RIAS verzeichnet vor allem starke Zunahme von Gewaltbereitschaft

Der 7. Oktober als Zäsur: Zahl der antisemitischen Vorfälle 2023 in NRW um 152 Prozent gestiegen

Die RIAS verzeichnet einen massiven Anstieg antisemitischer Vorfälle, beispielsweise in antisemitischen Schmierereien solcher Art. Quelle: RIAS Jahresbericht 2023

Die Bilanz der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) in Nordrhein-Westfalen zum vergangen Jahr verzeichnet einen massiven Anstieg antisemitischer Vorfälle – um satte 152 Prozent. Vor allem seit dem 7. Oktober 2023 hat sich auch in NRW das Leben jüdischer Menschen stark verändert, die Angst vor Hass prägt den Alltag.

Zunahme antisemitischer Vorfälle um 152 Prozent im Vergleich zum Vorjahr

664 antisemitische Vorfälle erfasste die RIAS Nordrhein-Westfalen im Jahr 2023. Im Vergleich zum Vorjahr (264 Vorfälle) entspricht dies einer Steigerung von 152 Prozent. Durchschnittlich wurden 13 Vorfälle pro Woche registriert, im Jahr 2022 waren es noch fünf Vorfälle pro Woche.

Diese Markierung erinnert an die Kennzeichnungspraxis im Nationalsozialismus, als jüdische Geschäfte und Wohnhäuser mit Davidsternen markiert wurden, um Jüdinnen und Juden kenntlich zu machen. Quelle: RIAS Jahresbericht 2023

Dabei lässt sich vor allem feststellen, dass neben der quantitativen Zunahme der Vorfälle vor allem auch die Gewaltbereitschaft zugenommen hat. Antisemitisch motivierte Angriffe und Bedrohungen haben sich verdoppelt bis verdreifacht. Es gab 16 Angriffe (2022: fünf) und 16 Bedrohungen (2022: sechs), hinzu kamen zwei Fälle extremer Gewalt. In sechs Fällen wurden Wohnhäuser mit einem Davidstern markiert.

In 60 Prozent der Fälle mit direkt betroffenen Einzelpersonen, also in 106 Vorfällen, waren die Personen jüdisch, israelisch oder als solche adressiert. Insgesamt geht die Recherche und Informationsstelle jedoch von einer hohen Dunkelziffer aus. Diese könne erst durch eine kontinuierliche Erfassung antisemitischer Vorfälle weiter erhellt werden, so die RIAS.

Bonn, 16. Oktober: Ein älteres Ehepaar in Bonn wurde mehrfach an seiner Wohnungstür bedroht. Der Mann ist Israeli und die Frau deutsche Jüdin, beide sind vor Ort für ihr Engagement für jüdisches Leben bekannt. Am 16.10. klingelte ein Mann an ihrer Tür und sagte: „Beim nächsten Mal komme ich mit meinem großen Aschenbecher und da passt die Asche von 500 Güterwagen rein“. Die Betroffenen berichteten, dass sich dies bereits zweimal im Juli 2023 ereignet habe. Den ersten Vorfall wollte das Ehepaar noch bei der nächsten Polizeidienststelle zur Anzeige bringen; der Polizeibeamte vor Ort riet ihnen jedoch von einer Anzeige ab, auch weil er den antisemitischen und im Gesamtkontext äußerst bedrohlichen Inhalt des Satzes nicht erkennen konnte. Nach Rücksprache mit den Betroffenen wurde der Vorfall im Oktober an den zuständigen Kölner Staatsschutz übermittelt, der die Ermittlungen aufnahm.

65 Prozent der antisemitischen Vorfälle ereigneten sich nach dem 7. Oktober

Eine große Rolle für die Zunahme antisemitischer Vorfälle spielt der 7. Oktober 2023. Der Tag, an dem die islamistische Terrororganisation Hamas den größten Massenmord an Jüdinnen und Juden seit der Shoa (Holocaust) verübte. 65 Prozent aller im Jahr 2023 registrierten Vorfälle ereigneten sich nach dem antisemitischen Massaker.

Werl, 12. November: Eine Gruppe von fünf jungen Männern gröhlte in der Regionalbahn von Soest nach Werl „Es gibt kein Israel“ und „Pro Palästina“. Ein anderer junger Mann forderte sie auf, dies zu unterlassen; es kam zu einem kurzen Streit, dann erhielt der Mann mehrere Faustschläge ins Gesicht. Zwei weitere, bis dahin unbeteiligte junge Männer stellten sich schützend vor den Geschlagenen, erhielten aber ebenfalls Schläge und Tritte. Die fünfköpfige Tätergruppe flüchtete am Bahnhof Werl in verschiedene Richtungen aus dem Zug, ein Täter konnte aufgrund von Zeugenaussagen von der Polizei festgenommen werden.

Antisemitismus hat vor allem in Bezug auf den Nahostkonflikt massiv zugenommen. Hier werden die Gaskammern der Konzentrationslager mit israelischen Bomben verglichen. Quelle: RIAS Jahresbericht 2023

„Insbesondere seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober zeigte sich der Antisemitismus enthemmter und beeinträchtigte zunehmend das alltägliche jüdische Leben“, informiert die Recherche- und Informationsstelle. Bis zum Jahresende blieb die Zahl der Vorfälle auf hohem Niveau.

Im Jahresbericht dokumentiert RIAS NRW 117 Versammlungen mit antisemitischen Aufrufen, Parolen, Transparenten oder Redebeiträgen. Davon fanden 71 Versammlungen nach und mit Bezug zum 7. Oktober statt. Es ist jedoch von einer weitaus höheren Zahl antisemitischer Versammlungen auszugehen, da die Recherche- und Informationsstelle kein proaktives Versammlungsmonitoring vor Ort betreibt.

Universitäten werden zunehmend zum unsicheren Raum für Jüdinnen und Juden

Antisemitische Vorfälle ereigneten sich im Jahr 2023 vor allem im öffentlichen Raum sowie in alltagsprägenden Bereichen, was für Betroffene meist besonders bedrohlich und einschränkend ist. So fanden die meisten Vorfälle auf der Straße (201), in Bildungseinrichtungen (73, z.B. Universitäten und Schulen), in öffentlichen Gebäuden (71) und in öffentlichen Verkehrsmitteln (47) statt. In 42 Fällen erlebten die Betroffenen Antisemitismus in ihrem unmittelbaren Wohnumfeld. 75 Vorfälle ereigneten sich im Internet.

Köln, Januar: Ein Schüler wurde von mehreren Mitschülern aus antisemitischen Motiven so massiv körperlich angegriffen, dass er mit Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Dem Angriff ging ein wochenlanges Mobbing voraus. Aus Gründen des Betroffenenschutzes wird auf weitere Hintergründe verzichtet.

Auch in Bildungseinrichtungen kommt es immer wieder zu antisemitischen Vorfällen. Hier eine Schmierei mit dem Schriftzug „Drecks Juden Uni“ Quelle: RIAS Jahresbericht 2023

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Antisemitismusbeauftragte des Landes Nordrhein-Westfalen, stellt fest: Jüdische Studierende nehmen häufig ihre Universität als unsicheren Raum wahr, in dem sie sich antisemitischen Äußerungen und israelfeindlichen Stimmungen offen ausgesetzt sehen. Der Diskurs mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Israel wird angesichts der Boykottforderungen propalästinensischer Aktivisten immer schwieriger.“

Weiter erklärt sie: „Wir dürfen nicht zulassen, dass Jüdinnen und Juden aus dem öffentlichen Raum oder universitären Diskurs ausgeschlossen werden, schon gar nicht aus Angst vor Hass und Hetze. Da ist eine klare Haltung der Universitäten gefordert.“

Nach 7.Oktober massive Zunahme von Israelbezogenem Antisemitismus

„Besondere Sorge bereitet uns die virulenteste Form des Antisemitismus, der israelbezogene Antisemitismus. Häufig artikuliert er sich in Verbindung mit dem Post-Shoa-Antisemitismus, d.h. der Leugnung oder Bagatellisierung der Präzedenzlosigkeit der Shoah“, erklärt Jörg Rensmann, Projektleiter Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus NRW.

In Universitäten kommt es immer wieder zu antisemitischen Vorfällen, wie hier ein Instagram Posting. Quelle: RIAS Jahresbericht 2023

Mit 372 Vorfällen war der israelbezogene Antisemitismus im Jahr 2023 die mit Abstand am häufigsten dokumentierte Erscheinungsform. 82 Prozent dieser Vorfälle ereigneten sich nach dem 7. Oktober.

Sie äußerten sich vor allem in der Delegitimierung und Dämonisierung Israels oder darin, dass Jüdinnen und Juden in NRW persönlich und kollektiv für das Handeln der israelischen Regierung verantwortlich gemacht wurden. Während der israelbezogene Antisemitismus im Jahr 2022 noch rund 33 Prozent ausmachte, kam er im Jahr 2023 in 56 Prozent aller erfassten Vorfälle vor.

Ruhrgebiet, Oktober: In einer WhatsApp-Gruppe von Studierenden einer Hochschule im Ruhrgebiet widersprach ein Gruppenmitglied nachweislichen Falschmeldungen über den Krieg zwischen der Hamas und Israel und wurde daraufhin antisemitisch angefeindet. Dem Betroffenen wurde unterstellt, der Konflikt lasse ihn leer und kalt. Ein Kommilitone begründete dies damit, dass der Betroffene eine „lange Nase“ habe. In dieser Argumentation verbindet sich die antisemitische Imagination eines jüdischen Phänotyps („lange Nase“) mit dem antisemitischen Topos, dass Juden rücksichtslos seien. Darüber hinaus relativierte ein Kommilitone die Schoa, in dem er den aktuellen Konflikt als Holocaust an den Palästinensern bezeichnete. Ein anderer Kommilitone sprach von „Juden als Kolonisatoren“, dämonisierte also den jüdischen Staat. Erst im Nachhinein, nachdem der Betroffene auf den antisemitischen Inhalt hingewiesen hatte, wurde der Vorfall vom AStA verurteilt. In der Gruppe waren auch Mitarbeitende des AStA vertreten.

Rensmann erklärt: „Wir haben es also oft mit einer Täter-Opfer-Umkehr in Bezug auf Israel zu tun, indem der jüdische Staat mit dem Vernichtungsantisemitismus der Nationalsozialisten in eins gesetzt wird, um zu behaupten, israelisches Regierungshandeln verfolge als Staatsziel und -programm die vollständige Vernichtung der palästinensischen Bevölkerung. Israel wird milieuübergreifend als Stachel einer unerwünschten Erinnerung an das Menschheitsverbrechen der Shoah wahrgenommen.“

Israelbezogener- und Post-Schoa-Antisemitismus sind die häufigsten Erscheinungsformen

In 206 Vorfällen wurden Narrative des Post-Schoa-Antisemitismus bedient. Eine Erscheinungsform, die sich in der Leugnung, Relativierung oder Verharmlosung der Schoa artikuliert. In 58 Fällen wurden Gedenkorte, die an die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus erinnern, gezielt angegriffen.

Gelsenkirchen, 17. März: Unbekannte besprühten das Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus im Gelsenkirchener Stadtgarten an der Zeppelinallee. Die Täter_innen beschmierten unter anderem die angebrachten Inschriften der Vernichtungslager Auschwitz, Treblinka und Buchenwald mit „Fake Gaskammer“, „Fake Trauer“ und „FCK SPD“. Die Gedenktafel wurde mit den Worten „Lügen haben kurze Beine“ besprüht. Die von einem Passanten verständigte Polizei übermalte die Schmierereien.

Bei Pro-Palästinensischen Demonstrationen kam es immer wieder zu Holocaust-Relativierungen. Quelle: RIAS Jahresbericht 2023

Häufig berührt ein Vorfall mehr als eine Erscheinungsform, so dass im Jahr 2023 vor allem israelbezogener Antisemitismus und Post-Schoa-Antisemitismus in 74 Fällen in Kombination auftraten. Angriffe auf die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus fanden somit vielfach mit klarem Bezug zum 7. Oktober statt.

Josefine Paul, Familien- und Integrationsministerin des Landes Nordrhein-Westfalen, resümiert: „Antisemitismus ist ein Angriff auf die Grundwerte unserer Demokratie und die Würde jedes Einzelnen. Die von RIAS vorgelegten Zahlen und Analysen zeigen, dass wir in unserem Engagement in Nordrhein-Westfalen gegen Antisemitismus sowie gegen Holocaust-relativierendes Gedankengut, Israel-Hass und Diskriminierung nicht nachlassen dürfen, sondern es weiter verstärken müssen. Dies ist nicht zuletzt auch unsere historische Verantwortung. (…)“

Quellen und weitere Informationen:


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