Die katholische Kirche, der Sex und die 50er Jahre: „Komm in meinen Wigwam“ im Dortmunder Schauspiel

Heinrich Fischer in "Komm in meinen Wigwam". Fotos: Theater Dortmund
Heinrich Fischer in „Komm in meinen Wigwam“. Fotos: Theater Dortmund

Das sittliche Wohlergehen des jungen Menschen ging ihnen über alles. Beschützt und behütet sollte er seinen Weg in die Welt der Erwachsenen finden. Wenn da nur diese fluchwürdige Sexualität nicht gewesen wäre, die ja irgendwie zum Leben dazugehört, aber doch mächtig stört.

Zumal sie den jungen Menschen beiderlei Geschlechts ablenkt vom Pfad der Tugend. Oder vom Pfad des Herrn, der tunlichst ein katholischer sein sollte. So hat sich die Kirche in vergangenen Zeiten viel Mühe gegeben, Pubertierenden samt ihren „schmutzigen Gedanken“ mit einer Vielzahl von Jugendbüchern hilfreich zur Seite zu stehen. Und eine Fülle von Peinlichkeit hervorgebracht, die Ihresgleichen sucht und großen Unterhaltungswert hat.

Autor und Regisseur des Stücks „Komm in meinen Wigwam“ ist Wenzel Storch

Komm in meinen Wigwam
Der Prälat (Heinrich Fischer, links) und der Showmaster/Sprecher (Ekkehard Freye).

Ein besonders bemühter und produktiver Verfasser kirchlicher Jugendschriften war in den frühen 50er Jahren der Päpstliche Ehrenprälat Berthold Lutz, der 2013 im gesegneten Alter von 90 Jahren dahinging und dessen reiches Schaffen nun Widerhall in einem Theaterstück findet.

„Komm in meinen Wigwam“ heißt es, im Studio des Dortmunder Theaters erlebte es am Wochenende seine Premiere.

Autor und Regisseur des Stücks ist Wenzel Storch, der vordem unter anderem als Filmemacher („Sommer der Liebe“, „Die Reise ins Glück“) oder Kolumnist („Der Bulldozer Gottes“) in Erscheinung trat. Und den es auch im fortgeschrittenen Alter noch drängt, Lächerlichkeit und passagenweise auch Schlüpfrigkeit jener „Aufklärungsschriften“ aus den frühen 50er Jahren zu entlarven.

Eine „Pilgerreise in die wundersame Welt der katholischen Aufklärungs- und Anstandsliteratur“ 

Komm in meinen Wigwam
Brave 50er-Jahre-Kinder (Julia Katharina Lawrence, Leon Müller), der Nonnenchor im Hintergrund

Das Stakkato unsäglicher Zitate indes, das mancher vielleicht erwartete, bleibt in der Inszenierung aus. Eher betulich wird das Eine oder Andere aus dem Leben des Prälaten berichtet, werden andeutungsschwere Buchtitel und Textpassagen mit anscheinend unfreiwilligem (homo-)erotischem Inhalt präsentiert.

Ein Kapitel über ein Zeltlager mit dem Kaplan wirkt plötzlich wie eine nicht mehr ganz jugendfreie Verführungsgeschichte.

Worte bekannter Dichter mit eindeutig erotischer Konnotation gelangen zu Gehör und zeigen eine verblüffende thematische Nähe zu den Hervorbringungen Berthold Lutz’.

Bühnenshow mit geschniegeltem Entertainer und unterhaltsamen Wissenschaftler

Komm in meinen Wigwam
Als Wissenschaftler sorgt Thorsten Bihegue (links) für Heiterkeit.

All dies geschieht in einer Bühnenshow, in der ein geschniegelter Entertainer (Ekkehard Freye) sein Publikum zur „Pilgerreise in die wundersame Welt der katholischen Aufklärungs- und Anstandsliteratur“ (Untertitel) einlädt.

Weitere Mitwirkende sind ein Mädchen und ein Knabe (Jana Katharina Lawrence und Leon Müller), zwei Meßdiener(Finnja Loddenkemper und Maximilian Kurth) und der Kaplan selbst, dem Heinrich Fischer aus dem Seniorenclub des Schauspielhauses mit seinem urwestfälischen Zungenschlag starken Charakter einhaucht. (Er bleibt nur viel zu sympathisch.)

Den größten Anteil am Unterhaltungswert dieses Abends jedoch hat ohne Frage Thorsten Bihegue, der als „Wissenschaftler“ dabei ist und mit pennälerhaft-schlaksiger, ungemein lebhafter Körpersprache für Heiterkeit sorgt.

Wenn er gleich dem Zerrbild eines Showmasters verdruckste Jugendbuchtitel enthusiastisch präsentiert, ist das ein komödiantischer Höhepunkt des Abends. Weiterhin wirken Damen und Herren des Dortmunder Sprechchores mit – mal als Nonnenchor, mal als wunderbar dekorierte bunte Blumen, Blüten, Samendolden, Fruchtstempel usw. (Bühne und Kostüme: Pia Maria Mackert). Ja, es geht um Sex, doch immer in der Light-Version, dramatische Spitzen bleiben aus. Man unterhält man sich gut in diesen 80 Minuten, die von einer vergangenen Zeit erzählen und augenzwinkernd in ihr verharren.

Keine Verweise auf aktuelle Missbrauchsskandale in der Kirche der Gegenwart

Komm in meinen Wigwam
Üppig-bunter Blümchensex, hinreißend gestaltet von Pia Maria Mackert.

Weder nimmt das Stück ausdrücklich Bezug auf die zahlreichen Mißbrauchsskandale der Gegenwart, noch zeigt es uns Menschen, die unter sexuellen Übergriffen der Geistlichkeit leiden oder zerbrachen. Beides hätte ja nahe gelegen. Nein, Wenzel Storch beschränkt sich darauf, Unzulänglichkeit, Lächerlichkeit und Verkrampftheit bloßzustellen und das Weiterdenken dem Publikum selbst zu überlassen – über die Zusammenhänge zwischen Unterdrückung von Sexualität in der Pubertät und sexuellen Gewalthandlungen im Erwachsenenalter beispielsweise.

Zudem legt sein Stück nahe, sich gesellschaftliche Kontinuitäten der Adenauer-Zeit vor Augen zu führen. Wie etwa konnte wenige Jahre nach der Menschheitskatastrophe Zweiter Weltkrieg sich eine (katholische) deutsche Erwachsenenwelt schon wieder anmaßen, die Jugend so erbarmungslos zu erziehen und zu formen? Welche eigenen Ängste und Gelüste wollten die oft traumatisierten Erwachsenen in ihrer Kindererziehung bekämpfen?

Gedanken wie diese beim Publikum zu belassen und sie nicht als laut auftrumpfendes, hoch emotionales Theater zu inszenieren, macht den Dortmunder „Wigwam“ zu einer klugen, geschmeidigen Inszenierung, die gleichwohl ohne Tragik nicht ist. Schließlich auch fragt man sich, was einen Künstler wie Wenzel Storch zu so obsessiver, lebenslanger Beschäftigung mit seinem Thema veranlaßt.

Herzlicher Applaus.

 

Termine: 24. Oktober (ausverkauft)

 

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