Nachdem am Dienstag (8. August 2023) eine Auseinandersetzung zwischen einem Aktivisten des Solidaritätskreises Mouhamed und dem Ordnungsamt eskaliert ist, bricht die Kritik nicht ab. Die Stadt beharrt auf ihrer Rechtsauffassung und stellt sich vor ihre Mitarbeiter:innen, die Gruppe zeigt sich enttäuscht. Denn der vergangene Dienstag war der 1. Todestag des von der Polizei erschossenen Mouhamed Dramé.
Solidaritätskreis wieder auf dem Wochenmarkt
Auch am heutigen Freitag – drei Tage nach dem Zwischenfall mit dem Ordnungsamt – verteilt der „Solidaritätkreis Mouhamed“ Flyer auf dem Nordmarkt. Die Zustimmung ist groß und die Aktion verläuft „ungestört“.
William Dountio, Mitorganisator der Gruppe, wird heute viele Flyer los. Auf Deutsch, Englisch und Französisch spricht er mit den Leuten, zwischendurch ein „Danke“ auf Russisch oder ein „Hoffentlich“ auf Arabisch. Man merkt: Dountio versteht die Menschen und die sind froh, verstanden zu werden.
Er findet, es sei wichtig auf dem Nordmarkt zu sein, „weil dort die Menschen sind, die wirklich betroffen und oft auch traumatisiert sind“, so der Aktivist. Die Aktivist:innen bleiben dieses Mal „unbehelligt“ – das Ordnungsamt greift nicht ein.
Der Unterschied zum vergangenen Dienstag: Die Polizei wertet die Aktion als Versammlung. Damit hätte das Ordnungsamt auch keine Handhabe, die Marktsatzung der Stadt durchzusetzen, die das Verteilen von Materialien verbietet.
Aktivist:innen sind enttäuscht von Oberbürgermeister Westphal
Der Solidaritätskreis ist enttäuscht von Dortmunds Oberbürgermeister Thomas Westphal. Dieser hatte die Dialogbereitschaft der Stadt mit Mitgliedern von afrikanischen Communities bekundet und davon gesprochen, dass das Zutrauen in den Rechtsstaat wieder gestärkt werden müsse.
Allerdings hatte kurz zuvor das städtische Ordnungsamt die Verteilaktion auf dem Nordmarkt unterbunden. Dessen Mitarbeiter wendeten „unmittelbarem Zwang“ an – verbunden mit körperlicher Gewalt gegenüber einem Aktivisten, der in Handschellen abgeführt wurde. Doch dazu äußerte der OB sich nicht – bis heute.
„Ich bedauere die Reaktion von Thomas Westphal sehr, vor allem weil die Reaktion einem Aktivisten gegenüber unnötig brutal war. Wir hätten mindestens erwartet, dass an diesem Tag ein wenig Feingefühl gezeigt wird“ so William Dountio. Schließlich war der vergangene Dienstag der 1. Todestag des von der Polizei erschossenen Mouhamed Dramé, worauf mit der Verteilaktion hingewiesen und zu Protestaktionen eingeladen wurde.
Ordnungsdezernent Dahmen sieht sein Team im Recht
Ob die Aktion angemessen war, darauf geht die Stadt trotz mehrmaliger Nachfrage nicht ein. Ordnungsdezernent Norbert Dahmen (CDU) äußert sich rein formal und hält an der bisherigen Rechtsauffassung der Stadt fest.
„Am 8. August haben Personen auf dem Nordmarkt Flyer einen Klappstuhl mit Plakaten aufgestellt und Flyer verteilt. Darüber haben sich die Marktbeschicker bei ihren Marktmeistern beschwert. Sie wiesen die Personen darauf hin, dass das Verteilen dort nicht erlaubt ist. Mit der Bitte, sofort damit aufzuhören und dies an einem anderen Ort zu tun – außerhalb der Marktfläche“, heißt es in der schriftlichen Stellungnahme.
„Den mehrfachen Aufforderungen kamen die Personen aber nicht nach und verteilten weiter. Die Marktmeister konnten die Angelegenheit so nicht klären und baten um Hilfe durch den Kommunalen Ordnungsdienst (KOD) der Stadt Dortmund“, erklärt Dahmen.
„Auch der wiederholten Bitte, durch die Mitarbeiter des KOD, die Verteilung der Flyer an einem anderen Ort weiterzuführen, kam eine der Personen nicht nach und widersetzte sich trotz Platzverweis weiter den Anweisungen der Ordnungshüter. Als Folge dessen, war eine ordnungsrechtliche Maßnahme zum Beenden der Verteilung notwendig“, sieht der Dezernent für Sicherheit und Ordnung sich und sein Team im Recht.
Kritik an Umgang mit der Familie im Senegal
Doch nicht nur daran stößt sich der Solidaritätskreis: „Es enttäuscht mich, dass der Oberbürgermeister und die Stadt sich nicht bei Mouhameds Familie gemeldet haben. Es gab keinen Brief, kein Telefonat, nicht mal eine E-Mail. Das haben seine Angehörigen mir, aber auch in einem Video gesagt“, wirft William Dountio der Stadt vor.
Auch vom Polizeipräsidenten habe es keine direkte Kommunikation mit der Familie Dramé gegeben.
Stadtdirektor Jörg Stüdemann weist diese Vorwürfe zurück: Sehr wohl habe man den Kontakt zur Familie Dramé gesucht, sowohl telefonisch als auch postalisch. Zusammen mit Oberbürgermeister Thomas Westphal war Stüdemann kurz nach dem Tod des 16-Jährigen beim Totengebet in der Abu-Bakr-Moschee in der Nordstadt zugegen – ebenso wie der Polizeipräsident.
Ratsfraktionen halten die Marktsatzung für überarbeitungswürdig
Im Rahmen der Auseinandersetzung mit dem Ordnungsamt steht nun die Frage nach der Rechtmäßigkeit im Fokus. Dazu gibt es bereits einen Präzedenzfall des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen.
Laut dem Urteil dürfen sogenannte „politische Druckerzeugnisse“ ohne Genehmigung verteilt werden, da politische Informationen nach Artikel 5 des Grundgesetzes unter Meinungsfreiheit zählen. Nordstadtblogger hakte dazu bei den im Rat vertretenen Fraktionen nach.
Die SPD-Fraktionsvorsitzende Carla Neumann-Lieven plädiert dafür, sich das Verwaltungsgerichtsurteil aus Gelsenkirchen genau anzusehen und gegebenenfalls die Marktsatzung zu ändern: „Dabei könnte man ja alle Punkte der Marktsatzung kritisch beleuchten. Schließlich wollen wir das Marktgeschehen grundsätzlich beleben.“
„Es wäre bestimmt sinnvoll, sich nochmal mit den einzelnen Formulierungen der Marktordnung intensiv auseinander zu setzen, insbesondere auch im Hinblick auf Entwicklungen in anderen Städten“ findet auch Nordstadt-Bezirksbürgermeisterin Hannah Rosenbaum (Bündnis 90/Die Grünen).
Für CDU-Fraktionschef Dr. Jendrik Suck ist die Angelegenheit noch nicht ganz klar. Er wolle das Thema in den entsprechenden Gremien besprechen.
Die ordnungspolitische Sprecherin der Fraktion „Die Linke+“
wurde damals eingeführt, um die Rechten davon abzuhalten ihre Propaganda zu verbreiten. In diesem Fall suchen die Menschen aber nach Gerechtigkeit für den 16-jährigen Mouhamed Dramé, das war damals nicht abzusehen“.Ihr Fraktionschef Utz Kowalewski will allerdings den Vorfall mit dem Ordnungsamt im Bürgerdienste-Ausschuss thematisieren. Den Aktivist:innen gelte die absolute Solidarität. Das Ordnungsamt sei über das Ziel hinaus geschossen: „Das geht so gar nicht“, so Kowalewski.
„Gruppierungen wie der Solidaritätskreis Mouhamed, die für eine solidarische Veranstaltung für einen getöteten Jungen werben, sollten alle Freiheiten haben dies auch zu tun“, fordert Olaf Schlösser, Vorsitzender der Fraktion „Die Fraktion“.
„Das ist eine Frage des Anstandes und des Respektes. Das Ordnungsamt und der zuständige Dezernent Dahmen werden sich noch erklären müssen, warum die Mitarbeitenden des KOD wieder mal ohne Augenmaß und rechtswidrig gehandelt haben.“
Die AfD-Fraktion äußert sich ebenfalls kritisch gegen die Marktordnung: Es spreche nichts dagegen, dass Flyer auch im Rahmen städtischer Sonderveranstaltungen aller Art frei verteilt werden können.
„Politische Flyer sind Teil des offenen demokratisch-politischen Diskurses, den die AfD ja so schätzt. Warum will man den Bürger und die Entfaltung der freien Willensbildung hier einmal mehr reglementieren?“, so der AfD-Fraktionsvorsitzende Heiner Garbe.
Update 14. August, 12 Uhr
Ergänzend die Stellungnahmen der Ratsfraktionen, die sich nicht bis Redaktionsschluss am Freitag (11. August, 19:00) auf unsere Anfrage geäußert haben.
Die Grüne Ratsfraktion spricht von einer „rechtsunsicheren Situation.“ Man plane im nächsten Ausschuss für Bürgerdienste, öffentliche Ordnung, Anregungen und Beschwerden am 12. September einen Prüfantrag zur rechtskonformen Ausgestaltung der Marktsatzung und weiteren Satzungen zu veranlassen: „Wir wollen sowohl für politisch aktive Menschen als auch die KOD-Beschäftigten schleunigst klare und rechtssichere Regelungen zur Verteilung von politischen Druckschriften in Dortmund.“ so die Fraktion auf Anfrage. Außerdem prüfe man, ob sich die Mitarbeiter:innen des Ordnungsamtes korrekt verhalten haben.
Michael Kauch, Fraktionsvorsitzender der FDP/Bürgerliste, kommentiert: „Das Recht auf Meinungsfreiheit hat für die Ratsfraktion FDP/Bürgerliste eine herausragende Bedeutung. Vor dem Hintergrund des Urteils des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen sollte die Marktsatzung im Blick auf das Verteilen politischer Schriften überprüft werden. Politische Werbung kann aus Gründen der Verfassung nicht mit kommerzieller Werbung gleichgesetzt werden. Allerdings zahlen Markthändler bei Wochenmärkten Gebühren an die Stadt, so dass auch deren Interesse an einem ungestörten Handel abgewogen werden müssen.“ so der 56-Jährige.
„Die Stadtverwaltung sollte den Gremien der Stadt daher zunächst eine differenzierte juristische Bewertung für Wochenmärkte einerseits und Sonderveranstaltungen andererseits übermitteln. Zudem sollte sie prüfen, wie ein geordnetes Marktgeschehen ggf. durch Auflagen mit dem Verteilen politischer Werbung in Einklang gebracht werden kann.“ so Kauch weiter.
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