Neuwahl bei der SPD-Fraktion – und für manchen eine überraschende dazu: Carla Neumann-Lieven (60) ist neue Fraktionsvorsitzende der SPD im Dortmunder Rat. Sie hatte sich gegen Roland Spieß (63) durchgesetzt. Wer ist „Die Neue“ an der Spitze der größten Ratsfraktion? Nordstadtblogger hat sie und ihren Mann Andreas Lieven zum Redaktionsgespräch eingeladen. Denn er wird gleich verstärkt „mit in die Pflicht“ genommen.
Carla Neumann-Lieven ist die erste Frau an der Spitze der SPD-Fraktion
Carla Neumann-Lieven ist die erste Frau an der Spitze – und „neu“ ist sie nicht wirklich. Seit 2004 sitzt sie im Rat der Stadt, zuletzt war sie stellvertretende Fraktionsvorsitzende, ist Aufsichtsratsvorsitzende der DOGEWO und Sprecherin ihrer Partei im Ausschuss für Mobilität, Infrastruktur und Grün.
Das lässt der 60-Jährigen auch bisher schon wenig Zeit. Doch ihre neue Funktion stellt die Berufstätige – sie arbeitet als Tagesmutter – vor ganz neue Herausforderungen. Denn anders als ihre Vorgänger kann sie sich dafür nicht einfach freistellen lassen – das passt nicht zum Berufskonstrukt von Tageseltern.
Daher muss ihr Mann Andreas Lieven – ebenfalls in der Politik kein Unbekannter und in der Bezirksvertretung Lütgendortmund Fraktionsvorsitzender der SPD – nun verstärkt helfen. Doch er ist selbst auch berufstätig: Der 59-Jährige verlässt morgens um 3 (!) Uhr das Haus, weil er als Disponent für ein großes Lieferunternehmen arbeitet.
Die 60-Jährige hat die undankbare Aufgabe in der wahrscheinlich schwierigsten Zeit übernommen
Statt des verdienten Mittagsschlafs, bevor es für Andreas Lieven ins ehrenamtliche Politik-Geschäft geht, muss er nun nahtlos in die Kinderbetreuung einsteigen. Das hat er zwar schon vorher gemacht. Doch nun ist er zeitlich noch stärker gefordert, weil seine Frau seit dieser Woche verstärkt in der Fraktionsgeschäftsstelle gefordert wird.
Sie hat die undankbare Aufgabe übernommen, in schwerstem Seegang das Ruder der zwar noch größten Fraktion im Rat zu übernehmen. Doch die SPD musste stark Federn lassen und hat – nicht zuletzt wegen der Projektpartnerschaft von Grünen und CDU im Rat – bisher kaum ein Bein auf den Boden bekommen.
Dies war ein Grund für die große Unzufriedenheit in der SPD-Fraktion, die im Rücktritt von Fraktionschef Hendrik Berndsen und weiterer Vorstandsmitglieder gipfelte. Berndsen hatte glücklos agiert – für Carla Neumann-Lieven als seine Nachfolgerin ist die Aufgabe damit nicht einfacher geworden.
Im Geschäftsführenden Vorstand stehen ihr neben dem bisherigen Vize Franz-Josef Rüther die neu gewählten Olaf Schlienkamp und Veronika Rudolf als weitere stellvertretende Vorsitzende zur Seite. Sie müssen die geschrumpfte SPD-FRaktion auf einen erfolgsversprechenderen Kurs zurückbringen.
Eine Tagesmutter führt die SPD-Fraktion: „Ich habe mich vor Verantwortung nie gedrückt“
Von manchen – vor allem auch außerhalb der Fraktion – wird Carla Neumann-Lieven skeptisch beäugt: Sie ist die Einzige ohne Studium im Vierergremium. Doch das passt zum ursprünglichen Spirit der SPD: Die ehemalige Zahnarzthelferin und dann arbeitslose alleinerziehende Mutter von zwei Kindern entschied sich vor 17 Jahren, sich als Tagesmutter neu zu orientieren.
In der BV Lütgendortmund, wo sie sich ebenfalls engagierte, lernte sie Andreas Lieven kennen und viel später lieben. Mittlerweile bilden sie seit vielen Jahren eine moderne Patchworkfamilie – auch Lieven hat ein Kind „eingebracht“. Im Studium der Sozialarbeit jobbte dieser bei einem Logistikunternehmen und blieb dort hängen.
Insofern – und das ist auch die Meinung der Lievens – wissen sie nur zu gut, wie es „dem kleinen Mann“ geht – den Menschen mit den kleinen Einkommen, den durch Corona gebeutelten Familien und auch den Menschen, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind.
Carla Neumann-Lieven muss nun die 27 (bzw. mit dem Oberbürgermeister 28) Ratsmitglieder zu einer neuen Geschlossenheit und alter Stärke zusammenführen. Ob man sie dazu beglückwünschen oder doch eher bemitleiden soll? „Ich habe mich vor Verantwortung nie gedrückt – und das ist verantwortungsvoll und mit Sicherheit nicht leicht“, weiß die 60-Jährige.
Die SPD muss Antworten auf die Projektpartnerschaft von Grünen und CDU im Stadtrat finden
Sie muss zwei zerstrittene Enden wieder zusammenführen. „Viele haben gesagt, dass ich wohl ein Händchen habe und ausgleichend wirke.“ Sie scheut auch nicht das Label „Mutter der Kompanie“: „Das Etikett habe ich mir selbst ans Revers geheftet, bevor andere das machen. Das ist daher nicht neu, aber jetzt muss ich es leben und schaffen.“
Noch größer dürften die inhaltlichen Herausforderungen werden: Sie will daher gemeinsam mit der Fraktion die inhaltliche Richtung ausloten. Denn die SPD ist gefordert, Antworten auf die neue Projektpartnerschaft von Grünen und CDU zu finden, die in den vergangenen Monaten sehr häufig der SPD den Schneid abgekauft hat.
Denn viel zu häufig waren die Genoss*innen in Rat und Ausschüssen – mitunter auch in Bezirksvertretungen – nicht sprachfähig. „Es sind eine Menge Arbeitsfelder“, sagt sie mit Blick auf die zahlreichen inhaltlichen Baustellen. Doch klar ist: Es geht um eine inhaltliche Ausrichtung – nicht um personelle Veränderungen in den Gremien.
Natürlich guckt Neumann-Lieven dabei vor allem auf bezahlbares Wohnen. „Als wohnungspolitische Sprecherin wäre es ein Affront, wenn ich das nicht nennen würde“, sagte sie lachend. „Aber auch Klimaschutz und Mobilität – da wirklich auch der Verkehrsumbau -, Gute Arbeit, Bildung und Digitalisierung sind die entscheidenden Themen“, listete sie auf.
Ihr Ziel ist, die Menschen bei den gesellschaftlichen Veränderungen mitzunehmen
Dabei geht es auch ein Stück weit darum, sich als SPD-Fraktion vom Verwaltungsvorstand und dem eigenen OB etwas zu emanzipieren. Eine Gratwanderung, aber nötig. Denn in den vergangenen sechs Jahren unter OB Ullrich Sierau kamen kaum Impulse für eigenständige Projekte – so zumindest wirkte es von außen. Viele sahen die Fraktion nur als Mehrheitsbeschaffer.
Die SPD will sich nun etwas selbstbewusster positionieren. „Ich möchte mit der Fraktion zusammen die Themen angehen, die passenden Anträge entwickeln und eine gute Gesprächsebene zu den anderen demokratischen Parteien finden“, betont die neue Fraktionsvorsitzende.
Themenfelder gebe es ja viele: Doch dabei gehe es auch immer darum, die Menschen in den Stadtteilen und Dörfern mitzunehmen. „Einige können den Umbau stemmen, bei anderen sind die Veränderungen mit unglaublichen Ängsten behaftet. Das merken wir nicht nur beim Thema Wohnen.“
Doch Veränderungen seien gerade in Zeiten von Corona um so schwieriger. Nicht nur weil viele Menschen kein Licht am Ende des Tunnels sähen, sondern jede Veränderung eine weitere Delle in der kleinen Blase bedeute, in die sich viele Menschen zurückgezogen und eingerichtet hätten, in der sie sich sicher fühlten.
Der Patchwork-Familie aus Lütgendortmund bleibt künftig noch viel weniger Freizeit
Dies wird eine Herausforderung – nicht nur für die SPD-Fraktion, sondern auch für sie persönlich. Denn um ihre Tageskinder will sie sich auch weiterhin kümmern – unterstützt von ihrem Mann Andreas.
Er ist auch ganz offiziell Ersatz-Tagesvater. Er hat ebenso die Fortbildungen gemacht und steht seinen Mann. „Ich mache das gerne“, betont er. Maximal drei fremde Kinder betreuen sie in ihrem Zuhause.
Viel Zeit für Hobbys bleibt dann für die beiden Fraktionsvorsitzenden nicht mehr. Carla Neumann-Lieven kümmert sich gerne um den kleinen Garten. Gemeinsam führen sie ein offenes Haus für Freunde, die Andreas Lieven nach dem Ende der Corona-Pandemie dann wieder bekochen kann – das ist sein großes Hobby und seine Leidenschaft.
Sie liest zudem gerne, mag Puzzle und sammelt Schlümpfe. Schlümpfe? „Ich habe das als Kind angefangen und bin hängen geblieben“, gesteht sie lachend.
Rund 1000 dieser kleinen blauen Gesellen hat sie mittlerweile. Was sie daran mag: Es ist ein Stückchen heile Welt im Grünen. Und Papa Schlumpf hält die Truppe mit Weisheit und Wissen zusammen, beschützt sie vor dem bösen Zauberer und findet immer Lösungen für ein Happy-End.
Ach ja: Der Papa ist der rot gekleidete Schlumpf. Vielleicht ist das ja dann auch das Leitmotiv für Carla Neumann-Lieven als „Mutter der Kompanie“ – ihr Markenzeichen zumindest ist die rote „Mähne“…
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SPD-Ratsfraktion bestätigt Fraktionsvorsitzende Neumann-Lieven (PM)
Die SPD-Fraktion im Rat der Stadt Dortmund führte am 21.03.2022 ihre regulären Neuwahlen des Fraktionsvorstandes durch, die laut Statut 18 Monate nach der konstituierenden Fraktionssitzung stattfinden müssen.
Hierbei wurde die amtierende Fraktionsvorsitzende Carla Neumann-Lieven mehrheitlich in ihrem Amt bestätigt. Ihr zur Seite als Stellvertretende Fraktionsvorsitzende wurden Olaf Schlienkamp, Veronika Rudolf und Fabian Erstfeld gewählt. Fabian Erstfeld tritt die Nachfolge von Franz-Josef Rüther an, der aus beruflichen Gründen nicht mehr für den Fraktionsvorstand kandidierte.