Von Thomas Engel
Der Rechtsstaat schützt auch jene, die den Rechtsstaat bekämpfen und die freiheitlich-demokratische Ordnung zugunsten von Intoleranz und Dummheit missbrauchen und/oder abschaffen wollen. Das Gesetz darf und soll durchaus wehrhaft sein. Hier, wenn es um den strafrechtlichen Umgang mit Neonazis geht, sieht der DGB allerdings Redebedarf – aus Erfahrung. Und lädt gern zur Diskussion darüber ein.
Rückblick: Neonazis greifen die Demonstration des DGB zum 1. Mai 2009 an
„Das Recht der Rechten“ – so die wohl bewusst äquivok gehaltene Formulierung des Veranstaltungsthemas, das an diesem Abend debattiert werden soll. Was damit ungefähr gemeint war, erläutert der hinzugefügte Nachsatz: „Strafrechtliche Verfolgung von Rechtsradikalismus“.
Eingeladen hatte der DGB Dortmund-Hellweg zusammen mit dem Dortmunder Arbeitskreis gegen Rechtsextremismus und der Arnold-Freymuth-Gesellschaft. Um was es den Veranstaltern ging: Mittel strafrechtlicher Verfolgung von und deren Wirksamkeit gegenüber Rechtsextremisten sowie die Auswirkungen auf die Gesellschaft abzuschätzen.
Besonders der DGB in Dortmund ist ein gebranntes Kind: Nicht nur hatten die Gewerkschafter vor nunmehr fast neun Jahren schockierende Erfahrungen mit Neonazis gemacht, als ihr Demonstrationszug zum 1. Mai überfallen, mehrere Menschen dabei verletzt wurden.
Sondern der wahre, weil scheinbar nicht endende Schrecken begann erst darauf, als es an die Aufarbeitung der Ereignisse 2009 in der Dortmunder Innenstadt und deren juristische Würdigung ging. Bis es nämlich vor dem Amtsgericht Dortmund zum Prozess gegen die beiden mutmaßlichen Rädelsführer des Überfalls kommt, vergehen sage und schreibe drei Jahre.
Erschüttertes Vertrauen in die Justiz – trotzdem Debatte mit Verantwortlichen
Wenig überraschend daher, dass Jutta Reiter, Dortmunder DGB-Vorsitzende, gleich eingangs auf den Umgang der kommunalen Justizbehörden mit dem Nazi-Überfall zu sprechen kommt. Wähnten sie sich seitens der Gewerkschaft anfangs noch im Schutz der Justiz, so Reiter, mussten sie „schnell feststellen, dass dem nicht so war“, fasst sie ihre Einschätzung zusammen.
Wie ist das möglich? Ist die Justiz auf dem rechten Auge blind? Wie war das noch mit den Ermittlungen zur NSU? – Was mitschwingt an diesem Abend im Großen Saal des Probsteihofes: Das Vertrauen der Gewerkschafter wie das so mancher TeilnehmerIn in die (Unabhängigkeit der) Justiz ist, moderat ausgedrückt, ausbaufähig – wenn es um die Anwendung von Recht auf Rechtsextreme geht.
Bemerkenswert daher, dass Vertreter von Institutionen, die bei dergestalt gelagerten Diskussionen häufig im Kreuzfeuer der Kritik stehen, Staatsanwaltschaft und Polizei, den Weg aufs Podium gefunden hatten und sich kritischen Fragen stellten. Solche Veranstaltungen gehörten für die Polizei zwar nicht zu den angenehmsten, macht Arnold Plickert, Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei NRW, denn auch gleich deutlich, aber deshalb sei es umso wichtiger, daran teilzunehmen.
Von unglücklichen Absagen und Rednern, die bereit sind, Auskunft zu geben
Andere hatten weniger Glück: Alle zur Veranstaltung eingeladenen RepräsentantInnen des Deutschen Richterbundes seien krank geworden, berichtet Franz Josef Düwell, Vorsitzender Richter a.D. am Bundesarbeitsgericht und Geschäftsführender Vorstand der Arnold-Freymuth-Gesellschaft.
Ebenfalls hatte sich Staatssekretär Dirk Wedel aus dem Justizministerium NRW entschuldigen lassen. Für ihn ist Volker Schmerfeld-Tophof, seit 2016 Leitender Oberstaatsanwalt in Dortmund, erschienen. Und auch er macht sich nichts vor: Ein Strafverfolger erziele in aller Regel Unzufriedenheit – entweder bei den TäterInnen oder den Opfern. Und letztere oder jene, die mit ihnen solidarisch sind, das weiß der Oberstaatsanwalt natürlich auch, bilden die überwiegende Mehrheit unter den TeilnehmerInnen der Veranstaltung, bei der er jetzt auftritt.
Für Spannung ist also gesorgt. Als Kick-off-Beitrag fungiert der Input durch die Rede des renommierten Kriminalisten Dr. Bernd Wagner von EXIT-Deutschland. Die im Jahr 2000 vom Zentrum für Demokratische Kultur gegründete Initiative bietet für Aussteiger aus der rechtsextremistischen Szene Hilfe zur Selbsthilfe an. Mehr nicht.
Gegenstand der Diskussion: Regulative bei der Anwendung des Strafrechts
Eindeutige Antworten gibt Wagner auf eine zentrale Frage: Ja, das Strafrecht habe eine große Bedeutung bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus. Gerierten sich Neonazis „bei polizeilichen oder gerichtlichen Vernehmungen“ auch zuweilen in besonderer Weise, so sei dies „oftmals Fassade“, schätzt Wagner den inneren Zustand rechtsextremistischer Straftäter hinter ihren teils lauten Tönen ein.
Strafe zeitigt also Wirkung, sagt der erfahrene Kriminalist. Was ist bei der Strafrechtsanwendung zu beachten? Wichtige Prinzipien seien hier: die Konzentration von Ressourcen, Schwerpunktorientiertheit, Beschleunigung, Beweisführungsqualität, Alternierungskraft (Was kommt nach der Strafe?) sowie Verhältnismäßigkeit bzw. Angemessenheit.
Einige dieser Regulative werden von den TeilnehmerInnen später natürlich intensiver diskutiert: Dort, wo sich ihre Postulate mit persönlichen Erfahrungen von AktivistInnen gegen Rechts kreuzen – etwa, wenn es um die Beschleunigung von Ermittlungen und Strafverfahren geht, so dass eine Repression möglichst zeitnah und daher – nach psychologischen Erkenntnissen – wirkmächtiger erfolgen kann.
Warum drei Jahre vom Überfall 2009 bis zum Prozessbeginn gegen Rädelsführer?
Wirkung: Um psychische „Nachhaltigkeit“ in diesem Sinne schien es seinerzeit allerdings den Ermittlungsbehörden in Dortmund gegen die Verantwortlichen für den Überfall auf die DGB-Demo nicht unbedingt bestellt zu sein. Im abschließenden Einzelgespräch mit Jutta Reiter hat Oberstaatsanwalt Volker Schmerfeld-Tophof eine für die ZuhörerInnen simple wie entwaffnende Erklärung.
Man habe in diesem Fall erst alle Videos auswerten müssen. Daher hätten sich die Ermittlungen so lange hingezogen. Was ein paar andere Ungereimtheiten zu dem damaligen Prozess betrifft: Fakt ist, dass Schmerfeld-Tophof zur Zeit der Ereignisse im Jahr 2009, während der diesbezüglichen Ermittlungen und des Prozesses in Paderborn, nicht in Dortmund zuständig war. Und kann daher keine konkreten Auskünfte geben.
Auch Arnold Plickert, Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei NRW, erkennt im Grundsatz an, dass Verfahren häufig zu lange dauerten, es daher keine schnellen Strafen gäbe. Macht dafür aber die dünne Personaldecke der ErmittlerInnen verantwortlich. Allerdings sei man in NRW gegenwärtig dabei, gerade beim Staatsschutz kräftig aufzustocken.
Keine Paragraphen mit Masterprotokollen verarbeiten, sondern der Gerechtigkeit helfen
Nichtsdestotrotz: Es scheint um Strukturen zu gehen, vermutet Jutta Reiter. Warum gab es etwa zum Prozess gegen die für den Übergriff mutmaßlich verantwortlichen Nazis nur sog. Masterprotokolle?
Sichtlicher Unmut bei einigen ZuhörerInnen. Durch solche Masterprotokolle würde Verantwortung verwischt, ärgert sich ein älterer Herr, der damals als Zeuge den Überfall auf die Demo hautnah erlebt hatte. Denn mit Masterprotokollen sei eine exakte personenbezogene Zuordnung einzelner Aussagen nicht mehr möglich, wie der DGB in einer Stellungnahme zum Prozess schon erklärt hatte.
Es passt vieles nicht an diesem Abend. Die vielzitierten Worte von Arnold Freymuth geistern durch den Saal: „Der Jurist ist nicht dazu da, Paragraphen zu verarbeiten, sondern er soll Helfer der Gerechtigkeit sein.“
Was denn aber unter „Gerechtigkeit“ jenseits rechtspositivistischer Schmalspurdeutungen im Hinblick auf Strafrechtsanwendung bei Rechtsextremismus verstanden könne, davon war rein gar nichts zu hören. Hat vielleicht philosophisches Denken gefehlt.
Vereint gegen Rechts – lediglich aus verschiedenen Perspektiven?
Nach dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft ging Freymuth ins Exil. Zunächst in die Schweiz, dann nach Frankreich, wo er sich 1933 zusammen mit seiner Frau das Leben nahm, so eine lexikalische Internetplattform zu dem aufrechten Juristen und Sozialdemokraten, dessen Namen die Arnold-Freymuth-Gesellschaft ehrt.
Es gäbe in der deutschen Justiz zuweilen eine gewisse Bequemlichkeit wie Faulheit, sichtbar etwa beim NSU-Skandal und den Behinderungen von Ermittlungen in diesem Zusammenhang, bemerkt ihr Geschäftsführer, Franz Josef Düwell. Beruflich aufgestiegen seien jene, die geschwiegen hätten. Das Schweigekartell müsse durchbrochen werden.
Wagner deutet in seiner Rede an, dass mittlerweile 22 Personen aus dem NSU-Komplex verstorben seien – „eigentlich zu Zeiten, zu denen man nicht verstirbt“, so der Ex-Kriminaloberrat. Es gibt eben erstaunliche Zufälle.
Schmerfeld-Tophof verweist auf die seit 1989 bei der Justizakademie des Landes NRW in Recklinghausen angesiedelte Dokumentations- und Forschungsstelle. Hier werden Rolle und Verstrickung der Justiz in Unrechtsstaaten, insbesondere während des NS-Regimes untersucht und Forschungsergebnisse MitarbeiterInnen der Justiz über Fortbildungen oder angehenden Juristen im Rahmen ihrer Ausbildung vermittelt.
Allerdings werde es immer schwieriger, junge Juristen, vor allem solche mit einem Migrationshintergrund für diese berufsethischen Themen zu sensibilisieren, so der Leiter der Staatsanwaltschaft in Dortmund.
Aus der Zivilgesellschaft heraus die Repression gegen Rechts denken
Wie es seien könne, dass kein Beamter aus vorderster Front bei den damaligen Ereignissen um die Demo zum 1. Mai als Zeuge vor das Gericht geladen worden sei?, hakt die DGB-Vorsitzende irgendwann ein. Dazu allerdings kann Schmerfeld-Tophof nichts sagen, denn er kenne den Fall im Einzelnen nicht. Zwischen Paderborn und Dortmund liegen offenbar mehr Welten, als der Fall damals Wellen schlug. Oder wie auch immer.
Vieles bleibt rätselhaft, obskur, ja, beängstigend. Julia Reiter bemängelt Kommunikationsdefizite in der Sache. Bernd Wagner nimmt umgekehrt die Zivilgesellschaft in die Pflicht: Neben Demonstration oder Demokratieprojekt müsse auch dort auf das Strafrecht, auf Repression hin gedacht und gearbeitet werden. – Das Paradoxon der Toleranz scheint durch: Wo sie von ihren Gegnern strukturell entfernt werden soll, ist Schluss mit lustig.
Einmal den Strafverfolgungsbehörden überantwortet, so Wagner weiter, müssten die betreffenden Menschen mit dem Ziel einer Deradikalisierung an Zweifel über das herangeführt werden, was sie tun/taten: Worin besteht der konkrete moralische Verwerflichkeitsgehalt ihres Handelns? Dazu sei es auch wichtig, kommunikative Öffentlichkeit aus den Verfahren heraus zu gestalten und insbesondere die Opferperspektive einzunehmen.
Besser den Beruf wechseln, statt als Jäger zum Jagen getragen werden zu müssen?
Daher sei der Kontakt von Strafverfolgungsbehörden mit verschiedenen zivilgesellschaftlichen Akteuren wichtig. Und es dürfe vom Strafrecht Schutz erwartet und eingefordert werden. Aber, so der Ausstiegsspezialist für ehemalige FreundInnen eines schneewittchenreinweißen Volkes, und mit leicht resigniertem Unterton: „Man muss auch manche Jäger zum Jagen tragen.“
Einige Redebeiträge in diesem Zusammenhang konnten ihrem intendierten Sinn nach allerdings als kritisch-rhetorische Anmerkung auf diese Äußerung hin verstanden werden: Ob denn dann die betreffenden Jäger, die da zum Jagen getragen werden müssten, nicht ihren Beruf verfehlt hätten.
Appelle an die Zivilcourage. Was tun, um Demokratie und Rechtsstaat zu sichern? Vertrauen in die Justiz. Bittere Kritik, aber auch Verständnis für Defizite beim Handeln der Strafverfolgungsbehörden. Demokratische Rechtsnormen deutlich machen. – Es gerät, wie bei der heterogenen Besetzung der Veranstaltung nicht anders zu erwarten, einiges durcheinander in der Debatte oder das Nebeneinander bleibt unaufgelöst.
Mögliche Überforderung von Gerichten bei Nazi-Strafsachen
Am Ende: doch etwas mehr, als ein freundliches „Schön-miteinander-gesprochen-zu-Haben“. Es bleibt etwas hängen. Mehr als Misstrauen. So als könne, trotz unterschiedlicher Aussagen, alles zugleich „irgendwie“ wahr sein, weil da ein Band zwischen den unterschiedlichen Perspektiven ist. Und es bleiben Ansatzpunkte für Veränderungsbedarf.
Nicht zuletzt wegen der Einblicke in die strafrechtliche und sozial engagierte Alltagspraxis im Kampf gegen den Rechtsextremismus. Manuel Kabis, Dortmunder Strafrechtler und erfahren im Zusammenhang mit der Verteidigung von Opfern rechtsextremer Gewalt, weist darauf hin, dass es symptomatisch für die Nazi-Szene sei, ihre Rechtstreue zu betonen.
Vertreten von sehr professionell agierenden Verteidigern, sei es weiterhin bei Angeklagten aus der rechten Szene üblich, sich nicht als Überzeugungstäter darzustellen.
Und wenn deren Anwälte alle Mittel des Rechtsstaates nutzten und vor RichterInnen des Amtsgerichtes die Strafprozessordnung rauf und runter beteten, wären diese schnell überfordert und kaum in der Lage, für die zu würdigenden Straftaten ein politisches Motiv nachzuweisen. – Mit anderen Worten: Schlussendlich werden dann Einzeltaten nach dem Strafgesetzbuch bestraft, ohne dass im Prozessverlauf oder bei der Urteilsfindung der Rechtsextremismus von TäterInnen eine signifikante Rolle spielt.
Statt als Opfer nur dahinzusinken: Aufstehen und die Stirn bieten
Einig waren sich die TeilnehmerInnen darüber, dass es kein Gesinnungsstrafrecht geben dürfe. Pfarrer Friedrich Stiller vom Dortmunder Arbeitskreis gegen Rechtsextremismus sieht hier ein Spannungsverhältnis: dass eine Gesinnungsjustiz einerseits zwar nicht mit unserem Demokratieverständnis vereinbar sei, es sie mithin nicht geben dürfe, andererseits aber die politischen Motive von rechtsextremen Straftätern durchaus relevant seien.
Ein solches Verständnis zur Bedeutung von Motiven für Nazi-Straftaten sollten sich auch deren Opfer begreiflich machen, wenn sie in für eine Posttraumatische Belastungsstörung typische Zirkel von Selbst-Schuldzuweisungen fallen. – So zu verstehen die Mitarbeiterin einer einschlägigen Beratungsstelle für Opfer rechtsextremer Gewalt. Das Wichtigste sei, dass die Opfer sich klar machten: nicht sie sind persönlich angegriffen worden, sondern stellvertretend von einer menschenverachtenden Ideologie (qua TäterInnen).
Und ebenso: Menschen dazu ermutigen, aus zivilgesellschaftlicher Courage gegen Rechts aufzustehen. Beispielsweise, indem jungen Menschen die Angst genommen werde, überhaupt in den Gerichtssaal zu gehen, wo häufig eine Atmosphäre der Einschüchterung herrsche, ergänzt Martin Loberg, Geschäftsführer der Auslandsgesellschaft.