Beim mittlerweile achten Verhandlungstag im Fall des von der Polizei getöteten Mouhamed Lamine Dramé nahmen auch diesmal im Landgericht Dortmund am Einsatz beteiligte Polizist:innen im Zeugenstand Platz. Eine vorgetragene Sprachnachricht einer angeklagten Beamtin sorgte für Fassungslosigkeit bei den Zuschauer:innen des Prozesses.
Wurde Mouhamed Dramé von Pfefferspray getroffen?
Die erste Zeugin, eine 24-Jährige, war am Tattag in ihrem ersten Jahr der Polizeiausbildung. Sie war mit zwei Polizist:innen auf einem Fahrzeug eingesetzt, die sich nun für den unerlaubten Einsatz eines Tasers bzw. Pfeffersprays vor dem Landgericht Dortmund verantworten müssen. Nach eigener Aussage seien sie die letzte eintreffende Einheit gewesen.
Die Polizistin berichtet, dass das dreiköpfige Team erst den Innenhof der Einrichtung erkundet habe, anschließend sei man außen rum zur Missundestraße gelaufen. Sie habe frontal gegenüber Dramé gestanden, so die 24-Jährige.
Er habe mit dem Rücken an der Häuserwand angelehnt, sein unbekleideter Oberkörper war dabei nach vorne gelehnt – eine Aussage, die mit denen der anderen Zeug:innen weitestgehend übereinstimmt. Die Hände sollen dabei nah am Körper gewesen sein.
Die Polizistin gibt an, dass der junge Geflüchtete einen Gegenstand in der Hand gehalten habe – was genau habe sie nicht erkennen können, da Büsche die Sicht der Polizeikräfte einschränkten. Unmittelbar nach Einnahme der Position hätten ihre Kolleg:innen das mitgeführte Pfefferspray eingesetzt, wobei eine „Sprühfontaine“ aus dem Gerät entwich. Ob Mouhamed Dramé davon getroffen wurde, konnte die 24-Jährige vor Gericht nicht sagen. In ihrer polizeilichen Vernehmung kurz nach der Tat sprach sie von einem langen Sprühstrahl, der den Betroffenen am Hinterkopf getroffen habe.
Nach Tasereinsatz soll Mouhamed keinen Gegenstand mehr in der Hand gehalten haben
Kurz darauf sei der Taser zum Einsatz gekommen – während Dramé noch an der Hauswand lehnte. Die Fäden des sogenannten „DEIG“ (Distanzelelektroimpulsgerät) hätten danach in dem Zaun zwischen dem Polizeiteam und dem 16-Jährigen gehangen. Nach Anwendung des Tasers habe er keinen Gegenstand mehr in der Hand gehalten, so die Zeugin.
Schnellen Schrittes sei Dramé dann in Richtung der anderen Polizist:innen gelaufen. Diese haben sich vor dem Zaun links von der Zeugin positioniert. Sekunden darauf habe sie drei Schussgeräusche wahrgenommen.
Die Aussage der jungen Polizistin war geprägt von Erinnerungslücken. So wusste sie nicht, ob der Senegalese auf dem Bauch oder auf dem Rücken gelegen hat und konnte sich nicht an Gespräche mit Mitarbeitenden der Einrichtung sowie ihren Kolleg:innen erinnern. Auch die Frage, ob es eine Anweisung zum Einsatz von Pfefferspray gegeben habe, konnte die 24-Jährige nicht beantworten. Nach der Schussabgabe sei ihre Aufgabe gewesen, keine Außenstehenden an den Tatort zu lassen.
Zweiter Zeuge war mit dem mutmaßlichen Todesschützen eingeteilt
Angesprochen auf die Erinnerungslücken sagte die Anwältin der Familie Dramé, Lisa Grüter: „Da ist mir nicht aufgefallen, dass die Erinnerungslücken nur an speziellen Punkten kommen. Das fand ich noch plausibel für eine Berufsanfängerin, die vor zwei Jahren etwas erlebt hat, was sie heute einordnen soll“, so Grüter.
Als Zweites wurde ein 22-jähriger Polizeischüler von Richter Thomas Kelm in den Zeugenstand gerufen. Der junge Mann war zum Zeitpunkt des Einsatzes erst acht Monate in der Ausbildung, die er gleichzeitig mit der ersten Zeugin begann. Am Tattag war er unter anderem mit dem mutmaßlichen Todesschützen auf einem Streifenwagen eingeteilt.
Er gab an, die zweite eintreffende Einheit gewesen zu sein. Lediglich der ebenfalls angeklagte Einsatzleiter und ein weiterer Polizist, der letzte Woche ausgesagt hat, waren vor der Streife da. Angekommen an der Kräftesammelstelle habe man sich besprochen, wobei dem Kommissaranwärter angeordnet wurde, einen Einsatzmehrzweckstock, auch Schlagstock genannt, mitzuführen. Der mutmaßlich für den Tod verantwortliche Beamte sei als Sicherungsschütze eingeteilt worden.
Polizeianwärter: Mouhamed ist in Richtung der Beamten:innen gelaufen
Ausführlicher als die Zeugin vor ihm, schilderte der Polizist seine Erlebnisse am Tattag. So habe er kurz mit Mitarbeitenden der Jugendhilfeeinrichtung gesprochen, ehe er mit seinen Kolleg:innen in den Innenhof des Gebäudekomplexes ging. Auf die mehrsprachige Ansprache der Zivilbeamten, folgte von Dramé keine Reaktion. Er habe circa zwei Meter in einer Nische gestanden, wobei er sich ein Messer mit der Klinge in seine Richtung hielt.
Auch der Anwärter gab an, weder Erinnerung an die Aufforderung Pfefferspray einzusetzen noch einen „Polizei“-Ruf gehört zu haben. Sicher sei er sich, dass das Reizgas den 16-Jährigen am Hinterkopf beziehungsweise am Rücken getroffen habe. Er habe seinen Kopf daraufhin leicht erhoben, und die Beamt:innen kurz angeschaut. Anschließend sei er ungefähr vier bis fünf Meter in Richtung der Beamten gelaufen.
Der Polizeischüler gab an, vier Schüsse in einer zügigen Zeitabfolge gehört zu haben. Dramé sei daraufhin zu Boden gegangen und durch den Einsatzleiter fixiert worden. Während der Schussabgabe soll er sich weiter in Richtung der Polizei bewegt haben. Dies habe der 22-jährige als bedrohlich empfunden – auch weil er noch das Messer in der Hand gehabt haben soll.
Auf Nachfrage erklärte er, dass er eine Schussabgabe erwartet habe. Durch den nackten Oberkörper des jungen Senegalesen habe er die tiefen Schusswunden an Schulter, Ellenbogen, Bauch und Wange sehen können. Auf dem Boden liegend habe Dramé geschrien und sich hastig bewegt. Am Ende des Einsatzes er sei er für die Absicherung des Hofes zuständig gewesen. Zudem habe er das Messer übergeben bekommen, um es mit zur Wache genommen.
Sprachnachricht einer angeklagten Polizistin: „Der war Psycho, keine Frage“
Besonders die Nebenklage war an den Ereignissen nach dem Einsatz interessiert. So fragte Professor Feltes, der mit Lisa Grüter die Familie von Mouhamed vertritt, nach den anschließenden Gesprächen mit seinen Kolleg:innen.
Der Zeuge gab an, mit seiner Tutorin, die ebenfalls auf der Anklagebank sitzt, nicht über den strategischen Ablauf, sondern lediglich über die psychische Gesundheit gesprochen zu haben. Mit seinem Vater, der bei der Dortmunder Polizei eine Hundertschaft anführt, habe er viele Gespräche geführt.
„Das fand ich auffällig. Er will mit seiner Tutorin über den Vorfall nicht gesprochen haben, was schon überhaupt keinen Sinn macht. Entweder ist seine Ausbildung richtig beschissen oder er lügt uns an. Das halte ich für absolut ausgeschlossen, dass er nicht irgendwann im Rahmen seines Praktikums mit seiner Tutorin diesen Einsatz nachbesprochen hat.“
Ein Raunen ging durch den Gerichtssaal, als Professor Feltes eine Sprachnachricht, die wenige Stunden nach dem Einsatz von der genannten Tutorin verschickt wurde, vorlas. In dieser gib die Beamtin zu: „Wir haben uns unterhalten, aber man hätte ein paar Sachen anders machen können“, so die Angeklagte. „Der war Psycho, keine Frage, trotzdem: Hätten wir die Lage nicht auch statisch halten können?“ Es mache sich niemand Sorgen, dass die Rechtmäßigkeit angezweifelt werden könnte.
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