum Beispiel Theo West. Der Dortmunder Journalist und Entertainer liebt schräge Photos und hat von der Aktion über Instagram erfahren. Er war sofort begeistert und hat sich bei einem der ersten Termine in der Galerie in nicht ganz ernst gemeinter „Verzweiflungspose“ porträtieren lassen.
Sein Foto vom Foto wird sich nun wieder bei Instagram verbreiten. Auch Michael Pfau hat sich auf der Wand entdeckt. Die Hängung und sein Bild gefallen ihm, auch wenn er rückblickend vielleicht eine andere Geste wählen würde.
Vier Tage tapezieren – einfacher als im Wohnzimmer
Die Plakatierung liegt übrigens in Profi-Händen. Marlon Wuttke und Cedric Stange haben die Wand gereinigt, vorbereitet und kleben seit drei Tagen Kopf an Kopf.
Die Aktion macht ihnen Spaß, Marlon hat bereits seine Cousine entdeckt. Ein besonderer Auftrag für die beiden, aber einfacher, als in einer Wohnung zu tapezieren, findet Stange, „denn die eine oder andere Falte ist hier kein Drama.“
Wie lange die Bilder halten werden, hängt insbesondere vom Wetter ab. Drei bis sechs Monate kann es dauern, bis alles verwittert. „Das ist das Schicksal von Kunst im öffentlichen Raum“, weiß Daniela Bekemeier. Auch mit Schnurrbärten, Schmierereien und Vandalismus müsse man rechnen.
Eintagsfliege oder nachhaltiges Konzept?
Noch ist das Projekt also eine kleine Bereicherung für diese schwierige Ecke. Hier am Übergang von der Nordstadt in die City haben sich ja schon einige versucht – zum Beispiel ein Stück weiter unten, in der Unterführung zur Schützenstraße selbst. Der Dreck der Abgase hat das Design hier längst zerstört und die Passage ist so dunkel und unangenehm wie eh und je.
Sollten die Portraits in wenigen Monaten also auch nur noch in traurigen Fetzen an der Wand hängen, ist zu hoffen, dass sich jemand dafür verantwortlich fühlt und vielleicht sogar einen Plan B hat. Ein wenig Grün wäre zum Beispiel nicht verkehrt – das wäre nachhaltig und gut für die Klimabilanz.
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