Über Jahre hinweg konnten Rechtsterroristen ungehindert durch Deutschland ziehen und morden. Hatten sie wirklich keine Hintermänner, keine Mittäter? Welche Spuren hinterlassen Rassismus und rechte Gewalt in der migrantischen Community? Wie hat es sich auf die Opfer des NSU-Nagelbombenanschlags in der Kölner Keupstraße ausgewirkt, dass sie selbst dieser Tat verdächtigt wurden? Diese und andere Fragen wurden bei der Diskussionsveranstaltung „Die haben gedacht, wir waren das“ in der Auslandsgesellschaft diskutiert.
Vorwürfe trafen die Opferfamilien schwer – sie leiden bis heute darunter
Zu den Vorwürfen der Ermittler gehörten: Streit unter türkischen Geschäftsleuten, Verbindungen zum Rotlichtmilieu, dem Drogenhandel und zur Türsteherszene – Innenminister Otto Schily schloss am Tag nach dem Attentat einen terroristischen Hintergrund aus.
Auch in Dortmund – in seinem Kiosk auf der Mallinckrodtstraße – wurde ein Dortmunder mit Migrationshintergrund, Mehmet Kubasik, ermordet.
Die Polizei vermutete, der Türkischstämmige könnte in den Drogenhandel verwickelt gewesen sein. Die Hinterbliebenen traf dieser Vorwurf schwer. Bis heute haben sie damit zu kämpfen.
Das Buch versammelt 30 Autorinnen und Autoren samt deren Texte
Zum NSU-Komplex sind inzwischen zahlreiche Publikationen erschienen. Die Sichtweise der Betroffenen kam dabei meist zu kurz. Inzwischen liegt das Buch „Die haben gedacht, wir waren das“ vor.
Darin äußern sich Migrantinnen und Migranten über rechten Terror und Rassismus. Der Verlag dazu: „Opfer und ihre Angehörigen, Persönlichkeiten aus Publizistik, Wissenschaft und Politik, Akteure der antirassistischen Arbeit, Bekannte und Unbekannte, allesamt mit Migrationshintergrund, nehmen in diesem Buch Stellung, geben ihre Erfahrungen wieder, beleuchten die Auswirkungen des NSU-Terrors sowie der um sich greifenden rassistischen Gewalt und schildern, wie das auf sie wirkt und was sie dabei bewegt.“
Beiträge von über 30 Autorinnen und Autoren versammelt das Buch. In der Auslandsgesellschaft NRW in Dortmund wurde das Buch vorgestellt, daraus gelesen und darüber diskutiert.
Bedauerlich, dass die Autorin und Mitherausgeberin des Buches, Bahar Aslan (sie blieb mit ihrem Auto liegen) und der Musiker, „Initiative Keupstraße ist überall“, Kutlu Yurtseven (kam aufgrund einer Verkehrsstörung im Nahverkehr nicht aus Köln weg) nicht anwesend sein konnten.
Es wurde dennoch ein interessanter, von Bastian Pütter (bodo e.V.) moderierter Abend vor einem hoch interessierten Publikum. Den klugen Fragen des Moderators stellten sich Caner Aver (Präsident der Türkisch-Deutschen Studierende und Akademiker Plattform e.V.) sowie Ali Sirin (Sozialwissenschaftler, Planerladen e.V.).
Die deutschen Behörden haben beim NSU-Komplex „maximal versagt“
Caner Aver wie auch die anderen Autorinnen und Autoren des Buches habe vor allem bewegt, wie es hatte sein können, dass in zehn Jahren ein Terror-Trio nicht auffindbar gewesen sein soll. Und das „in einem der entwickeltesten Länder weltweit“!
Auch die Frage, wie war es möglich, dass so viele wichtige, den Fall betreffende Akten, geschreddert werden konnten – ohne personelle Konsequenzen! Wo doch die deutschen Sicherheitsorgane eigentlich ansonsten immer recht effektiv arbeiteten. Aver nannte die oft rasche Ermittlung von islamistischen Terroristen.
Aber im Falle des NSU-Komplexes „maximal versagt“ hätten. Speziell fragte Moderator Pütter dann zum Anliegen von Caner Aver, der dies in seinem mit „Wir fordern Aufklärung!“ überschriebenen Text im Buch zum Ausdruck bringt.
„Bindestrich-Identitäten“ als Brückenbauer
Aver sprach über die wichtige Funktion der Brückenbauer. Menschen mit Migrationshintergrund, die sich in beiden Kulturen auskennen. „Bindestrichidentitäten“ nennt sie Caner Aver: „Die sowohl Anwalt ihrer eigenen Community sind“, gleichzeitig in die Mehrheitsgesellschaft eingebunden seien und so als Bindeglied agierten. Sie wollten ein „neues Wir“ erstellen.
Sie könnten sich differenzierter äußern – auch im Falle des NSU-Komplexes. Allerdings schränkte Aver ein, kämen mittlerweile auch sie – die dieses Land immer als ehrlich und rechtsstaatlich (etwa im Vergleich mit der Türkei) empfunden hatten – in Konflikte. Die Widersprüche bei der Ermittlung oder Nichtermittlung der Hintergründe des Rechtsterrors seien einfach zu groß.
Aufgabe: Förderung des Miteinanders und der Solidarität im Stadtteil
Der Dortmunder Ali Sirin beschrieb die Aufgabe des Planerladens als Förderung des Miteinanders und der Solidarität im Stadtteil, der einen migrantischen Anteil von 70 Prozent hat.
Eines der Büros des Planerladens liegt nicht weit entfernt von der Stelle, wo Mehmet Kubasik ermordet worden ist. Die Ist-Situation im Stadtbezirk schätzt Sirin ein, sei eher „ein friedliches Nebeneinander als ein wirkliches Miteinander“.
Selten kämen Menschen unterschiedlichster Herkunft zusammen. Dieses Jahr, berichtete Sirin, seien 500 Menschen zur Kundgebung, die an die Ermordung von Mehmet Kubasik erinnern soll, gekommen. Toll könne man meinen. Aber sei das „viel bei fast 600 000 Einwohnern momentan?“, stellte Sirin in den Raum. Allein im Stadtteil wohnten rund 60 000 Menschen.
Der Sozialwissenschaftler sprach auch über seine Eltern: Die hätten früher immer sehr positiv vom deutschen Staat gesprochen. „Der sei keine Bananenrepublik.“ Inzwischen aber wären sie erschrocken.
Die zweifelhafte Rolle des Verfassungsschutzes im NSU-Fall etwa gebe ihnen zu denken, ebenso wie die vielen rechtsextremen, mit Steuergeld bezahlten, V-Leute in dieser Szene. Und kann es wirklich Zufall sein, dass drei wichtige Zeuge unter fragwürdigen Umständen ums Leben kamen?
Ali Sirin sprach über seine Arbeit und „Ein Land im Unbehagen“
Dazu käme eine zunehmende Enttäuschung in der migrantischen Community über das bis heute unerfüllte Versprechen von Bundeskanzlerin Angela Merkel für Aufklärung im NSU-Fall zu sorgen.
Ali Sirin sprach von einem an bei einer Tagung an die Wand projiziertem Papier der Staatsanwaltschaft, wo hinter einem der Namen „Sinto“ („Zigeuner“) gestanden habe.
Das erinnere an finstere, längst überwunden geglaubte Praktiken. So etwas erschüttere das Vertrauen von Menschen mit Migrationshintergrund und mache unsicher. Zusätzlich würden Ängste geschürt. Sirin: „Gerade in Zeiten wo es vielen Menschen schlecht geht.“
Der Aufstieg der AfD sei beängstigend. Was er kritisch sieht: Nicht einmal die migrantischen Menschen in Dortmunder Norden hielten zusammen. – höchstens, wenn es gegen Roma ginge. Jeder Mensch habe eben seine eigenen Probleme, Sorgen und Nöte.
Wie es Menschen wie ihm oft ergeht, sagte er auch. Man frage ihn nicht selten wo er herkomme. Dann antworte er: Dortmund. Auf die Frage wo er ursprünglich herkomme antworte er mit Duisburg. Und die Eltern? „Aus Gladbeck“.
Über seine Eindrücke schrieb Ali Sirin auch in seinem für das diesem Abend in Dortmund in Frage stehenden Buches unter dem Titel „Ein Land im Unbehagen – Sehnsucht nach Solidarität“. Woraus Sirin dann auch las.
Der zunehmende Rassismus und die Glaubwürdigkeitskrise der Institutionen
Caner Aver skandalisierte den nach der Wiedervereinigung massiv gestiegenen Rassismus. Erinnerte an die rassistischen Morde von Mölln und Solingen. Schon zuvor hätte die Gesellschaft massiv dem Rassismus vehement begegnen müssen.
Bei nicht wenigen Migranten sei der Eindruck entstanden, „die wollen uns gar nicht haben hier in Deutschland“. Die ab dem Jahr 2000 gestiegene Abwanderung aus der Community der Türkischstämmigen ins Land ihrer Eltern sieht Aver damit im Zusammenhang stehen.
Eine Glaubwürdigkeitskrise der Institutionen stelle er fest: Der Eindruck entstehe, in den staatlichen Systemen existierten bestimmte Subsysteme, die möglicherweise einer eigenen Agenda folgen. Auf denen „vielleicht eine schützende Hand“ liege.
Eine Mordserie, die über zehn Jahre hat nicht aufgeklärt oder überhaupt hat gestoppt werden können? Wie sei das möglich. Das sei ja mindestens ein Systemversagen. Oder existiere womöglich gar etwas wie ein „tiefer Staat“ oder „Staat im Staat“ auch in Deutschland? Wie könne das sein, in einem Deutschland in dem soviel von Menschenrechten die Rede sei?
Caner Aver: „Das Buch müsste an jeden Parlamentarier gehen“
Immer im Auge behalten werden müsse die Demokratie. Die sei nichts, was selbstverständlich ist. Europaweit bestünden große Probleme. Aver: „Wir erleben möglicherweise so etwas wie die Geburtswehen einer neuen Gesellschaft.“
Das an diesem Abend in Dortmund besprochene Buch, empfahl Caner Aver, „müsste eigentlich an jeden Parlamentarier gehen“.
Die demokratischen PolitikerInnen hätten angesichts der Wahl von Donald Trump und des fortschreitenden Rechtsrucks in Europa gerade im nächsten Jahr vor und während der Bundestagswahl und Landtagswahlen eine große Verantwortung.
Höre man Opfer-Anwälten im NSU Fall zu, falle man vor Empörung vom Hocker, sagte Aver. Zwar sitze manchmal einer von denen, Mehmet Daimagüler beispielsweise, in einer Talkshow, müsse sich aber eher selbst verteidigen als über Elementares zu Worte zu kommen.
Ali Sirin: Das Desinteresse aneinander überwinden
Ali Sirin rät den Menschen selbst etwas für eine solidarische Gesellschaft zu unternehmen. Wer kenne schon seinen Nachbarn – diesen manchmal nicht einmal mit Namen -? Was passiert auf der Straße?
Sirin sprach den Fall eines alten Herrn in Essen an. Der hatte einen Herzinfarkt erlitten und lag auf dem Boden der Automatenhalle einer Bankfiliale. Menschen waren achtlos über ihn hinweg gestiegen und hatten ihr Geld gezogen. Hätte jemand eine Ambulanz gerufen, der Mann wäre noch am Leben. Das Desinteresse der Menschen an- und untereinander sei wirklich bedenklich zu nennen.
Fragen aus dem Publikum erhellten zusätzlich noch manch Aspekt rund um den Umgang mit dem NSU-Komplex. Ali Sirin las aus dem Beitrag von Fatih Cevikollu zum an diesem Abend vorgestelltem Buch „Die NSU-Nummer …“. Darin hat Cevikollu u.a. das Schreddern von NSU-Akten satirisch aufgearbeitet.
Umdenken bei Einwanderung: „Wir brauchen einen Paradigmenwechsel“
Fazit des Abends: „Wir brauchten auch“, so Caner Aver, „einen Paradigmenwechsel“. Auch was die Handhabung von Einwanderung anbelange. Wünschenswert sei zwar, dass der von unten nach oben angestoßen würde. Es ginge jedoch schneller, wenn er von Oben nach Unten eingeleitet würde.
Ali Sirin ergänzte, man müsse trotz Rückschlägen ständig an der Integration weiterarbeiten. Alle Möglichkeiten und Veranstaltungen müssten dafür genutzt werden. Auch in die Schulen müsse immer wieder gegangen werden.
Zum Schluss wurde abermals kräftig für den Erwerb des Buches geworben. Denn es gehöre nicht nur unbedingt in die Hände von PolitikerInnen, sondern auch in die Hand aller StaatsbürgerInnen.
Jedenfalls gehöre es in die Hände derer, denen an einer solidarischen und sich gedeihlich entwickelten Gesellschaft und den Schutz unserer Demokratie gelegen ist.
Das Buch ist im PappyRossa Verlag erschienen und kostet 16, 90 Euro.