Archäologen erforschen die Tunnel unter der Innenstadt von Dortmund

Denkmalbehörde sucht Zeitzeug:innen mit Geschichten über den Dortmunder Tiefstollen

Der Tiefstollen ist ein Gängesystem, das sich auf einer Länge von fast 4,6 Kilometern zwischen Westpark und dem Hauptbahnhof erstreckt.
Der Tiefstollen ist ein Gängesystem, das sich auf einer Länge von fast 4,6 Kilometern zwischen Westpark und dem Hauptbahnhof erstreckt. Dortmund-Agentur / Roland Gorecki

Unter Dortmund schlummert ein einmaliges Erbe, über das weniger bekannt ist, als man annehmen könnte: Der Tiefstollen ist ein Gängesystem, das sich auf einer Länge von fast 4,6 Kilometern zwischen Westpark und dem Hauptbahnhof erstreckt. Unbestätigten Quellen zufolge soll es sich dabei um die größte (noch in weiten Teilen vorhandene) zivile Luftschutzanlage Europas handeln. Die Anlage diente dazu, den Menschen in der Innenstadt im Zweiten Weltkrieg Schutz vor Bombenangriffen zu bieten.

Große Stollenabschnitte wurden im Zuge von Baumaßnahmen verfüllt oder zugemauert

Die Untere Denkmalbehörde der Stadt Dortmund und das Katasteramt lassen den Tiefstollen unter Dortmunds Innenstadt seit 2021 vermessen und dokumentieren, bevor immer mehr vom Originalzustand verschwindet. In der Vergangenheit wurden bereits teils große Stollenabschnitte im Zuge von Baumaßnahmen verfüllt oder zugemauert. Auch durch illegale Begehungen, häufig verbunden mit Vandalismus, wurde das Tiefstollensystem wiederholt beschädigt.

Die Anlage erfährt gerade durch aktuelle Entwicklungen wieder mehr Aufmerksamkeit. Aus Anlass des Krieges, den Russland gegen die Ukraine führt, kam vermehrt die Frage auf, wie die Bevölkerung in Deutschland geschützt werden kann. Viele erinnerten sich wieder daran, dass unter der Innenstadt eine weit verzweigte, unterirdische Bunkeranlage noch in Teilen existiert. Die Erkenntnis, dass auf Europas Boden heute wieder ein Krieg geführt wird, verunsichert und weckt alte Erinnerungen.

Für die Denkmalbehörde sind diese, häufig traurigen oder auch schrecklichen Erinnerungen an die Zeit im Bunker wertvoll. Aber auch jene Geschichten vom kleinen Glück im Unglück gehören dazu und sollen festgehalten werden. Noch lebende Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs gibt es immer weniger.

Das historische Bild wurde 1958 aufgenommen und in der Ausgabe vom 03.05.1958 im Dortmunder Tageblatt veröffentlicht. Der Artikel mit dem Titel „Stalaktiten wachsen im Labyrinth der Angst“ war dann auch der Grund für die Befahrung. Auf dem Foto sind zu sehen: Dipl. Ing. Dr. Wüst (vorne) und den Ratsvertreter Otto Zweig. Foto: Günter Zoll/ Stadtarchiv Dortmund

Erinnerungen von Zeitzeug:innen gesucht

Deshalb werden jetzt Zeitzeug:innen gesucht, die den Bunker noch aus eigenem Erleben kennen, vielleicht dort eine Zeit lang Schutz fanden, oder bei Renovierungsarbeiten in den 1970er-Jahren mitgewirkt haben. Ihre Geschichten sollen die Daten und Bilder später ergänzen und lebendig halten.

„Diese Zeugnisse möchten wir als Denkmalbehörde in Kooperation mit dem Stadtarchiv sammeln und auswerten. Wir würden uns sehr freuen, wenn wir möglichst viele Dortmunderinnen und Dortmunder mit dem Aufruf erreichen und davon überzeugen können, uns ihre Geschichten zu erzählen“, sagt Ralf Herbrich, der Leiter der Denkmalbehörde.

„Oft stecken in vermeintlichen Nebensächlichkeiten für uns ganz wertvolle neue Erkenntnisse. Das wissen wir von anderen Aufrufen schon“, so Herbrich. Berichte von Schutzsuchenden während der Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg sind ebenso wichtig, wie Kindheitserinnerungen aus den Nachkriegsjahren, als die Luftschutzanlage als Passage unter der Innenstadt und „Spielplatz“ diente.

Auch Erinnerungen an Ertüchtigungsarbeiten sind willkommen

Mündlich überlieferte Erinnerungen an die Nachkriegsgeneration oder auch die Erzählungen von Arbeitern, die im Zuge der Ertüchtigungsmaßnahmen in den 1970/80er Jahren „unter Flur“ tätig waren, sind ebenso interessant.

Stadt-Archäologe Ingmar Luther.
Stadt-Archäologe Ingmar Luther. Foto: Roland Gorecki für die Dortmund-Agentur

„Vielleicht bekommen wir auf diesem Wege sogar noch unbekannte und private Fotos zusammen. Auf jeden Fall möchten wir die persönliche Geschichten festhalten und mit den ‚nüchternen‘ Fakten des Tiefstollensystems für die Nachwelt verknüpfen“, hofft Ralf Herbrich.

Um diesen Aufruf mit filmischen Eindrücken zu unterstützen, hat die Dortmund-Agentur ein Video gedreht. Es ist abrufbar über den städtischen YouTube-Kanal (Links am Ende).

Auch der neue Dortmund-Tatort spielte teils im Tiefstollen

Einen filmischen Eindruck gab es bereits bei der Vorpremiere beim Open-Air-Kino am Hochofen auf Phoenix-West. Der WDR hat dort am 27. August den Dortmund-Tatort gezeigt, der erst in 2023 im ARD-Programm ausgestrahlt wird. Die Folge wurde zu einem Teil in der Stollenanlage gedreht. Auch das hebt dieses Stück Dortmunder Geschichte wieder mehr ins Bewusstsein.

Der der Tatort-Premiere gab es schon Eindrücke von den Tiefstollen, die eine wichtige Rolle im Jubiläums-Tatort spielen. Foto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

Der Tatort-Dreh fand unter besonderen Sicherheitsvorkehrungen statt. Wer sich unerlaubt Zutritt zum Stollen verschafft, bringt sich in ernsthafte Gefahr. Denn in dem weitverzweigten Stollensystem können unerwartete Wassereinbrüche und das Kippen der Atmosphäre ebenso tödlich sein, wie einsetzende Panik und damit einhergehende Orientierungslosigkeit in dem weit verzweigten Stollensystem. An nur vier Stellen lässt sich mit dem Smartphone ein Notruf absetzen.

Für ihren ursprünglichen Zweck kann die Tiefstollenanlage wohl jedoch nicht mehr genutzt werden. Etwaige Instandsetzungsarbeiten wären sehr kostspielig. Dennoch will das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe dieses Thema im ganzen Land prüfen. „Vermutlich würde das noch viel Zeit in Anspruch nehmen, aber trotzdem sind wir froh, dass wir mit dem Vermessen und Dokumentieren schon vor einiger Zeit, Anfang 2021, angefangen haben“, sagt Ralf Herbrich.

Was über die Ursprünge und den Bau des Tiefstollens bekannt ist

Vielleicht bereits in den späten 1930er-Jahren, sicher aber mit dem Kriegsbeginn war mit dem Stollenvortrieb begonnen worden. 1943 wechselte die Zuständigkeit für den Bau der Luftschutzanlage zur Organisation Todt und die technische Leitung an die Tiefbau- und Bohrfirma Deilmann aus Dortmund-Kurl, was eine Intensivierung des Ausbaus zur Folge hatte.

Denn spätestens seit diesem Zeitpunkt wurden fast ausschließlich Zwangs- und Fremdarbeiter:innen für den Aus- und Weiterbau eingesetzt. „Auch ein wichtiges Kapitel in der Geschichte des Tiefstollens, das nicht vergessen werden darf“, betont Stadtarchäologe Ingmar Luther. „Die unbeschreibliche Größe des Stollensystems lässt nur im Ansatz ahnen, wie viele Menschen zur Arbeit unter Tage für den Stollenvortrieb und Ausbau eingesetzt waren und wie viele dabei ihr Leben ließen.“

Das Team von LQ Archäologie bei der Vermessung der Tunnel.
Das Team von LQ Archäologie bei der Vermessung der Tunnel. Foto: Roland Gorecki für die Dortmund-Agentur

Mit der Fertigstellung der Luftschutzanlage wäre ein Stollennetz unter der Innenstadt von Dortmund mit einer Länge von knapp 9 km entstanden, welches 80.000 bis 120.000 Menschen Schutz bieten sollte. Die Planung konnte bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges nicht vollständig realisiert werden.

Dennoch bot das bis dahin bereits auf etwa sechs Kilometer Länge angewachsene Tunnelsystem vielen Dortmunder:innen Schutz während der über 100 Luftangriffe der Alliierten auf Dortmund zwischen Mai 1943 und März 1945. In den letzten Kriegsmonaten wurde ein großer Teil der schriftlichen und zeichnerischen Dokumentation des Stollenbaus vernichtet.

Heutiger Zustand des Tiefstollens

Heute bietet sich den Besucher:innen eine zweigeteilte Anlage. Während das Teilstück vom St.-Johannes-Hospital bis zum Westpark noch im »bauzeitlichen« Zustand verblieben ist, fanden in dem nördlichen Bereich der Tiefstollenanlage bis zum Hauptbahnhof in den späten 1970er- und 1980er-Jahren Ertüchtigungsmaßnahmen und damit eine großflächige Überprägung der ursprünglichen Luftschutzanlage statt.

Die Planung sah vor, dass die Stollen ihre Funktion als öffentliche Zivilschutzanlage während des Kalten Krieges beibehalten. Die alten Stollenwände wurden dazu mit Rippenblech, Spritzbeton oder einer zweiten Betonhaut ausgekleidet und die Böden mit einer ebenen Betonschicht versehen. Auch von diesen Arbeiten am Tiefstollensystem fehlt bislang fast jegliche Information.

Mitarbeiter aus dem Vermessungs- und Katasteramt bei der Begehung.
Mitarbeiter aus dem Vermessungs- und Katasteramt bei der Begehung. Foto: Roland Gorecki für die Dortmund-Agentur

Vergeblich versuchen Besucher:innen heute, beim Befahren der einzelnen Stollenröhren deren ursprüngliche Funktion zu erkennen. Infrastruktur wie Schlaf- und Sitzgelegenheiten, Notküchen und Sanitäranlagen waren als temporäre Einrichtungen aufgestellt worden.

Die gesamte Einrichtung, wie auch alle technischen Anlagen zum Betrieb des Luftschutzstollensystems wurden nach dem Kriegsende vollständig zurückgebaut. „Die wenigen Hinweise vor Ort, wie Ansätze von Binnenmauern am Gewölbe, unterschiedliche Wandanstriche oder vereinzelte amtliche Hinweise an den Betonwänden wie »Platz für Ordner« oder »Abort« stellen die einzigen Anhaltspunkte auf die Funktion der einzelnen Räumlichkeiten dar“, berichtet Ingmar Luther.

Es gibt nur wenige Relikte, die mehr verraten

Relikte, wie die verbliebenen Bohrgestänge der (Zwangs-) Arbeiter:innen im Bereich eines unvollendeten Stollens oder eine Krankentrage sind dabei ebenso wichtig, wie bspw. die schriftlichen Zeugnisse, die die Schutzsuchenden während der Bombenangriffe in einem der sogenannten »Trocken-Aborte« hinterließen oder eine Bildzeitung von 1978, die die Aktivität in dem Luftschutzstollen während des Kalten Krieges belegt.

Parallel zu der archäologischen Dokumentation findet die Suche und Auswertung von noch vorhandenen historischen Quellen, wie Fotos, Bauplänen etc. statt. Am wichtigsten ist aber derzeit die Suche nach noch lebenden Zeitzeug:innen. Sie können das entscheidende Instrument sein um die zahlreichen Wissenslücken zum Tiefstollensystem zu schließen.

Wer Geschichten und/oder Fotos hat, kann sich mit Ingmar Luther von der Denkmalbehörde in Kontakt setzen: Ingmar Luther, iluther@stadtdo.de, 50 – 24299.

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