Weshalb konnte der „Rechtspopulismus“ in der Bundesrepublik und anderswo Fuß fassen? Was ist schiefgelaufen, ökonomisch, politisch, sozial – als viele glaubten, die Gesellschaften innerhalb der EU würden immer freier, toleranter, offener? Welche Rolle spielten und spielen dabei die Eliten in diesem Lande? Was ist mit dem vagen Begriff des „Rechtspopulismus“ überhaupt gemeint? Was sind das für Angebote vom rechten Rand, die offenbar passgenau unerfüllte Bedürfnisse und Ängste in Teilen der Bevölkerung aufnehmen und reaktionär als völkischen Antihumanismus aufbereiten? Gibt es Hoffnung, dass der Spuk irgendwann wieder verschwindet? – Anlass für solche Fragen: ein weitreichender Vortrag des bekannten Konfliktforschers Prof. Wilhelm Heitmeyer, Gastredner beim „Aktionstag“ an der FH Dortmund, zu einem brisanten Thema.
Jährlich an der FH Dortmund: „Aktionstag 8 gegen 88 – Soziale Ungleichheit und Rechtspopulismus“
Die nachfolgenden Ausführungen drehen sich um ein politisches Thema von imminenter Aktualität: das des „Rechtspopulismus“ und seiner Erfolge, nicht zuletzt bei Wahlen. Aber nicht nur dort, sondern vor allem in den Köpfen und Seelen der Menschen. In der letzten Woche wurde an der Fachhochschule (FH) Dortmund während ihres Aktionstages bei den zentralen, sehr gut besuchten Veranstaltungen dazu vorgetragen und diskutiert. Aufhänger der alljährlichen Events ist jene 88, die nach dem achten Buchstaben des Alphabets als Abkürzung unter Rechtsextremisten für deren notorischen Gruß steht.
In dezidierter Frontstellung zu dieser politischen Randkultur, die sich gleichwohl auf dem Vormarsch befindet, und dem ihr inhärenten, autoritär-reaktionären Denken steht die Ziffer „8“: zugeordnet dem veranstaltenden Fachbereich (FB) „Angewandte Sozialwissenschaften“ an der FH.
Ihn sieht sein Dekan, Prof. Achmet Toprak, angesichts des Einzugs der AfD in den Bundestag und aller Länderparlamente in der Pflicht: er müsse sich genauso positionieren wie Einzelpersonen, begründet der bekannte Integrationsforscher die Motivation der Organisatoren.
Dazu in einem besonderen Maße beitragen sollen die jeweils geladenen Redner, denen ihr jeweiliger Ruf entschieden vorauseilt:
Das ist zum Einen Prof. Wilhelm Heitmeyer, bekannt geworden vor allem – als Direktor des Bielefelder Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) in der Zeit von 1996-2013 – mit seinen frühen Prognosen zur Entwicklung des in die bundesrepublikanische Gesellschaft diffundierenden rechtspopulistischen Gedankenguts.
Der zweite Gastredner ist Prof. Michael Hartmann, renommierter Forscher über Eliten und deren passionierter Kritiker, wenn es um die Rolle geht, die sie in der Republik spielen; denn die hat ihm zufolge etwas mit dem Aufstieg der AfD zu tun. Näheres zum Problemspektrum, der Tragweite und Explikationspotential seiner Konzeption wird in der nächsten Woche im zweiten Beitrag dieses Blogs zur Thematik diskutiert werden.
Frühe Prognose zu Gefahren autoritärer Entwicklungen in der Bundesrepublik bleiben weitgehend ungehört
Dierk Borstel ist heute Professor am Lehrgebiet für Praxisorientierte Politikwissenschaft am FB 8. Er hat einmal bei Wilhelm Heitmeyer studiert, ist daher prädestiniert, als Moderator den gefragten Gastredner kurz vorzustellen; weiß aber zugleich um die Schwierigkeiten eines solchen Unterfangens. Bei der schier endlosen Publikationsliste etwa braucht er gar nicht erst anzufangen, also erzählt er von einigen persönlichen Erinnerungen aus jener Zeit, späteren Eindrücken. Dabei kommt herum:
Entgegen einer hinlänglich als professoral bekannten Attitüde zum Monolog, könne Wilhelm Heitmeyer zuhören, habe zudem Humor und sich schließlich nicht bange machen lassen, wenn unbequeme Ergebnisse seiner Forschungen abermals auf wenig öffentliche Gegenliebe stießen, sondern sie systematisch weitergetrieben: trotz alledem. – Mit Erfolg, wie sich spätestens seit den durch Wahlergebnisse bundesweit augenfälligen Erfolgen des Rechtspopulismus herausgestellt hat.
Denn eine solche gesellschaftliche Entwicklung Richtung Autoritarismus hatte der Soziologe auf Grundlage seiner Studien schon lange zuvor prognostiziert; allein, es interessierte nur wenige: eine Gesellschaft mag sich erstens im Spiegel nicht unbedingt als Fratze wiedererkennen, zweitens sich auch noch anhören müssen, dass hier definitiv ein strukturelles Problem vorläge. Mit ein bisschen Liften war’s also nicht getan.
Resultat einer komplexen Entwicklung: „Rechtspopulismus“ bahnt sich über lange Vorgeschichte an
Die für damalige Verhältnisse, im Jahr 2001, recht kühne These der Forschungsgruppe um Heitmeyer lautete: mit der vielerorts so begrüßten Globalisierung bildet sich ein autoritärer Kapitalismus heraus, der auf verschiedenen Ebenen vielfältige Kontrollverluste generiert, welche eine Tendenz zur Demokratieentleerung befördern – mit der Folge autoritärer Versuchungen für staatliche Kontroll- und Repressionspolitik sowie der Herausbildung eines rabiaten Rechtspopulismus.
Über letzteren kann gegenwärtig nicht mehr hinweggesehen werden: es gibt ihn – wie wurde er möglich? Die Antworten darauf sind komplex, werden von einer langen Vorgeschichte begleitet. Dies impliziert der Theoriekonzeption Heitmeyers zufolge zweierlei: eindimensionale Erklärungen – wie beispielsweise durch Hinweis auf Defizite im Parteiensystem – verböten sich und die Hoffnung auf ein schnelles Ende dieses über ganz Europa und weiter verbreiteten Phänomens könnten getrost in der Abteilung „gesellschaftliche Selbsttäuschungen“ verbucht werden, wie er sagt.
Diese Diagnose bedarf freilich näherer Erläuterung. Immerhin ist zu begründen, weshalb sich die demokratischen Kräfte in der Bundesrepublik auf längere, vielleicht unabsehbare Zeit aufs Abreiben mit ziemlich unliebsamen ZeitgenossInnen einstellen dürfen und sollten.
Verkörpert durch die AfD, bedroht der „autoritäre Nationalradikalismus“ eine offene Gesellschaft
Methodisch grob verortet, handelt es sich bei Heitmeyers Entwurf um den systematischen Versuch, den autoritären Entwicklungen durch eine soziologische Analyse explikativ näher zu kommen. Die Resultate des Unternehmens hat er in seiner letzten Veröffentlichung zusammenfassend dargestellt. Dabei werden gesellschaftliche Prozessstrukturen auf mehreren Ebenen in den Blick genommen sowie deren Verarbeitungsmuster hinsichtlich jener Konsequenzen untersucht, die sie vor dem Hintergrund politischer Angebote der neuen Rechten zeitigen.
Einmal bei diesem Programm angelangt, bedarf es für Heitmeyer zunächst einer terminologischen Klärung: es geht um den Modebegriff des „Rechtspopulismus“ als diffuse Sammelbezeichnung für die vor einigen Jahren sichtbarer gewordenen politischen Strömungen an den rechten Rändern der Gesellschaft. Ihn zu verwenden, ist für Heitmeyer insofern problematisch, als er ihn definitorisch als unterdeterminiert erachtet, zu unscharf, zu vage. Stattdessen präferiert er die durchgehende Rede vom „autoritären Nationalradikalismus“ (im Folgenden: aNR).
Seine These lautet nun: dieser aNR – seit 2015 politisch verkörpert durch die AfD – stelle eine ernsthafte Bedrohung für eine offene Gesellschaft bzw. liberale Demokratie dar. Das „Autoritäre“ soll dabei durch das Vorliegen eines Kontrollparadigmas aus einer hierarchisch strukturierten soziale Ordnung heraus bezeichnet werden, das sich über Freund-Feind-Schemata vs. Unordnung legitimiert.
Einstellungsänderungen: Analyse von Verarbeitungsmustern als Reaktion auf strukturelle Prozesse
Der Fokus auf das „Nationale“ speist sich gleichermaßen aus Abgrenzungen, in denen – mit Rückgriff auf eine dichotomisierende Untergangsrhetorik – das Deutsch-Sein als Identitäts- und Rettungsanker angeboten wird, verbunden mit einem mehr oder weniger expliziten Überlegenheitsanspruch des gedachten wie ahistorisch verklärten „deutschen Volkes“ gegenüber der Gefahr alles Fremden.
„Radikal“ ist der Weltaufriss des aNR dagegen in seinen Zielsetzungen, wenn die offene Gesellschaft als System bekämpft wird, mit systematischen Grenzüberschreitungen als Methode. Zur anderen Seite hin unterschiedet sich der Rechtsextremismus gegenüber dem aNR aus Sicht von Heitmeyer durch eine Kombination aus Ideologien der Ungleichwertigkeit mit einer Akzeptanz von Gewalt.
Mit diesen ersten begrifflichen Grundlagen nähert sich eine soziologische und sozialpsychologische Analyse weiter ihrem Gegenstand: es geht um spezifische Verarbeitungsmuster von strukturellen Transformationen in verschiedenen gesellschaftlichen Handlungsfeldern.
Näherhin von jenen Teilen der Gesellschaft, deren Einstellungen sich im Geflecht des aNR verorten lassen und als Reaktionsbildung auf die jeweiligen Strukturveränderungen mit Rekurs auf einschlägige Theoriebildungen erklärt werden können.
Multidimensionaler Kontrollverlust: Tendenz zu autoritären Einstellungen, Aggression und Unterwürfigkeit
Heitmeyer untersucht nun die wichtigsten gesellschaftlichen Transformationsprozesse in der Bundesrepublik der letzten 20, 30 Jahre in drei großen Domänen: ökonomisch, sozial, politisch. Was er empirisch durch wiederholte repräsentative Erhebungen feststellen wird, ist, dass sich in der Tat Einstellungsmuster in der Bevölkerung teilweise und nicht immer gleich stark auf allen drei Ebenen in eine bestimmte Richtung verschieben: es gibt eine Tendenz zur Verstärkung autoritären Denkens, erhöhter Aggressionsbereitschaft und Unterwürfigkeit.
Zeitlich verzögert dazu, aber inhaltlich komplementär baut sich ein bestimmtes autoritäres Angebot in Form einer Partei und verschiedener Bewegungen auf – die vom demokratischen Lager unter dem Sammelbegriff „Rechtspopulisten“ subsumiert werden. Das Grundmuster, gleichsam das Bindeglied zwischen den ökonomischen, sozialen und politischen Veränderungen und den gefundenen Einstellungsänderungen, ist dabei insbesondere das von (objektiv-subjektivem) Kontrollgewinn oder -verlust.
Diese Dynamik drückt sich aus – auf der ökonomischen Ebene: der im Globalisierungsprozess emergierende autoritäre Kapitalismus, der alles mit seiner Logik durchdringt, begleitet von Flexibilitätsdruck, Orientierungslosigkeit; in sozialer Hinsicht: Integrations- und Desintegrationsdynamiken, verbunden mit Abstiegsängsten und Statusverlusten; politisch: Demokratieentleerung mit einem Gefühl von Einflusslosigkeit, Ohnmacht.
Ideal einer demokratiekonformen Marktwirtschaft – und die kalte Realität einer marktkonformen Demokratie
Nur zu Analysezwecken sind hier die verschiedenen Ebenen getrennt, entscheidend sind ihre Verklammerungen, ist ihr Beziehungsgeflecht. Besonders deutlich wird dies durch einen immer weitere Lebensbereiche und öffentliche Einrichtungen mit seinen Maximen durchdringenden Turbo-Kapitalismus, etwa als Einvernahme des Gesundheitswesens durch Ökonomisierung. Es ist ein Denken des „Alles-hat-seinen-Preis“, das aus seiner inneren Logik heraus stets unterstellt, dass etwas käuflich ist wie es selbst. In dieser Welt der kalten Zahlung sind Haltungen nur störend, ein Anachronismus, gut für Festreden.
Was die politische Linke mit hellem Blick seit jeher argwöhnte, dass sich nämlich gewisse Spannungsverhältnisse in der Weise, wie gesellschaftlicher Reichtum produziert wird, darin niederschlagen, wie sich eine Gesellschaft im Weiteren systemisch überbaut: politisch-juristisch kleidet und ideologisch gibt – die Bundeskanzlerin bestätigt es vor einigen Jahren auf einer Pressekonferenz, als sie unumwunden erklärt, dass „parlamentarische Mitbestimmung … marktkonform“ zu sein habe. (Zitatnachweis s.u.).
Die in das Soziale eindringenden und sich beschleunigenden Wirtschaftsprozesse gefährden mit ihren auf maximale Effizienz ausgerichteten Verwertungsimperativen den Status am Arbeitsplatz mit neuer Intensität, damit aber auch den Zugang zu einem sinnstiftenden sozialen Funktionssystem. Die Folge ist Desintegration.
Erzeugt werden dadurch Anerkennungsdefizite, durch die bei der zwangsläufigen Suche nach Alternativen mit autoritären Reaktionen gerechnet werden kann; über soziale Vergleiche nicht selten auch Angst vor Überfremdung mit einer Homogenitätssehnsucht, die als Einfallstor für autoritäre Kontrollversuche fungiert.
Aushöhlung von Demokratie: wenn Menschen daran zweifeln, dass ihre Stimme noch gehört wird
Nach und nach entleert sich Demokratie, wie Heitmeyer schließlich die begleitende Desintegration auf der politischen Ebene umschreibt. Symptomatisch für das ehemalige SPD-Mitglied, das die Partei 1992 wegen ihrer Asylpolitik verlassen hatte, ist für Demokratieentleerung ebenfalls eine typische Merkel-Formulierung aus den letzten Jahren, nämlich die des „Alternativlosen“, einer alternativlosen Politik; denn in einer Demokratie gäbe es immer Alternativen.
Kriterien, anhand derer Prozesse einer Demokratieentleerung sichtbar gemacht werden können, sieht er in dem Maße, wie Politik zum Erfüllungsgehilfen der Wirtschaft wird, oder wie Sicherheit durch Kontrolle und Überwachung hergestellt werden soll. Dann ist da die Missachtung der BürgerInnen durch Eliten, denen ihre Lebenslage fremd ist und daher Entscheidungen nur über ihren politischen Selbstbezug treffen können – ein Thema, über das der zweite Referent, Michael Hartmann, beim Aktionstag ausführlich gesprochen hat.
Die Menschen im Lande fühlen sich vernachlässigt, ihre Stimmen oder die ihrer Gruppe erzeugen keine signifikanten Resonanzen mehr bzw. werden als solche nicht mehr wahrgenommen, und die Zweifel an den Lösungskompetenzen für komplexe Probleme in demokratischen Prozessen mehren sich: hier beginnt das Liebäugeln mit hierarchischen Systemen.
Erste Hinweise 2002 auf erhebliche Einstellungspotentiale radikal-rechtslastiger Weltbilder wurden ignoriert
Empirische Hinweise auf das Ausmaß „rechtspopulistischer“ Einstellungsmuster in der Bundesrepublik, die von konservativen Kreisen seinerzeit gern noch als „Bielefelder Alarmismus“ ins Nirvana ihrer Aufmerksamkeit abgeschoben wurden, erhielten die SozialforscherInnen der Heitmeyer-Gruppe am IKG bereits im Jahr 2002. Rückblickend stellt der Soziologe heute fest: Mentalitätsverschiebungen in der Bevölkerung stoßen offenbar auf wenig Interesse; erst wenn es an die Mandate ginge, würde man nervös.
Was damals nicht ernst genommen wurde: repräsentativ gemessen anhand der Kriterien Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und autoritäre Aggression, habe sich zu dieser Zeit bereits ein rechtspopulistisches Einstellungspotential – als Verarbeitungsreflex wahrgenommener Kontrollverluste in bestimmten Bevölkerungsteilen – von 20 Prozent ergeben, so Heitmeyer.
Damals habe es noch einen „vagabundierenden Autoritarismus“ gegeben: Menschen, die versucht hätten, ihren Kontrollverlusten durch Flucht ins Autoritäre zu begegnen, um Sicherheit zu gewinnen: das waren Wechsel- oder Nichtwähler, denn es gab keinen politischen Ort – quasi als „Alternative fürs Denken“. Das sollte sich spätestens 2015 mit der AfD und ihrer Spaltung ändern.
„Flüchtlingskrise“ 2015: Verstärker dessen, was sich zuvor latent und weitgehend unbeachtet herausgebildete
Da aber war sozusagen das Kind schon in den Brunnen gefallen; seit der Jahrhundertwende erschüttern Krisen das Land, in denen ökonomische, soziale wie politische Routinen außer Kraft gesetzt werden und eine Rückkehr zum Status quo ante ausgeschlossen ist. Es lassen sich einige Eckmarken bezeichnen: 2001 mit 9/11 und dem islamistischen Terrorismus in Folge, 2005 Hartz IV, ab 2008/9 Finanz- und Bankenkrise, 2015 die Flüchtlingskrise.
In dieser Zeit sei es nach und nach zu einer Verschiebung gesellschaftlicher Koordinaten gekommen, welche besagte Kontrollverluste anzeigten, erklärt Heitmeyer: Links-Rechts, oben-unten, ethnisch-religiös, innen-außen, usf. Und es gab nachweisbare Schübe: so sei es nach der Finanzkrise 2008/9 zu einer Radikalisierung einiger Einstellungssegmente im aNR-Komplex gekommen, mit deutlich erhöhten Werten bei den Faktoren: Einflusslosigkeit, Wut, Demonstrations- und individuelle Gewaltbereitschaft.
Kurzum, die Einstellungsanalysen ergeben: reaktionär-nationale Denk-, Erlebens- und Verhaltensmuster waren allemal vorhanden, auch vor PEGIDA, AfD, der Flüchtlingskrise. Hier sei nichts über Nacht wie ein Naturereignis erschienen; dies anzunehmen, gehöre zur „Selbsttäuschung in dieser gesellschaftlichen Realität“, macht Heitmeyer schonungslos klar und fügt hinzu: „PEGIDA und AfD haben es geschafft, aus individuellen Ohnmachtsgefühlen kollektive Machtphantasien zu entwickeln“.
Stramm-völkisch gegen alles Fremde: das autoritär-nationalradikale Milieu und seine dichotomen Denkmuster
Gelegenheit, einen genaueren Blick von der Nachfrage- auf die Angebotsseite des gesellschaftlichen Trauerspiels zu werfen, auf das autoritär-nationalradikale Milieu. Heitmeyer warnt die ZuhörerInnen: mit Ignoranz sei es hier nicht mehr getan – das sollte später noch weiter thematisiert werden. Wer sind die Protagonisten des Ewig-Völkischen? – Heitmeyer zufolge, Eliten, die sich auf drei Bühnen bewegen: im Bundestag, in einem intellektuellen Milieu und als national-reaktionäre Bewegungen wie PEGIDA.
Als Merkmale ihrer Denk- und Handlungsmuster bestimmt er: unterkomplexe, dichotomische Gesellschaftsbilder mit ideologischer Realitätsverzerrung (Volk vs. Elite, „Wir“ vs. „Die“ etc.); Kontrollparadigma als Machtstrategie („Wir holen uns unser Land zurück“); Emotionalisierung gesellschaftlicher Probleme als drohende Kontrollverluste („Überfremdung“; „Brüssel“).
Identitätsverbürgende Schlüsselkategorie, für Individuen wie die Gruppe, ist ein konstruiertes „Deutsch-Sein“, das aus dem Gefühl heraus, nicht wahrgenommen zu werden, als ahistorische, unveränderliche Entität wie als Prädikat von Personen und Gruppen diesen nicht mehr abhanden kommen kann, daher wie eine Naturkonstante Sicherheit in einer sich transformierenden Welt verbürgt.
Aus dem Gefühl relativer Deprivation über soziale Vergleichsprozesse kommt es über einen eskalativen Mobilisierungsstil durch Funktionalisierung von Signalereignissen wie in Chemnitz sowohl zu einer Wiederherstellung von Kontrolle, wie zur Reproduktion von Mechanismen der Radikalisierung.
Anders als ereignisgebundener Rechtspopulismus: diesmal Marsch durch die Institutionen von Rechts?
An dieser Stelle kann differenziert werden: während der Rechtspopulismus stark auf Erregungszustände durch Ereignisse und Massenmedien setze, so Heitmeyer, ziele der aNR demgegenüber auf die Institutionen (wie Rundfunkräte, Europarat, Beiräte der politischen Bildung, organisierte Destabilisierungsversuche von LehrerInnen etc.), um sie mit ihrem autoritären Kontrollparadigma zu überziehen.
Aus der Praxis, aktuelles Beispiel für die Einflussnahme des aNR: Auf Veranlassung des NDR kommt es zur Nachbearbeitung des am 11. November ausgestrahlten „Polizeirufs 110“ („Für Janina“) wegen eines Anti-AfD-Aufklebers („FCK AFD“) an der Pinnwand im Büro der Rostocker Kommissarin. Die gemeinte Partei hatte sich nämlich offiziell beschwert, zugleich eine Beschwerde beim Rundfunkrat angedroht. – Ein glatter Eingriff in die Kunstfreiheit und eine Bedrohung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, das die AfD am liebsten sowieso ganz oder teilweise abschaffen möchte.
Ein allgemeineres Beispiel: Wer heute Fördermittel für Projekte zum Rechtspopulismus beantragt, sollte mittlerweile das Kürzel „AfD“ in diesem Zusammenhang besser vermeiden. Grund: die bewilligenden Stellen scheuen den Ärger, der immer häufiger entsteht. Heißt: die Infiltration des aNR und der von ihm erzeugte Druck zeigt Wirkung. – Es wird deutlich, was Heitmeyer im Sinn hatte, als er eingangs die These formulierte, die AfD gefährde eine offene Gesellschaft.
Bestand des „Giftschranks“ wird durch latente Transformationsprozesse zur gesellschaftlichen Normalität
Welche gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen sind vom sukzessiven Einsickern völkischer Paradigmen in institutionelle Formen zu erwarten? Es bestünde die Gefahr einer Normalitätsverschiebung, warnt Heitmeyer. Indem sich Destruktivität in der Normalität ausbreitet, verändert sich das Normale durch entsprechende Umwertungsprozesse in Richtung der infiltrierenden Inhalte.
Der akzeptierte Rahmen für öffentliche Äußerungen ist wie ein Fenster, in dem sich gesellschaftliche Themen, Artikulationsformen mit einem Begriffsinventar als Gesamt legitimer Ausdrucksformen, d.h. der Meinungsvielfalt befinden. Die Proponenten jenseits dieses Fensters situierter, sich gleichsam noch im Giftschrank befindlicher Denkweisen werden nun versuchen, das Fenster zu verschieben und/oder zu erweitern.
Begriffe wie „Umvolkung“, „Volkstod“ oder der des „Völkischen“ selbst werden zu einem Teil der politischen Sprache, mit der Debatten geführt werden. Gleiches gilt für Themen; jüngstes Beispiel: der Vorstoß des Kandidaten für den CDU-Vorsitz, Friedrich Merz, das Grundrecht auf Asyl aus der Verfassung zu streichen.
Das Besondere solcher Transformationsprozesse ist ihre Unterschwelligkeit, wie Heitmeyer betont. Sie liefen subtiler und unter der Beteiligung von Eliten durch Legitimationsbeschaffung ab. Das habe schon eine andere Qualität als das naheliegende Sich-Absetzen von Neonazis in irgendwelchen Dorstfelder Straßen.
Öffentlichkeiten in abgedichteten Filterblasen sozialer Medien: Aufschaukeln in homogenen Gruppen?
Dies wirft letztendlich die Frage auf, wie der Bedrohung wehrhaft begegnet werden könnte. Zumal begründet angenommen werden kann, dass die Einstellungsmuster des aNR, gleichwohl sie nur für ein Segment der bundesrepublikanischen Gesellschaft gälten, dieses jedoch sehr viel größer sei, als die 12 Prozent AfD-Stimmen vermuten ließen, betont Heitmeyer.
Weiterhin ist eine stabile Tendenz zu beobachten, die Heitmeyer als die „kapitalgetriebene Ausbreitung der Hasskommunikation“ bezeichnet, welche über die sozialen Medien nahezu ungestört weiterläuft. Durch Funktionsweise und Struktur der Interaktionen dort ist eine breite, gesellschaftliche Öffentlichkeit, in der Meinungen aufeinander treffen, Diskurse sich organisieren, zudem destruiert worden. Sinnvoll lässt sich eigentlich nur noch im Plural von verschiedenen Öffentlichkeiten in den jeweiligen, fast hermetisch abgedichteten Filterblasen von Medien wie Facebook sprechen.
Durch die Seklusion handelt es sich hier um relativ homogene Gruppen – und die seien gefährlich, warnt Heitmeyer erneut, weil es dort schlicht keinen Widerspruch mehr gäbe, sondern allenfalls Aufschauklungsprozesse – ohne dass in der Regel noch externe Zugriffsmöglichkeiten bestehen. Keine sehr glücklich stimmende Ausgangslage.
Eskalationskontinuum: von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit sukzessive zum Rechtsterrorismus?
Hinzukommt ein Eskalationskontinuum, mit dem Heitmeyer mögliche Eskalationsprozesse in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung etwa um Definitionsmacht von „Normalität“ beschreibt. Vorgestellt als Zwiebelmodell und bezogen auf den aNR mögen wir oberflächlich noch an der äußeren Schale sein – mit Einstellungen wie gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit: Antisemitismus, Fremdenhass, Schwulenfeindlichkeit usf.
Doch durch die reine Existenz dieser Einstellungsmuster, genauer: durch die normative Kraft des Faktischen liefern wir Legitimationstücke für das autoritär-nationale Milieu, wo sie aufgesogen, radikalisiert und in derselben Weise weiter nach Innen „gereicht“ werden – bis zum Rechtsextremismus oder -terrorismus.
Solche Prozesse sind freilich kein Schicksal. Heitmeyer appelliert, „dass wir uns als Bevölkerung bei diesem Eskalationskontinuum nicht einfach vom Acker machen können; wir sind auch Legitimationsbeschaffer an den vielen Alltagsorten und an diesen Alltagsorten entscheidet sich viel.“ Sicher, große Demonstrationen wie in Berlin seien sehr wichtig: eine Gesellschaft müsse ihre Normen öffentlich sichtbar machen.
Allerdings: zu solchen Gelegenheiten bewegten „wir uns unter unser Gleichen“ – also wieder in einer Filterblase, diesmal rosarot. Das kann den Blick dafür verstellen, was realiter um uns herum geschieht, zumal wir ja für Vielfalt, Toleranz etc. gerade erst Flagge gezeigt hatten. Aber, zu zeigen: „Wir sind mehr!“ – reicht nicht. Was tun?
Statt rosaroter Filterblase: Auseinandersetzung durch Wiederbelebung einer Debattenkultur vis à vis
Heitmeyer rät: dahin gehen, wo’s weh tut. Die Debatten anlassgemäß dort führen, wo sie im Prinzip persönlich noch geführt werden können: über soziale Kontakte jedweder Provenienz. Welche Entwicklung diese Gesellschaft nähme, das entschiede sich „hier unten“: in der Verwandtschaft, am Arbeitsplatz, in der Schule, der Kirchengemeinde, den Freundeskreisen, im Sportverein, auf der Party usw. Entscheidend sei, wie wir uns verhielten, wenn wir in solchen Zusammenhängen mit rechtspopulistischen Sprüchen konfrontiert würden.
Das Problem, solche naheliegenden Postulate in Handlungen zu übersetzen, besteht in der Höhe der sozialen Folgekosten, wenn wir wirklich „Stop!“ sagten: Niemand möchte die Verwandtschaft, Freunde verlieren, ein Gruppenklima vereisen lassen. Widerspruch erfordere ein hartes Training, siehe Schweigespirale: solange Menschen den Eindruck haben, sie seien in der Minderheit, bleiben ihre Einstellungen im Privaten verborgen. Diese Schweigespirale dürfe nicht zustande kommen, müsse durchbrochen werden, trotz aller Unannehmlichkeiten, die Konflikte mit sich brächten.
Die moderne Welt sei hochgradig ambivalent, es gäbe eine Fülle unklarer Situationen, die Ambiguitätstoleranz erfordern. „Man muss gesellschaftliche Normen, die man für richtig hält, klar machen.“ Vor allem denen gegenüber, die es anders sehen; es ginge um Auseinandersetzung, um Konfliktfähigkeit, so Heitmeyer.
Und kann sich einen kleinen Seitenhieb auf die Schul- und Hochschulbildung nicht verkneifen; die sei ihm zu harmoniesüchtig, das vertrüge Demokratie nicht. Denn die fordert zur Mitbestimmung eine Meinung, die gebildet werden will.
Soziale Ungleichheiten in der Bundesrepublik widerstreiten dem Wunsch nach „gesellschaftlichem Zusammenhalt“
Abschließende Frage: Ist der aNR ein politisches Wachstumsmodell? Dies sei in Europa zu befürchten, wo seine VertreterInnen in nur wenigen Ländern nicht in den Parlamenten sitzen: Spanien, GBR, Irland. Hinzu käme: die stabilen strukturellen Probleme in den drei Bereichen Ökonomie, Soziales, Politik – ob es die Folgen des sich globalisierenden Kapitalismus, soziale Desintegration oder kulturelle Konflikte sind – damit würde auf einer nationalstaatlichen Ebene nicht umgegangen. Vielleicht könne auch gar nicht damit umgegangen werden.
So stünde im Koalitionsvertrag der jetzigen Regierung, die soziale Ungleichheit solle sich nicht weiter verschärfen; kein Wort davon, hier in verringernder Absicht tätig zu werden. Aber, so Heitmeyer: „Ungleichheit zersetzt Gesellschaft“.
Des Weiteren sei ein sozialgeographischer Faktor zu berücksichtigen: das Ausbluten Ostdeutschlands in den ländlichen Gebieten. Ebenso wie ein demographische Faktor, denn die „Alten haben es in sich“: werden älter – und konservativer.
Daher mache ihn ein Begriff wie der immer wieder beschworene und geforderte „gesellschaftliche Zusammenhalt“ schlicht nervös. Wenn sich alle in den gesellschaftlichen Filterblasen aufhielten, wer solle dann eigentlich noch zusammenhalten, wenn es so vielfältige soziale Ungleichheiten gäbe? Zwar habe der Ausdruck als politischer in den letzten sieben, acht Jahren eine unglaubliche Karriere hingelegt, aber das komme ihm vor wie „der letzte Versuch für einen gesellschaftlichen Klebstoff. Es sagt nur niemand, wie das gehen soll!“, so der emeritierte Professor empört.
Weitere Informationen:
- Erschienen vor über 15 Jahren, in den Hochzeiten der Deregulierung, mit einer Prognose, die damals kaum jemand ernst nahm, sich aber inzwischen – als „Rechtspopulismus“ auf dem Vormarsch – leider bewahrheitet hat: Wilhelm Heitmeyer, „Autoritärer Kapitalismus, Demokratieentleerung und Rechtspopulismus“, in: Schattenseiten der Globalisierung. Rechtsradikalismus, Rechtspopulismus und separatistischer Regionalismus in westlichen Demokratien, hrsg. v. Loch, Dietmar u. Heitmeyer, Wilhelm, Frankfurt 2001.
- Wilhelm Heitmeyer, Autoritäre Versuchungen (Signaturen der Bedrohung 1), Frankfurt a.M. 2018
- Homepage des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung, hier:
- Der von Merkel 2011 auf einer Pressekonferenz mit dem portugiesischen Ministerpräsidenten, Pedro Passos Coelho, hergestellte Zusammenhang zwischen Marktkonformität und parlamentarischer Mitbestimmung wird häufig verkürzt als Forderung nach einer „marktkonformen Demokratie“ dargestellt. Das ist freilich noch viel zu freundlich: denn den Worten Merkels ist zu entnehmen, dass erstens die Funktion der Legislative auf „Mitbestimmung“ reduziert wird – und damit war ziemlich sicher nicht gemeint, dass auch StaatsbürgerInnen durch Wahlen zumindest indirekt eine Stimme haben. Zweitens fordert Merkel rein gar nichts, das hat sie gar nicht nötig; vielmehr stellt sie mit der Selbstgewissheit kapitalgestützter Macht fest, dass man Wege finden werde, Marktkonformität herzustellen. Die Presseerklärung vom 1. September 2011 im Wortlaut, hier:
- Michael Hartmann, Die Abgehobenen. Wie die Eliten die Demokratie gefährden. Frankfurt a.M. 2018
- Interview mit Michael Hartmann, hier:
Reaktionen
Aktionstag zum Rassismus im Fußball: „8 gegen 88“ an der Fachhochschule Dortmund (PM)
Um Rassismus im Fußball geht es beim diesjährigen öffentlichen Aktionstag „8 gegen 88“ an der Fachhochschule Dortmund am Montag, 14 November 2022, von 9 bis 12 Uhr. Der Fachbereich Angewandte Sozialwissenschaften (mit der FH-internen Nummer 8) positioniert sich damit gegen rechtsextreme Tendenzen (die Zahl 88 nutzen Neonazis als Code für den Hitlergruß).
Nach der Begrüßung durch Dekanin Prof. Dr. Katja Nowacki ist zunächst die Filmdokumentation „Schwarze Adler“ zu sehen. Direkt im Anschluss folgt ab etwa 10.40 Uhr eine Diskussionsrunde mit dem ehemaligen Fußballprofi Patrick Owomoyela, Prof. Dr. Katja Sabisch (Ruhr-Universität Bochum), Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani (Universität Osnabrück) und Mirza Demirović (Projektkoordinator des Kooperationspartners Nordstadtliga Dortmund).
Die Teilnahme am Aktionstag ist kostenlos und ohne Anmeldung möglich.
Wer: Fachbereich Angewandte Sozialwissenschaften der FH Dortmund
Was: Filmvorführung und Podiumsdiskussion
Wann: Montag, 14. November 2022, 9 bis 12 Uhr
Wo: Emil-Figge-Straße 44 (Hörsaal U33), 44227 Dortmund