Von Alexander Völkel
Kann man in Dortmund ohne schwarz-gelbe Fußball-Begeisterung leben und arbeiten? Kaum, wie Rabbiner Avichai Apel schnell feststellen musste. Seit Dezember 2004 ist der Israeli bereits als Gemeinderabbiner in Dortmund und hat auch, nicht zuletzt Dank seines ältesten Sohnes, seine Liebe zum Fußball und zum BVB entdeckt. Doch vor allem abseits des Spielfeldes hat er vielfältige Kontakte geknüpft und sich große Achtung, Wertschätzung und Respekt in der Stadtgesellschaft erarbeitet – bei allen Konfessionen. Apel und Dortmund – das passt einfach. Wie früher Jürgen Klopp und der BVB. Doch im Sommer ist – für viele überraschend – Schluss: Es zieht Avichai Apel und seine Familie nach Frankfurt.
Der Dortmunder Rabbiner spielt künftig Champions League – für „Real Madrid“
Wieso ausgerechnet Frankfurt? Um beim Fußball-Vergleich zu bleiben: Die jüdische Gemeinde dort „spielt“ quasi in der Champions League. Sie zählt neben Berlin und München zum Top-Trio der deutschen Gemeinden und ist weltweit unter Juden sehr bekannt und geachtet.
Quasi das „Real Madrid der jüdischen Gemeinden“ – das „Bayern München“ würde hier niemandem über die Lippen kommen. Für einen Rabbiner ist es eine große Ehre und ein Karrieresprung. „Aber ich weine“ gesteht Avichai Apel. Nur schweren Herzens verlassen er und seine Familie Dortmund.
Der 40-Jährige ist ein gefragter Mann: Er ist Vorsitzender der orthodoxen Rabbiner-Konferenz in Deutschland – der mit Abstand größten Vereinigung jüdischer Geistlicher. Neben Frankfurt hatten auch die beiden anderen „Champions-League-Teams“ München und Berlin bei ihm in den vergangenen Jahren angeklopft. Er sagte jedoch ab. Doch jetzt war es an der Zeit für eine Veränderung und eine neue Herausforderung.
Apel hinterlässt im Sommer eine gut sortierte und geachtete Gemeinde in Dortmund. Denn das jüdische Leben mit seinen Institutionen hat sich gut entwickelt. Sie ist geradezu vorbildhaft: Ein eigener Kindergarten, Kooperationen mit Schulen, ein funktionierender Jugendtreff, ein voll belegtes eigenes Altenheim und ein wirklich lebendiges Gemeindeleben.
Die Kultusgemeinde Dortmund gilt als positives Beispiel für viele jüdische Gemeinden in Deutschland
Viele kleinere und auch größere Gemeinden schauen beinahe neidisch auf das, was sich in Dortmund entwickelt hat. Maßgeblichen Anteil daran hat der Rabbiner – aber vor allem auch seine Frau Bilha. Sie kümmert sich nicht nur um ihre sieben Kinder, sondern leitet auch die Sonntagsschule, organisiert die Tagesschule und bietet zudem noch abends Frauenangebote an.
Ihnen ist es gelungen, sehr viele Menschen wieder für ihren meist vergessenen Glauben und das Gemeindeleben zu begeistern. Das Interesse ist groß, die Teilnahme vielfältig. Einfach war das nicht: Immer wieder prallten unterschiedliche Mentalitäten aufeinander.
Während der Dortmunder Gemeindevorstand – ihm gehören überwiegend ältere deutschstämmige Juden an – sehr zurückhaltend agiert und alles dafür tut, sich nicht zu exponieren, setzte der selbstbewusste Israeli auf eine Vernetzung mit der Stadtgesellschaft und auf eine Öffnung der Gemeinde.
Kritik des scheidenden Rabbiners an der Zurückhaltung in der eigenen Gemeinde
„In Dortmund war das sehr schwierig und ist es mitunter heute immer noch“, gesteht Apel. Nur zu gut erinnert er sich an den beeindruckenden Umzug mit den neuen Thorarollen vom Platz der alten Synagoge zum jetzigen Gotteshaus in der Prinz-Friedrich-Karl-Straße.
Mehr als 700 Juden zogen durch die Stadt. Allerdings quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit, weil dies am frühen Sonntagmorgen passierte.
„Ich bin bereit mich zu zeigen, aber nur, wenn mich keiner sieht. Das ist falsch“, ärgert er sich über die aus seiner Sicht übertriebene Zurückhaltung. „Wir müssen uns auch dann zeigen, wenn es alle sehen. Selbst wenn uns unsere Kritiker sehen, Nazis oder Antisemiten.“
Für Apel ist der offensive Umgang wichtig – ebenso wie der Einsatz im Dialog mit Christen und Muslimen auf Augenhöhe: „Wir sind ein Bestandteil der Stadt. Die Menschen erwarten von uns, dass die jüdische Gemeinde sich zeigt. Und sie erwarten, dass wir gemeinsam deutlich machen, dass Dortmund bunt und nicht braun ist, und dass es eine lebendiges jüdisches Leben hier gibt.“
Die öffentlich begangene Chanukka-Feier am Phoenixsee ist ein großer Erfolg für die Gemeinde
Ein großer Erfolg ist es für ihn, dass es mittlerweile eine große öffentliche Chanukka-Feier am Phoenixsee gibt. „Es hat lange gedauert und es gibt auch jetzt noch Skepsis. Aber der Erfolg ist deutlich. Viele Juden und Nicht-Juden kommen – sie gehen gerne hin und wir bekommen viel Unterstützung von außen“, betont Apel.
Sicherheit sei wichtig. Aber man könne nicht immer alles nur absichern oder beschränken: „Wir dürfen nicht nur im sicheren Zuhause bleiben, sondern müssen selbstbewusst auftreten“, fordert er. „Wir sind ein Teil dieser Gesellschaft – mit allen Vorteilen und allen Nachteilen.“
Wenn man mit dem Rabbiner über seine Arbeit spricht, ist ihm seine Begeisterung anzumerken. Er lebt für seine Arbeit und für „seine“ Dortmunder Gemeinde. Umso schwerer fällt der Abschied. „Dortmund ist eine große und tolle Gemeinde“, sagt Apel nicht ohne Stolz.
Dennoch gibt die neunköpfige Familie dem Ruf einer der größten und traditionsreichsten Gemeinden Europas nach: Die Gemeinde in Frankfurt ist mit weit mehr als 7000 Mitgliedern doppelt so groß wie seine jetzige.
Frankfurt am Main hat eine große Bedeutung für die jüdische Welt
Der entscheidende Unterschied dabei: Die Gemeinde am Main hatte schon vor der Öffnung des „Eisernen Vorhangs“ 4500 Mitglieder – und damit mehr als Dortmund heute. An Apels bisheriger Wirkungsstätte sind 95 Prozent der Gemeindemitglieder Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion. Jüdisches Leben und jüdischer Glauben musste sich hier erst wieder schrittweise entwickeln.
Anders in Frankfurt: Zuwanderer, die seit den 1990er Jahren kamen, machen hier nur rund ein Drittel der Mitglieder aus. Zwar wirkte sich Hitlers Vernichtungspolitik auch in Frankfurt verheerend aus, weil von einst 30.000 Gemeindemitgliedern 90 Prozent ermordet oder vertrieben wurden.
Doch die neue Gemeinde wuchs – nicht zuletzt wegen der großen Bedeutung für die jüdische Welt – nach der Shoa wieder sehr schnell: Frühere deutsche Mitglieder, aber auch vertriebene Juden aus Polen und anderen osteuropäischen Ländern, dazu auch viele Israelis, ließen sich schon früh hier nieder. Sie gestalteten im Nachkriegsdeutschland ein vielfältiges und einflussreiches jüdisches Leben.
Nicht ohne Grund gründete sich der Zentralrat der Juden in Deutschland 1950 in Frankfurt am Main. Die Stadt wurde dann auch erster Sitz des jüdischen Dachverbandes, der seit 1999 in Berlin beheimatet ist. Der Sitz der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland ist heute noch am Main zu Hause.
Die Anfänge jüdischen Lebens in Frankfurt am Main gehen zurück in das 12. Jahrhundert
Auch aus religiöser Sicht hat Frankfurt einen hohen Stellenwert: „Die Gemeinde hat das jüdische Leben und die jüdischen Traditionen über Jahrhunderte weltweit nachhaltig geprägt“, erklärt Apel. Die Anfänge jüdischen Lebens in Frankfurt am Main gehen zurück in das 12. Jahrhundert.
Bekannte Rabbiner aller religiöser Richtungen haben hier gewirkt, darunter Samson Raphael Hirsch, Markus Horovitz, Nehemia Anton Nobel, Ceasar Seligmann und Georg Salzberger.
Apel tritt daher ein großes Erbe an. Auch sein Vorgänger – der ultraorthodoxe Rabbiner Menachem Klein – ist sehr bekannt und geschätzt. Daher wird in Israel – aber auch anderen Ländern – sehr aufmerksam verfolgt, was sich nun in Frankfurt tut. Die Personalie Apel wird teils kontrovers diskutiert. Vor allem der ultraorthodoxe Flügel ist skeptisch.
„Ihnen bin ich zu modern“, sagt der scheidende Dortmunder Rabbiner lachend. Er lacht, weil er 2004 in Dortmund die gegenteiligen Befürchtungen erlebte. Der orthodoxe Rabbi folgte auf Landesrabbiner Henry Brandt. Der liberale Geistliche ist heute noch Vorsitzender des kleineren „Allgemeinen Rabbinerverbandes“ – und auf geistlicher Ebene heute so etwas wie der „Gegenspieler“ von Apel und seinem orthodoxen Verband.
Der orthodoxe Rabbiner als Übersetzer und Trainer jüdischer Spielregeln
Nicht jedem passte beispielsweise, dass der „Neue“ in Dortmund am Sabbat und Feiertagen die moderne Mikrofon-Anlage nicht verwendete, da dies gegen die jüdischen Regeln verstoße. „Als Rabbiner habe ich eine Verpflichtung, mich an die Thora-Regeln zu halten und sie den Menschen beizubringen“, erklärt er.
Doch er sei nicht stur, sondern eigentlich pragmatisch. „Ich habe immer versucht, eine Brücke zu bauen – quasi als Übersetzer.“ Zwar meint Apel das mit dem „Übersetzer“ mehr als Vermittler des jüdischen Glaubens und der jüdischen Regeln. Doch seine Sprachkenntnisse sind damals wie heute gefragt.
Denn der Israeli hat drei Jahre als Jugendrabbiner in Russland gearbeitet, bevor er dann in Berlin für die Zentralwohlfahrtsstelle arbeitete – er war bundesweit für die Arbeit mit Jugendzentren in 50 Gemeinden zuständig. Nach drei Jahren holte ihn Dortmund als Nachfolger von Brandt ins Ruhrgebiet, als dieser in Ruhestand ging. Wobei: Das Amt des „Landesrabbiners“ lehnte Apel immer ab.
„Dortmund hat es verdient, einen Gemeinderabbiner zu haben. Ich wollte nicht überall was Kleines, sondern an einer Stelle was Großes erreichen“, berichtet Apel. Er setzte sich daher erfolgreich dafür ein, einen zweiten Rabbiner nach Dortmund zu holen. Seit fünf Jahren arbeitet Baruch Babaev als Assistent in Dortmund und als russischsprachiger Wanderprediger für die kleineren Gemeinden in Westfalen.
Dieser wird auch sein Nachfolger als Gemeinderabbiner. „Ich war somit der erste echte Gemeinderabbiner in Dortmund nach der Shoa. Der letzte Rabbiner in der Nazizeit hieß übrigens auch Apel. Aber verwandt sind wir nicht“, berichtet der 40-Jährige.
Vielleicht gibt es ein Wiedersehen beim Fußball – falls Frankfurt nicht absteigt
Ende Juli wird seine Familie von ihrem geliebten Dortmund Abschied nehmen – vier der sieben Kinder sind hier geboren. Der Zeitpunkt ist so gewählt, dass die Kinder rechtzeitig zum neuen Schuljahr am neuen Wohnort sind. Doch niemals geht man so ganz.
„Dortmund ist ja nicht aus der Welt.“ Apel verspricht, die Kontakte zur bisherigen Wahlheimat weiter zu pflegen. Und sein ältester Sohn Amiad – ein glühender BVB-Fan – wird ihn vielleicht auch weiterhin einmal im Jahr „ins Westfalenstadion schleppen“.
„Vielleicht gibt es dann ja auch beim Fußball BVB gegen Eintracht Frankfurt ein Wiedersehen“, fragen Freunde vorfreudig. Doch das löst nur Achselzucken beim Rabbiner aus. „Spielen Frankfurt und Dortmund in derselben Liga?“, muss Apel vorsichtig fragen.
„Noch – ja“, antworten ihm die eingefleischten Fußballfans seiner Gemeinde stirnrunzelnd. Beim Fußballfachwissen ist auch nach mehr als elf Jahren in Dortmund noch Luft nach oben. Doch zumindest das verzeihen die Gemeindemitglieder ihrem beliebten Rabbiner…
Reaktionen
Boris Gerczikow
Bin begeistert vom Rabbiner Apel. Was er in Dortmund geleistet hat. Weiter so in Frankfurt