Am 30. Juli 2023 ist Welttag gegen den Menschenhandel

Chance auf Neubeginn: Mitternachtsmission fordert ein Aufenthaltsrecht für die Opfer

Heike Müller und Andrea Hitzke leiten die Mitternachtsmission, Regine Reinalda und Laura Rudolf sind Sozialarbeiterinnen (v.l.) Daniela Berglehn für nordstadtblogger.de

Der Traum von einem besseren Leben, einer Zukunft für sich und vielleicht die Kinder – er endet für manche Frauen in einer Tragödie. Mit großen Hoffnungen brechen sie nach Deutschland auf und werden dann Opfer von Menschenhandel und zur Prostitution gezwungen. Manchen gelingt es zu entkommen – dann helfen ihnen die Beraterinnen der Dortmunder Mitternachtsmission.

Trauriger Rekord: bereits über 300 Frauen in der Betreuung

Über 300 Frauen befinden sich – Stand 30. Juni 2023 – in der Betreuung der Dortmunder Mitternachtsmission. Ein trauriger Höchststand, denn 2022 waren es im ganzen Jahr 392 Klientinnen. Darunter Frauen wie Fatoumata, 18 Jahre, aus Guninea oder Lindita, 19 Jahre, aus Albanien (Namen geändert).

Hilfe für Frauen in Not: Die Mitternachtsmission in der Dudenstraße Daniela Berglehn | Nordstadtblogger

Fatoumata wird bereits im Alter von 15 gegen ihren Willen verheiratet, flieht vor den Vergewaltigungen durch ihren Ehemann und gerät auf der Flucht an Menschen, die ihr zunächst helfen, dann aber die Papiere abnehmen und sie zur Prostitution zwingen.

Lindita verliebt sich in einen jungen Mann, geht mit ihm ins Ruhrgebiet, doch statt ein gemeinsames Leben aufzubauen, beginnt er sie zu schlagen, macht sie von sich abhängig und „verkauft“ sie schließlich an einen illegalen Bordellbetrieb, um seine Schulden zu tilgen.

Fatoumata gelingt die Flucht, als eine Tür offen steht – Lindita hilft ein Freier, als er sieht, dass sie schwanger ist. Beide Frauen führt der Weg zur Dortmunder Mitternachtsmission.

„Ämter müssen Schutzrechte schnell und zuverlässig gewähren“

„Die Geschichten, die wir hier hören, werden immer krasser“, erzählt Andrea Hitzke, die die Dortmunder Mitternachtsmission seit 2012 leitet. „Ein großer Teil der Frauen hat bereits eine lange und leidvolle Geschichte hinter sich. Manche sind schwanger oder bringen kleine Kinder mit.“ 2022 wurden 340 Kinder durch das Team mit betreut – dabei sind viele der Klient:innen selbst noch Kinder: Über 80 Kinder und Jugendliche haben 2022 Hilfe bei der Mitternachtsmission gesucht – darunter 25 Opfer von Menschenhandel.

Mädchen und junge Frauen werden häufig Opfer der „Loverboy-Methode“, bei der sich der Freund als Zuhälter entpuppt. Sie werden durch Streetwork erreicht, es gibt Präventionsarbeit z.B. an Schulen oder auch die Möglichkeit zur Onlineberatung. Daniela Berglehn | Nordstadtblogger

Vom Tag der Aufnahme an, kümmert sich das Team um Kleidung, Lebensmittel, ärztliche Versorgung und eine sichere Wohnung – eine Herausforderung, auch finanziell. „Die Opfer haben besondere Schutzrechte, die den Aufenthalt, die Hilfe zum Lebensunterhalt und Krankenhilfe betreffen“, so Hitzke, „aber diese müssen oftmals in langwierigen Verhandlungen erst durchgesetzt werden.“

Das ärgert sie, denn da sei viel Bürokratie und Gerangel bei den Zuständigkeiten und auch wenn die Zusammenarbeit mit der Stadt grundsätzlich gut sei – „das könnte geschmeidiger laufen.“ Bis Anträge und Leistungen bewilligt sind, versucht der Verein einzuspringen, aber die finanziellen Ressourcen sind begrenzt und gerade Arztrechnungen – zum Beispiel für die Geburt eines Babys – betragen schnell mal ein paar tausend Euro.

Sprache und kulturelles Verständnis sind die Basis für Vertrauen

Waren früher mehrheitlich Frauen aus Osteuropa unter den Opfern, kommt der überwiegende Teil der Frauen inzwischen aus westafrikanischen Ländern. „Schon beim ersten Kontaktgespräch ist es unerlässlich, Menschen mit entsprechenden Sprachkenntnissen und kulturellem Hintergrundwissen einzubeziehen“, berichtet Heike Müller, „glücklicherweise haben wir vier Mitarbeiterinnen aus unterschiedlichen westafrikanischen Ländern.“

Rose Ilunga Mutombo und Aicha Diallo (v.l.) helfen insbesondere bei der Betreuung und Beratung von Frauen aus Westafrika. Klaus Hartmann | Nordstadtblogger

Rose Ilunga Mutombo kommt aus dem Kongo und ist seit 2020 dabei – sie spricht Französisch, aber auch Lingala, Kiluba und Kiswahili. Die Sprachen und ihre Kenntnisse der Kultur helfen ihr das Vertrauen der Frauen zu gewinnen, sie zu beraten und zu begleiten. Genau wie ihre Kollegin Aicha Diallo ist sie selbst Mutter. Diallo kommt aus Guinea und spricht neben Französisch auch noch Fula.

Gemeinsam mit einer Kollegin aus Gambia und einer aus Ghana arbeiten sie im Projekt „Empowerment für Flüchtlingsfrauen“, das aus Bundesmitteln finanziert wird. Doch 2024 läuft die Förderung aus und das wäre für die Mitternachtsmission ein Schlag: „Ohne diese Kolleginnen und ihre Kenntnisse ist die Arbeit mit den Opfern fast nicht möglich,“ so Müller und hofft auf eine Verlängerung bzw. zusätzliche Fördermittel.

Koalitionsvertrag umsetzen! Aufenthaltsrecht für Opfer, auch ohne Anzeige

Und was geschieht mit den Frauen, wenn sie sich befreien konnten? „Ob sie hier in Sicherheit bleiben und sich und den Kindern eine Zukunft aufbauen dürfen, hängt von ihrer individuellen Situation ab“, erklärt Hitzke. Die Frauen können Asyl beantragen, doch je nach Herkunftsland droht ihnen die Abschiebung oder Rückführung in das Land, in das sie als erstes eingereist sind.

Oder sie erstatten Anzeige und erhalten – im Falle der Aufnahme des Strafverfahrens – für die Dauer der Ermittlungen ein Aufenthaltsrecht. Eine schwierige Situation, denn „die Aussage im Strafverfahren stellt für die Betroffenen eine große Hürde dar, auch wenn sie grundsätzlich bereit sind, als Zeuginnen zur Verfügung zu stehen“, so Hitzke.

Gemeinsam mit dem bundesweiten Koordinierungskreis gegen Menschenhandel fordert die Mitternachtsmission daher ein Aufenthaltsrecht für Opfer von Menschenhandel unabhängig von der Bereitschaft Anzeige zu erstatten. So ist es auch bereits im Koalitionsvertrag der aktuellen Bundesregierung formuliert – doch die Umsetzung lässt auf sich warten.

Keine Ressourcen bei der Polizei? Das spielt den Täter:innen in die Hände

Legale Prostitution – die Linienstraße in der Nordstadt von Dortmund. Foto: Alexander Völkel für Nordstadtblogger.de

Die zweite Forderung der Akteur:innen richtet sich an die Polizei. Die Mitternachtsmission und weitere Fachberatungsstellen in NRW vermissen regelmäßige Kontrollen.

Laut Recherchen des Netzwerks kamen in den letzten fünf Jahren, außer in Düsseldorf, weniger als zehn Prozent der Opfer über die Polizei in den Kontakt mit den Beratungsstellen – vor 20 Jahren waren es weit mehr als 50 Prozent. Der Verdacht liegt nahe, dass die aktuellen Zahlen also nur die Spitze eines Eisberges sind.

Der Grund sind mangelnde Ressourcen für die oft langwierigen und komplexen Ermittlungen. Gespräche des Netzwerks mit den Behörden ergaben, dass es für die Vorbereitung und Durchführung von Kontrollen und Razzien an Personal, an finanziellen Möglichkeiten und zeitlichen Kapazitäten fehlt. „Das spielt den Täter:innen in die Hände“, so eine Sprecherin des Netzwerks.

„Wenn sie eine Chance bekommen, geben sie richtig Gas!“

Lebensgeschichten voller Verzweiflung und Gewalt – Hilfe, die durch Gesetze, Bürokratie und Ressourcenmangel erschwert wird. Wie behält man die Kraft für die Arbeit in der Mitternachtsmission?

„Wenn ich ein Abschlussgespräch führe, die Frau sehe, wie sie sich verändert hat, vielleicht ein Bleiberecht erwirken konnte, dann ist das ein großes Glück“, erzählt Heike Müller. Und Andrea Hitzke ergänzt; „Das sind so tolle Frauen hier, interessante Frauen, starke Frauen – und wenn sie eine Chance bekommen, dann geben sie richtig Gas. Das macht Mut.“

Wer die Arbeit der Mitternachtsmission unterstützen möchte kann sich ehrenamtlich engagieren oder auch spenden: mitternachtsmission.de/unterstuetzen-sie-uns/foerderverein/

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