Auf dem Nordmarkt ist der Frühling angekommen. Es ist ein buntes Bild und ein fröhliches Treiben – Kinder, Aktionsstände, bunte Plakate. Aber wieso die vielen leeren Stühle? Es geht um ein ernstes Thema: In der Nordstadt fehlen 400 Grundschulplätze sowie Kindertagesstätten und Kinderärzte.
Forderung nach 400 Grundschulplätze bis August
Die Aktion „400 Stühle: Gemeinsam gegen Bildungs- und Teilhabebenachteiligung in der Nordstadt!“ hat nahezu alle Akteur:innen versammelt, die sich in Dortmund für dieses Thema einsetzen: Die Diakonie, das Jugendforum Nordstadt, Train of Hope oder auch die Volkshochschule, Nordstamm, der Quartierstreff Concordia und die AWO-Tochter dobeq sind mit Infoständen vertreten. Gut so, denn das Thema drängt und es hat viele Facetten.
Drei Monate sind es noch, bis am 4. August die Schule wieder beginnt und wenn es nach Tülin Kabis-Staubach (Vorstand Planerladen) ginge, dann dürfte kein verantwortlicher Politiker in den Urlaub fahren, bevor die 400 fehlenden Grundschulplätze nicht gesichert sind. „Kein Kind darf zurückgelassen werden,“ fordert sie und so schalt es dann im Chor über den Nordmarkt.
Nordstadt-Ideen als Teil einer internationalen Studie
Der Planerladen hat den Aktionstag organisiert. Er findet im Rahmen von ReRoot statt, einem internationalen Forschungsprojekt, das sich den Herausforderungen in sogenannten „Ankunftsstädten“ widmet – also Städten bzw. Orten, in denen vergleichsweise viel Zuwanderung stattfindet oder auch Geflüchtete ankommen. Neun Partner in acht Ländern sind dabei. Zum Beispiel Paris, Thessaloniki und Budapest, Stadtteile in Amsterdam und London, und eben die Dortmunder Nordstadt. Ziel des Forschungsprojekts ist es, von den Erfahrungen vor Ort zu lernen und Fragestellungen und Ideen zu vernetzen.
Brückenprojekte als Vorbilder weiter stärken
Neben dem Planerladen ist in Dortmund das Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung (ILS) bei ReRoot an Bord. Projektleiterin Heike Hanhörster und ihre Kollegin Cornelia Tippel forschen zur Frage: „Wie fassen Zugewanderte Fuß?“ und haben dazu zahlreiche Interviews geführt.
Für Hanhörster ist klar: „Der Schlüssel ist Bildung.“ Erfolgversprechend sind aus ihrer Sicht vor allem Bildungsinitiativen, die Kinder und Eltern gleichermaßen einbinden. In der akuten Situation findet sie die sogenannten „Brückenprojekte“ vorbildlich, die auf die Schule vorbereiten bzw. die Zeit bis zum regulären Schulplatz überbrücken.
Sie sollten weiter gestärkt werden, denn sie funktionieren niedrigschwellig, die freien Träger benötigen verhältnismäßig wenige Mittel und man könne hier sehr viel erreichen.
Bezirksbürgermeisterin Hannah Rosenbaum: „Es geht hier um Gerechtigkeit“
Bezirksbürgermeisterin Hannah Rosenbaum ist ebenfalls vor Ort und würde den ILS-Wissenschaftlerinnen vermutlich zustimmen. Doch ihr geht es um mehr. Kreative Zwischenlösungen sind notwendig, aber „es ist auf Dauer keine Lösung Kinder aus der Nordstadt in den Bus nach Hörde zu setzen“, betont Rosenbaum.
Die Stadt habe hier nachzuarbeiten und es gehe dabei auch nicht nur um das Thema Schule. „Es geht um Kitas. Es geht um Kinderärzte. Es geht um Gerechtigkeit und um gleiche Voraussetzung für den Start ins Leben für alle hier“, so Rosenbaum. Das koste Geld, aber es sei eine Investition in die Zukunft.
Die Kindertagesstätten erfüllen wichtige Funktionen
So sieht es auch Tim Klockenbusch. Klockenbusch ist Fachbereichsleiter der Beratungsstelle Westhoffstraße im Sozialen Zentrum. Tagtäglich erlebt er, was es bedeutet, nicht frühzeitig an Bildung und sozialer Fürsorge teilhaben zu dürfen. Die 400 Grundschulplätze sind für ihn nur eine symbolische Zahl – die Tendenz sei ohnehin steigend. Seiner Meinung nach, muss man früher ansetzen.
„Es macht einen Unterschied, ob du schon in der Kita die deutsche Sprache lernst, mal den Westfalenpark besuchst, soziale Kompetenz erwirbst und Teilhabe erfährst“, so Klockenbusch. Später sei dies kaum noch aufzuholen.
Er kennt solche Biografien aus der täglichen Arbeit: „Da bekommt dann jemand den Stempel Förderschule aufgedrückt, der nie eine richtige Chance hatte, da er erst mit acht Jahren Zugang zu einer Schule bekommen hat“, berichtet Klockenbusch. Verschenktes Potenzial sei das, wo es doch an allen Ecken an Fachkräften fehle. „Wir verzichten auf Ressourcen, die schon da sind“, gibt er zu bedenken.
Die Kita „Weltenbummler“ stellt sich und ihre Wünsche vor
Die Kinder der Kita „Weltenbummler“ sind so eine „Ressource“ und erobern die Herzen der Anwesenden im Sturm. Sie haben für den Aktionstag zwei Plakate gebastelt. Mit dem ersten Plakat geben sie stolz in kleinen Interviews Auskunft, was ihnen im Kita-Alltag wichtig ist: basteln, raus gehen, turnen oder auch die Polizei besuchen und dort lernen, wie man über die Ampel geht.
Das zweite Plakat zeigt die Sorgen und Botschaften der Eltern, die für ihre Kinder keinen Kita-Platz bekommen konnten: Stress und Angst, keinen Einstieg in das System zu finden, sind darauf zu lesen.
OB Thomas Westphal will machen – aber wie?
Dann kommt der Oberbürgermeister auf den Nordmarkt und es ist Thomas Westphal durchaus anzurechnen, dass er da hingeht, wo es wehtut. Dies ist kein leichter Termin und das weiß er auch. Aber was soll er auch machen?
Konkret, jetzt, bis zum Beginn des neuen Schuljahrs im August für Veränderung zu sorgen, das ist für ihn illusorisch. Die Bedarfe kennt er, die Zahlen schätzt er sogar höher ein und daher sei das Thema „jede Woche auf der Tagesordnung“, versichert Westphal.
Die Lessing-Grundschule wird umgebaut, die Stadt habe auch bereits Neubauprogramme gestartet, doch man komme eben nicht so schnell hinterher. 700 neue Plätze werden bis 2026/27 entstehen, denn „Bauen dauert“, so Westphal und immerhin will er trotz steigender Kosten im Baubereich an der Planung festhalten.
„Wir müssen machen und wir wollen auch machen“, so Westphal. Im persönlichen Gespräch mit Betroffenen zeigt sich der Oberbürgermeister offen, verteilt seine Visitenkarte und verspricht sich zu kümmern. Das ist engagiert, für den Einzelnen möglicherweise ein Glücksfall, aber ein Tropfen auf den heißen Stein.
Positionspapier des Netzwerk Jugendhilfe liegt vor
Gibt es denn grundsätzlich Ideen für Lösungen? Für Westphal könnten sie langfristig in veränderten Zuständigkeiten zwischen Land und Kommune liegen, um Finanzierung und Handlungsspielraum bei Kitas und Grundschulen zu vereinfachen. Er sieht für viele der aktuellen Probleme auch strukturelle Ursachen.
Thomas Klockenbusch vom Sozialen Zentrum sieht die Praxis. Er wünscht sich mehr Kreativität und weniger Bürokratie und das die „Inbetriebnahme einer Kita nicht daran scheitert, dass eine Rampe fehlt oder die Fensterbank zwei Zentimeter zu flach ist“.
Im Jugendhilfe Netzwerk Dortmund hat er sich mit anderen Aktiven weitere Gedanken gemacht. Die Rolle der Alltagshelfer:innen und Bildungsmediator:innen sollte gestärkt werden, die „Kinderstuben“ könnte man ausbauen, denn „mit sozialversicherten Tagesmüttern und einer Wohnung ist uns oft mehr geholfen, als mit dem Bau einer Monster-Kita“, so Klockenbusch. Ein Positionspapier des Netzwerks mit weiteren Ideen liegt vor – vielleicht nimmt es OB Westphal ja mit auf die nächste Tagesordnung? Es wäre zu wünschen.
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Planerladen veröffentlicht Video zur Protestaktion „400 Stühle“ (PM)
Nordmarkt Dortmund, 4. Mai 2023: Die Aktion „400 Stühle“ von Planerladen und ILS Research machte auf den Mangel an Schul- und Betreuungsplätzen in Dortmund aufmerksam. Bewohner*innen und Akteur*innen setzten gemeinsam ein Zeichen gegen Bildungs- und Teilhabebenachteiligung!
Die Nordstadt ist Dortmunds kinderreichster Stadtteil, hier findet die Integration neu zugewanderter Menschen statt. Hier werden die wichtigsten Weichen für das Ankommen und Vorankommen gestellt – und hier müssten Bildung und Teilhabe eigentlich den höchsten Stellenwert haben.
Doch es fehlt an guten Startvoraussetzungen: Rund 400 wohnortnahe Schulplätze fehlen, es mangelt zudem auch an Betreuungsplätzen in Kitas, Familienzentren, Kinderstuben oder der Tagespflege, sodass die sogenannten Brückenprojekten oftmals die einzige Übergangslösung darstellen. Außerdem gibt es zu wenig Kinderärzt*innen und psychologische Angebote, die in schwierigen Situationen unterstützen könnten.
Und selbst, wenn ein Schulplatz zur Verfügung steht, sind insbesondere Kinder aus der Nordstadt benachteiligt: Denn da hier der Mangel am größten ist, müssen sie oftmals Schulen in anderen Stadtbezirken besuchen, zu denen sie eigens mit Bussen gefahren werden müssen. 350 Kinder sind davon betroffen – nicht nur ein großer Aufwand, sondern vor allem auch eine Belastung für die Kinder und ihre Familien.
Dies ist kein kurzfristiges Phänomen, eine weitere Zuspitzung wird erwartet – monatlich kämen ca. 150 Kinder hinzu, die keinen wohnortnahen Schulplatz haben, erklärte kürzlich eine Dortmunder Politikerin in den Ruhr Nachrichten. All das hat mittel- und langfristig negative Auswirkungen auf die gesamte Bildungsbiografie der Kinder und Jugendlichen, die bereits die belastenden Jahre der Corona-Pandemie hinter sich haben.
Die Situation in der Nordstadt zeigt: Bildungseinrichtungen und –angebote fehlen besonders dort, wo sie am meisten gebraucht werden, und wo die Menschen weniger Ressourcen haben, um sich Gehör zu verschaffen. In diesem Sinne veröffentlicht der Planerladen nun das Video der Aktion 400 Stühle, um allen betroffenen Kindern und Eltern eine Stimme zu geben:
https://www.youtube.com/watch?v=k4C_B2ofTz0
Die Organisator*innen danken hiermit allen Institutionen und Personen, die an der Aktion mitgewirkt und somit ein Zeichen gesetzt haben! Neben allen betroffenen Kindern und Familien ist dieses Video ganz besonders auch als Wertschätzung für sie und ihren Einsatz gedacht.
Das Video entstand im Rahmen des Projektes INKLUDO 2.0. INKLUDO 2.0 wird gefördert mit Mitteln aus dem Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds (AMIF) der EU.