Debatte um Karenztage in Dortmund: Sind Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall überflüssig?

Gewerkschaftschef spricht sich für Arbeitnehmer:innen aus

Krank zur Arbeit? Lohnfortzahlung erst ab dem zweiten Tag? Die Debatte um die sogenannten Karenztage beschäftigt Unternehmen, Politik und Gewerkschaft. NGG | Nils Hillebrand

Allianz-Chef Oliver Bäte fordert, dass Arbeitgeber:innen ihren Beschäftigten den ersten Krankheitstag nicht mehr bezahlen sollen. Sein Vorschlag stößt auf harte Kritik, unter anderem von der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG), die Arbeitgeber:innen dazu auffordert, „bei Fieber fair zu bleiben“. 

Arbeitgeber:innen könnten 40 Milliarden Euro einsparen

In ganz Deutschland schwappte Anfang des Jahres eine Krankheitswelle über die Bevölkerung. Bereits im Januar äußerte Oliver Bäte, Chef des Versicherungskonzerns Allianz, deshalb die Idee, den sogenannten Karenztag wiedereinzuführen. Um die hohen Kosten der Arbeitgeber:innen zu minimieren, fordert er, dass die Arbeitgeber:innen den ersten Krankheitstag nicht länger bezahlen.

Oliver Bäte ist Vorstandsvorsitzender der Allianz. Quelle: www.allianz.com

Arbeitgeber:innen würden 77 Milliarden Euro pro Jahr für Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall ausgeben. Hinzu kämen 19 Milliarden Euro von den Krankenkassen.

Daraus würden sich sechs Prozent der gesamten Sozialausgaben Deutschlands ergeben. Europaweit seien es im Schnitt dreieinhalb Prozent. Laut Bäte würden 40 Milliarden Euro durch unbezahlte Krankheitstage eingespart werden.

Einen weiteren Vergleich zu anderen europäischen Ländern zog Bäte im Rahmen der Krankheitstage. Mit 20 durchschnittlichen Krankheitstagen pro Jahr liege der Wert Deutschlands deutlich über den Angaben der anderen europäischen Länder, wo die Arbeitnehmenden durchschnittlich acht Krankheitstage vorgewiesen hätten.

Kritik erfährt Bäte von Gewerkschaften und aus der Politik 

Bäte stößt mit seinem Vorschlag auf Kritik. „Zu oft und viel zu schnell werden Beschäftigte, die sich krankmelden, in die ‚Blaumacher-Schublade‘ gepackt“, kritisiert Torsten Gebehart, Geschäftsführer der Gewerkschaft NGG Dortmund. Er fordert, dass Chef-Etagen mehr Rücksicht auf die Beschäftigten nehmen.

Torsten Gebehart ist Geschäftsführer der NGG-Region Dortmund.
Torsten Gebehart ist Geschäftsführer der NGG-Region Dortmund. Archivfoto: Klaus Hartmann für Nordstadtblogger.de

Seine Meinung teilt auch Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD). „Wer krank gemeldete Beschäftigte unter den Generalverdacht des Blaumachens stellt, hat ein verzerrtes Bild von den Arbeitenden in diesem Land“, sagte Heil dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.

Er gibt zu Bedenken, dass vor allem Arbeitnehmende mit niedrigem Gehalt es sich sonst nicht leisten könnten, einen Krankheitstag zu nehmen. 

Aus diesem Grund wurde bereit in den 1970er Jahren der Karenztag in Deutschland abgeschafft. Mehrere Jahre lang mussten Gewerkschaften für Lohnfortzahlungen kämpfen. Yasmin Fahimi, Chefin des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DBG), erklärte im  Deutschlandfunk, dass der Vorschlag Bätes gegen sozialrechtliche Errungenschaften verstoße. 

Der „Präsentismus“, das Erscheinen zur Arbeit auch wenn man krank ist, sieht Gebehart nicht als sinnvoll an: „Wer sich lieber krank zur Arbeit schleppt statt zum Arzt zu gehen und sich zu Hause auszukurieren, tut sich selbst keinen Gefallen damit“, sagt Gebehart. „Vor allem in der Ernährungsbranche ist es wichtig, dass kein erkranktes Personal hinter den Theken steht.

Ist der Vorwurf des „Blaumachens“ überhaupt gerechtfertigt?

Doch vielleicht liegen die Ursachen für die vergleichsweise hohen Krankenstände in Deutschland auch ganz woanders? So könnte die erhöhte Anzahl an Krankmeldungen laut der Hans-Böckler-Stiftung auf das automatische Weiterleiten der Bescheinigungen der Arbeitsunfähigkeit an die Krankenkassen zurückzuführen sein. Vor 2022 war dies nur unter freiwilliger Einwilligung des Patienten möglich.

Erkältungswellen und der Anstieg von psychischen Erkrankungen wirken sich auf die Statistik aus. Foto: Tim Reckmann / ccnull.de

Mehrere Erkältungswellen und der Anstieg von diagnostizierten psychischen Erkrankungen würden sich ebenfalls auf den Stand der Krankmeldungen auswirken.

Laut Sozialexperte der Hans-Böckler-Stiftung, Dr. Eike Windscheid-Profeta, sei die Zunahme psychischer Erkrankungen unter anderem auf ein belastendes Arbeitsumfeld zurückzuführen. 

„Auch verbesserte Diagnosemöglichkeiten sowie eine verbesserte Erfassung psychischer Erkrankungen sorgen für zunehmende Fehlzeiten“, so Windscheid-Profeta.

Arbeitgeber:innen dürfen am ersten Tag einen Nachweis verlangen 

Gesetzlich müssen Arbeitnehmer:innen eine ärztliches Attest spätestens am dritten Tag vorweisen. Arbeitgeber:innen dürfen aber auch schon am ersten Tag einen Nachweis der Arbeitsunfähigkeit fordern. 

Gebehart sagt, eine solche Forderung wäre allerdings „Unsinn“. Hausärzte erhalten nämlich einen Pauschalbetrag für jede behandelte Person. Dabei ist es gleich, wie häufig der Patient den Arzt in einem Quartal aufsucht oder wie aufwendig die Behandlung ist. Die Besuchspauschale bleibt gleich. 

Dies bedeutet auch, dass Ärzte Vorteile aus einer längeren Arbeitsunfähigkeit ziehen. Gebehart hält es deshalb für „kontraproduktiv“ ein Attest am ersten Tag zu verlangen. Falls eine beschäftigte Person nur einen Tag arbeitsunfähig ist, würden Ärzte das Krankschreiben für eine ganze Woche ausstellen. Damit könnten sie verhindern, dass Patienten mehrmals im selben Quartal kommen.

Keine Einigung zum Thema innerhalb der CDU

Ob und wie die Debatte über Karenztage weiter verläuft, wird sich zeigen. Mitglieder der aktuell stärksten Partei im Bundestag äußerten sich zwiespältig zum Thema.

Dennis Radtke ist Vorsitzender des CDU-Arbeitnehmer-Flügels. Quelle: dennis-radtke.eu

Unionsfraktionsvize Sepp Müller sagte dem „Politico“: „Auch wenn das Thema der Karenztage sich nicht in unserem Wahlprogramm findet, könnte dies ein altbewährter Ansatz sein.“

Anders sieht das Dennis Radtke, Vorsitzender des Arbeitnehmer-Flügels der CDU: „Ich will nicht, dass Menschen sich krank zur Arbeit schleppen, sich selbst und andere gefährden, weil sie Sorge haben, dass sie sonst nicht über die Runden kommen,“ sagte er. 


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Krankenstand in Dortmund auf Rekordhoch

Reaktionen

  1. AOK-Gesundheitsbericht 2024: Krankenstand in Dortmund bleibt auf hohem Niveau – 33,3 Prozent aller Fehltage entfielen auf Langzeiterkrankungen von mehr als sechs Wochen (PM)

    Der Krankenstand in Dortmund bleibt weiterhin auf hohem Niveau. Das geht aus dem aktuellen Gesundheitsbericht der AOK NordWest hervor. Danach weist die Gesamtbilanz der Krankmeldungen bei den rund 72.000 bei der AOK NordWest versicherten Arbeitnehmenden für das Jahr 2024 in Dortmund einen Krankenstand von 7,2 Prozent aus. Im Jahr zuvor lag der Wert bei 7,2 Prozent.

    Erkrankte Beschäftigte fehlten 26,4 Tage krankheitsbedingt in ihren Betrieben. Dabei dauerten 33,3 Prozent der Fehlzeiten länger als sechs Wochen. „Der häufigste Grund für eine Krankschreibung waren erneut die Atemwegserkrankungen mit mehr als einem Viertel aller Krankheitsfälle“, sagt AOK-Serviceregionsleiter Jörg Kock.

    Atemwegserkrankungen häufigster Grund für Krankschreibung

    Ursache für den nach wie vor hohen Krankenstand war in erster Linie ein weiterer Anstieg bei den Krankschreibungen wegen Atemwegsinfekten und anderen Erkältungskrankheiten. Der Anteil der Arbeitsunfähigkeitsfälle aufgrund von Atemwegserkrankungen an allen AU-Fällen lag 2024 mit 26,2 Prozent mit weitem Abstand an erster Stelle.

    „Die Einhaltung von Abstands- und Hygieneregeln, das Tragen von Masken, regelmäßiges Lüften und die Nutzung von mobiler Arbeit haben sich schon während der Covid-19-Pandemie als gute Gegenmaßnahmen bewährt und sollten weiter angewendet werden, um den Krankenstand bei den Atemwegserkrankungen zu senken“, so Kock.

    Nach den Atemwegserkrankungen folgten die Muskel- und Skeletterkrankungen (15,5 Prozent), Verdauungserkrankungen (6,1 Prozent) und Verletzungen mit einem Anteil von 4,6 Prozent an allen AU-Fällen.

    Öffentliche Verwaltung und Sozialversicherung mit höchstem Krankenstand

    Im Branchenvergleich ist der höchste Krankenstand bei den AOK-Mitgliedern in Dortmund im Jahr 2024 mit 8,9 Prozent in der öffentlichen Verwaltung und Sozialversicherung zu beobachten. Der niedrigste Wert war in der Branche Land- und Forstwirtschaft mit drei Prozent festzustellen. Die Fehlzeiten in Dortmund liegen mit 7,2 Prozent über dem Durchschnitt in Westfalen-Lippe von 7,1 Prozent.

    Betriebliches Gesundheitsmanagement einführen

    Kock weist darauf hin, dass sich das Arbeitsleben in den letzten Jahren durch eine zunehmende Digitalisierung, dem demografischen Wandel, Fachkräftemangel, Arbeitsverdichtung und Homeoffice deutlich verändert habe.

    „Die Arbeitswelt 4.0 hält Einzug in alle Branchen. Sie zeichnet sich durch eine zunehmende Digitalisierung und Globalisierung sowie durch einen Wandel der gesellschaftlichen Strukturen und Werte aus. Hier braucht es in den Unternehmen ein begleitendes betriebliches Gesundheitsmanagement. Das senkt Krankenstände und Fluktuation, steigert die Mitarbeiterzufriedenheit und führt so zu mehr Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit“, so Kock.

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