Das Arbeitslosenzentrum Dortmund und das Thema Hartz IV: Der tausendfache Kampf mit dem „Bürokratiemonster“

Das Arbeitslosenzentrum (ALZ) Dortmund kann über mangelnde Nachfrage nicht klagen. Im Gegenteil: Kümmerte sich das vierköpfige Team an der Leopoldstraße 16-20 im Jahr 2011 um mehr als 11.000 Rat- und Hilfesuchende, waren es im vergangenen Jahr schon über 12.000. Die Kapazitätsgrenzen sind längst erreicht. Doch der Strom der Hilfesuchenden reißt nicht ab.

Gisela Tripp leitet das ALZ, eberhard Weber ist Vorsitzender des Trägervereins. Foto: Alex Völkel
Gisela Tripp leitet das Dortmunder Arbeitslosenzentrum, Eberhard Weber ist Vorsitzender des Trägervereins. Foto: Alex Völkel

Denn die Qualität der Beratung und die erfolgreiche Unterstützung haben sich herumgesprochen. Nicht nur bei den Betroffenen, sondern auch bei anderen Einrichtungen. Bemerkenswert: Immer mehr erfahren durch das Jobcenter vom ALZ, hat Gisela Tripp, Leiterin des ALZ herausgefunden.

Verkehrte Welt? Warum schicken sie ihre „Kunden“ zum Arbeitslosenzentrum, anstatt selbst vernünftig zu beraten und ihnen zu helfen? Vorsichtig sucht Tripp nach einer Antwort. „Die Fallmanager haben nicht so viel Zeit und stehen mit dem Rücken an der Wand“, beschreibt Tripp die Arbeitsbelastung in den Jobcentern.

„Die Komplexität der Fälle wird nicht berücksichtigt.“ Dabei ist die Situation in Dortmund gar nicht schlecht: „Das Dortmunder Jobcenter ist – verglichen mit anderen in NRW – sogar gut“, betont Eberhard Weber. Der frühere DGB-Chef ist neuer Vorsitzender des ALZ-Trägervereins.

Übersetzer im Verwaltungsdickicht

Dennoch kommen viele Hilfesuchenden, weil sie mit dem Jobcenter nicht klarkommen. „Die Leute erwarten, dass wir uns mehr Zeit nehmen, ihnen die Dinge zu erklären“, weiß Tripp. Zeit, die man bei der ARGE nicht hat. „Doch die Leute müssen erst die Regel erklärt bekommen und verstehen, damit sie sich auch daran halten können.“ Sie verstehen nicht das Amt, nicht die Bescheide, nicht die Konsequenzen. Vertrauen kann sich so nicht entwickeln, anders als bei Gisela Tripp und ihrem Team. Doch auf sie bricht eine ganze Lawine an Problemen und Fragen ein.

Die Menschen kommen schon lange nicht mehr nur wegen Fragen rund um das Thema Arbeitslosigkeit. Für viele Betroffene ist das ALZ die erste Anlaufstelle für alle Probleme: Rentenanträge, Krankheit, Familienprobleme, Fragen rund um Heirat und Geburt der Kinder, Verbraucherschutz und Versicherungscheck. Gut, dass die vier Frauen in das Dortmunder Hilfenetzwerk eingebunden sind. „Wir haben ein sehr gutes Netzwerk und wetvolle Kooperationen“, betont Tripp. „Mittlerweile gibt es in Dortmund etwa 42.000 bis 43.000 Bedarfsgemeinschaften. „Das kann das ALZ nicht abdecken“, so Tripp.

Beratungsstelle bietet in Dortmund schnelle Hilfe in existenzieller Not

Beraterin Bertrix Heßling gehört zum vierköpfigen Team des Dortmunder ALZ. Foto: Alex Völkel
Beraterin Bertrix Heßling (Foto), Andrea Torlach und Karin Heise bilden das Team um Gisela Tripp. Foto: Alex Völkel

Dennoch erwarten die Menschen schnelle und zeitnahe Hilfe. „Schließlich sind sie in existenziellen Notlagen“, so die Leiterin weiter. „Sie erwarten, dass wir ihr Anliegen ernst nehmen und aktiv anpacken und sie nicht verweisen und wegschicken.“ Genau das passiert den meisten Menschen auf dem Amt. Daher kommen sie zum  Arbeitslosenzentrum. Die Beraterinnen dort unterstützen beim Schreiben der Anträge und Briefe, helfen bei Klärungen, stellen Kontakte her, bereiten Behördengänge vor und sind allzu oft Übersetzerinnen im Dschungel der Bürokratie.

Schnellere Fallbearbeitung trotz hoher Belastung gefordert

Vieles könnte vom Amt schneller bearbeitet werden. „Ohne die Arbeitsbelastung dort in Frage zu stellen“, schiebt Tripp sofort nach. Denn sie ist stets um ein gutes Verhältnis bemüht.  „Aber es geht hier um existenzielle Fragen, die schnell beantwortet werden müssen.“ Doch berechtigte Kritik schadet dem Verhältnis nicht: „Das Verhältnis ist belastbar. Schließlich überweisen sie ihren Kunden ins Arbeitslosenzentrum“, betont Weber.

Das Dortmunder Jobcenter reagiere auf Kritik und werde von Jahr zu Jahr besser. Doch die Beschäftigten dort könnten auch nicht die Konstruktionsfehler des Gesetzes heilen. „Das Sozialgesetzbuch (SGB) II ist – vorsichtig ausgedrückt – fragwürdig. Es ist schlampig gemacht“, krisiert Weber. „Und die 60 Korrekturen des Gesetzgebers haben es nicht besser gemacht.“ Wer mit den Entscheidungen des Jobcenters nicht zufrieden sei und vor das Sozialgericht ziehe, habe eine Chance von 30 bis 50 Prozent, Recht zu bekommen, berichtet der Arbeitsmarktexperte. „Rechtssicherheit ist das nicht. Das geht zu Lasten der Kunden.“

„Hartz IV ist der Fahrstuhl in die Armut“

Ganz abgesehen davon, dass das SGB II die Armut in Deutschland befördere: „Hartz IV ist der Fahrstuhl in die Armut. Diese Einschätzung teilen wir mit Heinrich Alt, Vorstand der Bundesagentur für Arbeit“, betont Weber. Da nun noch die schwarz-gelbe Bundesregierung seit 2009 das Finanzvolumen für Arbeitsmarktpolitik halbiert habe, verschärfe sich das Problem. „Viele Menschen werden in Langzeit-Arbeitslosigkeit eingemauert. Das ist ärgerlich und führt zu Kopfschütteln bei allen Arbeitsmarktexperten – über alle Parteigrenzen hinweg.“

Die Behörde hat kaum Spielräume für unbürokratische Hilfe

An der Steinstraße und anderen Standorten wird das "Bürokratiemonster" verwaltet.
An der Steinstraße und anderen Standorten in Dortmund wird das „Bürokratiemonster“ Hartz IV verwaltet.

Diese grundsätzlichen bundespolitischen Verfehlungen können die Dortmunder natürlich nicht ändern. Gemeinsam doktern sie an den Symptomen und versuchen, die gröbsten Härten zu vermeiden. Doch den Jobcenter-Mitarbeitern sind enge Grenzen gesetzt: „Sie müssen auf bürokratische Regelungen Rücksichten nehmen und haben nur ganz enge Spielräume“, weiß Weber. „Das bürokratische Monster macht die Spielräume sehr eng. Und das ist nicht im Sinne der Kunden.“

EU-Förderung wird ab 2015 drastisch gekürzt

Daher geht der tägliche Kampf weiter. Wie lange das Arbeitslosenzentrum den Hilfesuchenden dabei noch zur Seite steht, kann derzeit niemand sagen. Ein Großteil der mehr als 200.000 Euro, die die Arbeit des ALZ im Jahr kostet, stammt aus ESF-Mitteln des Landes. Ab 2015 werden diese EU-Mittel um ein Drittel gekürzt.

Was dann passiert, daran mag in der Leopoldstraße noch niemand so richtig denken. Sie widmen sich dem schwierigen Tagesgeschäft und den Problemen der Menschen. „Fördern und fordern“ war früher die Maxime des Gesetzgebers. „Davon ist nur das Fordern geblieben“, bedauert Weber. Die Förderung bleibt immer mehr auf der Strecke. Eine Realität in Dortmund, trotz allen Aufschwungs. „Die Armut nimmt zu. Und das kann die Kommune zerreißen“, warnt der frühere DGB-Chef.

Weitere Informationen:

Jahresbericht 2012 des ALZ

Hintergrundinfos zum ALZ

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