Ein Eigentümerwechsel, die teilweise Umnutzung und eine behutsame Sanierung des Inneren sind Anlass, eines der seinerzeit modernsten Gebäude in der Dortmunder Nordstadt als Denkmal des Monats Juli 2020 vorzustellen. Wer die Dortmunder Nordstadt auf eigene Faust erkundet oder an einer geführten Besichtigung teilnimmt, kommt schräg gegenüber der Kirche St. Aposteln an der Gneisenaustraße zu einem für die Umgebung ungewöhnlichen Gebäude: eine Stadtvilla in vom Bauhaus beeinflussten Formen.
Baujahr 1927: Großbürgerliche Stadtvilla im Arbeiterquartier Nordstadt
Anders als der 1908 zur industriefreien Zone deklarierte Dortmunder Osten mit seinen Villen und bürgerlichen Einfamilienhäusern entwickelte sich die Nordstadt zum traditionellen Arbeiterquartier. ___STEADY_PAYWALL___
In der Nähe der hier ansässigen Industriebetriebe lebten die Beschäftigten in einfachen, um die Wende vom 19. und 20. Jahrhundert errichteten Mietshäusern oder in Siedlungen aus den 1920er und 1930er Jahren.
Aber nicht nur die Funktion der Gneisenaustraße 75 als Stadtvilla ist ungewöhnlich. Auch der Stil ihrer Architektur ist damals für Bauten dieser Art in Dortmund über die Nordstadt hinaus besonders fortschrittlich. Manchem wird bei dem 1927 gebauten Objekt zunächst nur das regional übliche Klinkermauerwerk auffallen.
Bei näherem Hinsehen erkennt man jedoch die flachen Dächer, die Zusammensetzung des Baukörpers aus verschiedenen Kuben und die strenge rechtwinklige Gliederung. Hinzu kommen schöne Details wie Türklinken und Fenstergitter, die sämtlich noch aus der Erbauungszeit stammen.
Seiner Zeit voraus: Verworfener Expressionismus und Neues Bauen
Bei einem der ersten Wohnhäuser in Dortmund greift der Architekt auf die Prinzipien vom Neuen Bauen und Bauhaus zurück. Zur selben Zeit wird in der bürgerlichen Dortmunder Gartenstadt „modern“ höchstens in der Formensprache des Expressionismus gebaut.
Auch der erste Entwurf für das Gebäude an der Gneisenaustraße zeigt eine Villa in expressionistischen Formen mit Treppengiebeln und ornamental eingesetztem Ziegelverband. Bauherr war der praktische Arzt Dr. Paul Linsmann, Architekt Dietrich Köster aus „Annen in Westfalen“, seit 1928 Stadtteil von Witten.
Da der Grund der Planänderung aus den bei der Bauverwaltung vorliegenden Bauakten nicht hervorgeht und es keine anderen Dokumente oder Zeitzeugen gibt, könnte ein Blick auf die – zugegebenermaßen spärlichen – Angaben zu Architekt und Bauherr helfen.
Wandlungsfähiger Architekt und engagierter Arzt entwarfen Gebäude gemeinsam
Laut Auskunft des Wittener Denkmalpflegers gab es ein Architekturbüro Köster in Annen schon im späten 19. Jahrhundert, geführt von einem Eduard Köster. Ob Vater, Onkel oder älterer Bruder von Dieter Köster bleibt unklar. Von Dieter Köster selbst gibt es im Wittener Denkmalbestand ein 1907/08 geplantes Gebäude mit einer Putzfassade in reduziertem Jugendstil.
Mit dem expressionistischen Erstentwurf und der Ausführung im Stil des Neuen Bauens für die Geneisenaustraße 75 wird deutlich, dass an den Entwicklungsstufen des Bauens Architekt und Bauherr gleichermaßen beteiligt sind. Vielleicht kam in diesem Beispiel der Impuls zur Avantgarde vom Bauherrn selbst.
Paul Linsmann wurde 1891 in Dortmund geboren und studierte in Göttingen und Würzburg Medizin. Als er sich mit 36 Jahren als praktischer Arzt niederließ, wählte er für seinen Wirkungsbereich die Dortmunder Nordstadt. Sein neues Gebäude an der Gneisenaustraße 75 diente nicht nur als Wohnhaus. Im unteren Geschoss befanden sich die Praxisräume mit Behandlungs- und Wartezimmer.
1957 – kurz vor seinem Tod – wurde ihm die Paracelsus-Medaille verliehen, die höchste Auszeichnung der Deutschen Ärzteschaft. Es ist durchaus denkbar, dass der engagierte Arzt auch in Fragen der Baukunst anspruchsvoll und vorausstrebend war.
Sanierung und Nutzung nach denkmalpflegerischen Prinzipien
Auch der Nachfolger von Dr. Linsmann praktizierte noch im Haus. Zuletzt wurden die ehemaligen Praxisräume gewerblich genutzt. Während man das oberste Geschoss bereits vor einigen Jahren als eigenständige Wohnung abtrennte, wird nun das gesamte Haus zu Wohnzwecken eingerichtet.
Die behutsame Sanierung im Inneren folgt ebenso wie einige frühere Erhaltungsmaßnahmen des Äußeren denkmalpflegerischen Prinzipien. Damit hat das Haus nicht nur den Zweiten Weltkrieg unbeschadet überstanden, sondern kann bis heute in seiner originalen Erscheinung die Modernität seiner Entstehungszeit ausstrahlen.
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