Dortmunds Oberbürgermeister Thomas Westphal (SPD) erinnerte am 1. Jahrestag an den von der Polizei erschossenen Mouhamed Lamine Dramé. Der 16-Jährige starb am 8. August 2022 in der Nordstadt durch Schüsse aus einer Maschinenpistole. Um dem jungen Geflüchteten aus dem Senegal zu Erinnern, versammelten sich zahlreiche Menschen zu Gedenkveranstaltungen. Stunden zuvor kam es zu einem Zwischenfall mit dem Dortmunder Ordnungsamt, der viele Fragen aufwirft.
Ordnungsamt stoppt Flyerverteilung am Nordmarkt
Vor der Gedenkveranstaltung am Kurt-Piehl-Platz kam es am Nordmarkt zu einer Auseinandersetzung zwischen einem Aktivsten des Solidaritätskreises Mouhamed und Mitarbeiter:innen des Ordnungsamtes. Laut Aussage der Stadt soll der 31-Jährige erheblichen Widerstand geleistet haben. „Aufforderungen, die Flyer abseits des Wochenmarktes zu verteilen und sie auszuhändigen, kamen sie nicht nach. Daraufhin wurden die Flyer sichergestellt“ teilt die Stadt schriftlich mit.
Aus Sicht des Betroffenen hat der Kommunale Ordnungsdienst allerdings falsch gehandelt: „Ich kenne den Nordmarkt als Austauschort schon wirklich lange. Das ist der Ort, wo man Menschen aus der Nordstadt politisch erreichen kann. Der Mord an Mouhamed macht die Menschen hier betroffen. Es ist so ein krasser Unterscheid zwischen der Nordstadt und dem Rest von Dortmund, was der Fall für eine Rolle spielt.“ Außerdem behauptet der 31-Jährige: „Wir sind extra ein Stück an den Rand gegangen, um den Marktbetrieb nicht zu stören.“
Auf der Gedenkveranstaltung wurde der Vorfall nicht thematisiert. Raphael, so der Name des Aktivisten, der seinen Nachnamen lieber nicht nennen möchte, sagt, er wolle eigentlich nicht im Mittelpunkt stehen. Am Todestag von Mouhamed sei nicht er die wichtige Geschichte.
Schwere Vorwürfe gegen das Ordnungsamt
Laut Raphael habe das Ordnungsamt ihm Handschellen angelegt, obwohl seine Personalien bereits aufgenommen wurden. Die Stadt hingegen behauptet, dass dies erst auf der Wache geschehen sei.
Videos, die der Redaktion vorliegen, zeigen allerdings einen Mitarbeiter des Ordnungsamtes, wie er den betroffenen Aktivisten auf dem Nordmarkt, zu dem Zeitpunkt noch ohne Handfesseln nach seinen Personalien fragt.
Was danach auf der Wache geschehen ist, beschreibt der 31-Jährige wie folgt: „Ich fünf mal nach meiner Anwältin gefragt, das wurde mir aber verweigert. Danach habe ich nach einem Arzt gefragt, weil ich mittlerweile starke Schmerzen am Handgelenk hatte. Daraufhin wurden die Handschellen an meinem heilen Handgelenk gelöst, mit meinem schmerzenden Handgelenk wurde ich an einem Haken an der Wand fixiert.“
(Anmerkung der Redaktion: Über den Umgang mit dem Aktivisten sowie darüber, ob es dem Ordnungsamt ihn Bezug auf den an Sensibilität fehle, konfrontierte die Stadt Dortmund mit Fragen. Allerdings wurden dies auch mehr als zwei Tage nach dem Vorfall nicht kommentiert. Sobald die Reaktion vorliegt, werden wir den Text aktualisieren. Update: 11.08. 12 Uhr: Update am Ende des Textes)
Das Verbot der Verteilung ist rechtlich nicht unumstritten
„Ich gestehe denen zu: Das war am Anfang auch kommunikativ von denen. Für mich war das keine Frage, ob das rechtlich ok ist, vielmehr geht es um Mouhamed und den 08.08. Es geht um Gedenkarbeit“, so der Aktivist.
Nach dem Vorfall erklärte die Stadt in einem ersten Statement: „Mit Blick auf den Zeitpunkt des Vorfalls ist eine abschließende, rechtliche Beurteilung des Vorgehens des Mitarbeiters nicht möglich. Nach dem aktuellen Kenntnisstand ist kein rechtlich zu beanstandendes Verhalten erkennbar.“
Das sieht der Düsseldorfer Rechtsanwalt Dr. Jaspar Prigge anders: Einem Urteil des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen aus dem Jahr 2019 zufolge dürfen trotz Marktveranstaltungen sogenannte „politische Druckerzeugnisse“ ohne Genehmigung verteilt werden, da politische Informationen nach Artikel 5 des Grundgesetzes unter Meinungsfreiheit zählen.
Solidaritätskreis morgen wieder auf dem Nordmarkt
Für den Freitag hat der Solidaritätskreis angekündigt, auf dem Nordmarkt mit Nachbar:innen ins Gespräch zu kommen. Dazu seien auch Oberbürgermeister Thomas Westphal und Ordnungsdezernent Norbert Dahmen eingeladen.
Die Gruppe fordert zudem die Herausgabe des beim Einsatz beschlagnahmten Materials für die Demonstration am Samstag „im Tausch für türkischen Tee und Sesamringe“.
„Ja ich bin auf dem Boden gelandet aber es ging und geht dabei nicht um mich. Es geht um das repressive System der Gewaltlogik, die auf den Körper wirkt. Dienstag war es meiner, morgen wird es ein anderer sein“, so Raphael.
Oberbürgermeister sucht das Gespräch mit betroffenen Personen
Ein Jahr nach dem Tod von Mouhamed Dramé erklärt Westphal: „Die damalige Trauer und Bestürzung hat nach wie vor in verschiedenen Gruppen Bestand, weil Dinge noch nicht aufgearbeitet sind.“
„Ich habe regelmäßige Gespräche geführt, vornehmlich mit jüngeren Leuten aus der afrikanischen Community. Um die eigenen Sichtweisen auszutauschen und über die Situation in der Stadt zu reden, weil der Bedarf, darüber zu reden, gewachsen ist“, so Westphal.
Diese Gespräche möchte der Oberbürgermeister mit Prozessbeginn gegen die angeklagten Polizeikräfte vor dem Landgericht weiter fortsetzen. Das sei ein wichtiger Schritt, um das Zutrauen in den Rechtsstaat zu erhöhen.
Todesfall als Anstoss für verschiedene Reformprozesse
Oberbürgermeister Thomas Westphal erinnerte in der Pressekonferenz nach dem Verwaltungsvorstand an Dramé: „Der 8. August 2022 hat Bestürzung ausgelöst. Er ist ein Tag des Schmerzes und der Wut für Familie und Freunde. Gleichzeitig hat er eklatante Lücken unserer Hilfesysteme aufgezeigt und den Anstoß für wichtige und notwendige Veränderungen gegeben. Wir wollen auch weiterhin zuhören, lernen und zusammenbleiben“.
Gleichzeitig warnte er erneut vor Vorverurteilungen – sowohl gegen die Polizei als auch gegen Mouhamed Dramé: „Solche Versuche, die Ereignisse für eigene Zwecke zu instrumentalisieren, verfangen jedoch in der Dortmunder Stadtgesellschaft nicht“ betont der OB.
Zu wenig Geld für die Staatsanwaltschaft und die Gerichte
Für Westphal habe die Aufklärung des Falls gut funktioniert. Allerdings ist die Ausstattung der NRW-Justiz dem SPD-Politiker ein Dorn im Auge: „Die personelle Ausstattung ist zu gering. Auch das die Schwerpunkt-Staatsanwaltschaft für die Nordstadt aufgegeben wurde, hat im Kontext des Verfahrens viel Kritik ausgelöst – und die Kritik habe ich geteilt. Das ist ein Ergebnis fehlender Ressourcen und falscher Ressourcenverteilung. Auch daran wird man arbeiten müssen.“
Update 12. August, 12 Uhr:
Bezüglich der Situation auf dem Nordmarkt am 8.8.23 äußert sich Ordnungsdezernent Norbert Dahmen: „Die Dortmunder Wochenmärkte sind beliebte Handelsplätze. Menschen kaufen dort Lebensmittel, Kleidung, Spielsachen, Dinge für den Alltag. Auch sind sie Orte der Begegnung und des Miteinanders.
Um einen guten Verlauf eines Markts zu ermöglichen, gibt es die Wochenmarktsatzung der Stadt Dortmund. Darin ist unter anderem geregelt, dass keine Werbematerialien, Prospekte, Flyer, Give-Aways oder ähnliches an die Besucher*innen verteilt werden dürfen.
Zudem wollen die Marktbeschicker*innen ihre Waren anbieten und verkaufen. Und zwar, ohne dass vor ihren Ständen Sachen und Flyer einfach so verteilt werden und den Verkauf behindern.
Wenn jemand den Verlauf des Marktgeschehens stört, dann wird er darauf hingewiesen. Das machen die Marktmeister*innen der Stadt Dortmund, die vor Ort Ansprechpartner*innen für die Händler sind und auch dann helfen, wenn es Probleme gibt.
Am 8. August haben Personen auf dem Nordmarkt Flyer einen Klappstuhl mit Plakaten aufgestellt und Flyer verteilt. Darüber haben sich die Marktbeschicker bei ihren Marktmeistern beschwert. Diese gingen der Beschwerde nach.
Sie wiesen die Personen darauf hin, dass das Verteilen dort nicht erlaubt ist. Mit der Bitte, sofort damit aufzuhören und dies an einem anderen Ort zu tun – außerhalb der Marktfläche.
Den mehrfachen Aufforderungen kamen die Personen aber nicht nach und verteilten weiter. Die Marktmeister konnten die Angelegenheit so nicht klären und baten um Hilfe durch den Kommunalen Ordnungsdienst (KOD) der Stadt Dortmund.
Auch der wiederholten Bitte, durch die Mitarbeiter des KOD, die Verteilung der Flyer an einem anderen Ort weiterzuführen, kam eine der Personen nicht nach und widersetzte sich trotz Platzverweis weiter den Anweisungen der Ordnungshüter. Als Folge dessen, war eine ordnungsrechtliche Maßnahme zum Beenden der Verteilung notwendig.“
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Reaktionen
Hayek
Ich wusste gar nicht, dass das Ordnungsamt überhaupt Menschen festsetzen, geschweige denn ihnen Handschellen anlegen darf. Schon gar nicht, weil sie politische Flyer verteilen. Interessant fände ich übrigens, wie sich die Zahl der Mitarbeiter beim Ordnungsamt in Dortmund entwickelt hat. Meinem Eindruck nach, gibt es immer mehr von den „Hilfssheriffs“, und ich frage mich warum? Wir brauchen gute Polizisten, die eine anständige Ausbildung durchlaufen haben, und nicht irgendwelche billigen Bürokraten in Uniformen mit Aggressionsproblemen…
Ulrich Sander (VVN-BdA)
Der Vorfall war durchaus ein Gesprächsthema auf dem Kurt Piehl Platz, aber kein Thema fürs Mikro. Der Vorgang erschien uns allen völlig absurd. Ein Flyer ist doch keine Ware, die mit den Würstchen und Brötchen konkurriert. Einen Flyer zu verteilen, das ist Meinungsfreiheit. Dem Verteiler Fesseln anzulegen, ist ungeheuerlich.