SERIE Kunst im öffentlichen Raum: Street Art macht die Stadt bunt

Aufmerksamkeit ist die entscheidende Währung: Graffiti gestern und heute in Dortmund

Wände zum legalen Sprayen am Hafen beim Hafenspaziergang 2024
Wände zum legalen Sprayen am Hafen beim Hafenspaziergang 2024 Anna Tenholt | Nordstadtblogger

Ob die Menschen, die in den Höhlen Handabdrücke oder Bilder von Tieren hinterließen, diese als Kunst betrachteten ist eine Frage, die sich heute schwer beantworten lässt. Sicher ist, dass die Menschheit bis heute keine einheitliche Antwort auf die Frage „Ist das Kunst?“ gefunden hat. Graffiti und Street Art bilden in dieser Diskussion keine Ausnahme. Rückblickend werden die teils berühmten Höhlenbilder jedenfalls selten als Schmiererei und Vandalismus verurteilt. Wir haben uns in der Szene umgesehen.

Von der Straße ins Museum: Urban Art

„Urban Art” hat inzwischen den Weg in die Museen gefunden. Street Art (dazu zählt Graffiti) ist ein Teil davon, Sticker, Adbusting, Häkeleien (urban oder guerilla knitting) und andere sind weitere Formen der Urban Art. In Dortmund findet man Street Art in der 44309 gallery, in Berlin gibt es seit einigen Jahren „Urban Nation” und in München das MUCA, Museum of Urban and Contemporary Art (Links zu den Museen am Ende des Textes). 

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Aber die Wurzeln liegen woanders: im öffentlichen, städtischen Raum. Graffiti braucht eigentlich den öffentlichen Raum, wie eine Leinwand. Und in der deutschen Graffiti-Szene war Dortmund seit den Anfängen ein wichtiger Standort. ___STEADY_PAYWALL___

Früher habe man die Styles, auch innerhalb von Deutschland, nach Regionen einteilen können. Heutzutage sei die Szene „globaler” als in der Hochphase Mitte der 90er und man könne nicht mehr sagen, woher der/die Sprayer*in komme, erklärt Ingo Scheurer, Gründer vom Graffiti Store ‚The Hangout‘: „Den Laden haben wir 2005 eröffnet, im Oktober sind wir 19 Jahre im Gnadenort ansässig.“

Denkmäler, Kunstwerke, Brunnen, Fassadengestaltung, Gedenktafeln – die Gestaltung des öffentlichen Raums ist vielfältig. Wer bestimmt eigentlich, was angeschafft wird? Was kostet der Unterhalt? Wer kümmert sich darum? Und ist überhaupt noch Platz für Neues? Nordstadtblogger fragt nach. 

Er findet, „dass Dortmund auch heutzutage ‚liefert‘ und einige Writer sowohl qualitativ, als auch quantitativ für Aufsehen sorgen“. In Dortmund sind mittlerweile Sprayer in dritter Generation aktiv, deren Werke viele Wände im Stadtbild zieren: Shark/Sak, Chintz, Atom, Rookie the weird (Robert Matzke), Mason, Demon aus Essen, Mark Gmehling oder Denis Klatt. Die überwiegende Mehrheit der Szene machen auch im Ruhrgebiet Männer aus. Aus Bochum kommt eine der wenigen weiblichen Stars, Lacks.

Mural, Pieces, Characters: das Vokabular der Szene

Das der Szene eigene Vokabular wurde nicht übersetzt, sondern einfach aus dem Amerikanischen übernommen: Eine vollständig bemalte Wand ist ein Mural. Für ein Mural sprechen sich oft mehrere Mitglieder einer Crew ab und einigen sich z.B. auf die Farbpalette oder einen Stil. Das lässt sich auch an den langen Wänden der Hall of Fame gut beobachten. 

Mural in der Drehbrückenstraße
Mural in der Drehbrückenstraße, von Rookie the weird Anna Tenholt | Nordstadtblogger

Pieces sind z.B. Arbeiten, bei denen mehr als drei Farben verwendet wurden. Figuren, die häufig im Comic-Stil gesprüht sind, heißen Characters. Tags (to tag: markieren) sind wie Signaturen, also der Name der Sprayer*in, die häufig auch einzeln auftauchen, um zu zeigen, wo jemand aktiv ist. Wer ein bestehendes Werk übersprüht, der crosst.

Trainwriting nennt sich das (illegale) Bemalen von Zügen, das selbst Pioniere unter den deutschen Sprayern mit Ü50 nicht aufgeben. „In den 90ern war in Dortmund zeitweise kein unbemalter Zug zu finden”, erklärt Ingo Scheurer. Denn es hat einen anderen, besonderen Reiz: Ein bemalter Zug ist einerseits schon auffällig genug und dann auch noch quer durch das Land unterwegs. Andererseits entfacht Trainwriting auch heute noch Debatten über Vandalismus, die wiederum für mehr Aufmerksamkeit sorgen. Und Aufmerksamkeit ist die entscheidende Währung, um sich ein Standing zu erarbeiten.

Hafen ist der Hotspot der Graffiti-Szene

Beim diesjährigen Hafenspaziergang sorgte die Agentur „More than Words” für Aufmerksamkeit: mit einer Werkschau, thematischen Rundgängen und einer „Live Spray Performance“ auf den legalen Wänden am Hafen. Aus Deutschland, den Niederlanden, Zagreb und Istanbul folgten um die 70 Künstler*innen der Einladung nach Dortmund. Im vergangenen Jahr, 2023, war auch ein besonderer Gast zu Besuch: tkid170 aus New York, einer der ersten Sprayer, inzwischen eine Legende. Sein Werk findet man am Hafen, nahe der Drehbrückenstraße.

Graffiti Kunst von tkid170
Mural: Graffiti am Hafen von tkid170, entstanden 2023

Weitere bekannte Gaststars, die in Dortmund gearbeitet haben, sind beispielweise Cantwo/Can2 aus Mainz und Blek le rat aus Frankreich.

Mainstream: Öffentliche Gelder für Graffiti

Was im Underground begann ist inzwischen ein fester Bestandteil der Mainstream-Kultur geworden. Textilien aller Marken und für alle Altersgruppen werden damit bedruckt, Mercedes, Apple und Playstation lassen ihre Werbung auf Häuserwände sprayen und Kommunalverwaltungen nutzen die Kunst zur Stadtgestaltung und -entwicklung. So auch am Hafen oder im Unionviertel. Für die Gestaltung von Fassaden fließt auch Steuergeld, z.B. über Förderprogramme wie dem städtischen Hof- und Fassadenprogramm.

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Im Gegensatz zu den frühen Anfängen ist es möglich geworden, auch ohne „illegale Aktivitäten“ genügend Aufmerksamkeit zu generieren. „Die Interessen sind so breit gefächert, es kommt ganz auf den Charakter an und auf die Lebensphase. Auch wenn du nur legal malst, ist großer Impact möglich“, so Ingo Scheurer.

Trotz dieser Entwicklung und des großen „kommerziellen” Erfolgs hat die Szene ihre Unabhängigkeit bewahrt. Weiterhin gilt: Im öffentlichen Raum erreicht man einen „anderen Querschnitt” von Menschen als in privaten Räumen wie im Museum, wie Ingo Scheurer es ausdrückt. Gleichzeitig ist nie ganz klar, wer die Kunst in den Straßen überhaupt wahrnimmt.

Verlust der Vergänglichkeit – doch die Überraschung bleibt

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Street Art und (temporäre) Kunst im öffentlichen Raum haben sich aber nicht nur durch Kommerzialisierung und Legalisierung gewandelt.

Mit Kamera und Internet in der Hosentasche ist auch die frühere Vergänglichkeit der Werke ein stückweit verloren gegangen. Das Foto überdauert das Kunstwerk, wenn auch nur in digitaler Form.

Temporär bleibt aber die unmittelbare Reaktion auf das Werk, der Moment der Überraschung über eine Veränderung in der gewohnten Umgebung. Ob Graffiti, Installationen oder kleine Pfeifenputzer: im öffentlichen Raum hat jede Kunstform das Potential zur unerwarteten, willkommenen Ablenkung.

Mehr Informationen:

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Museen und Gallerien:

    • Galerie in Dortmund https://44309gallery.net/ 
    • Berlin: Urban Nation, the Museum for Urban Contemporary Art
    • München: MUCA, the Museum of Urban and Contemporary Art in Munich 
    • Neuf-Brisach: MAUSA, the Museum of Urban Art and Street Art
    • Amsterdam: STRAAT, the Museum for Street Art and Graffiti 

Anm.d.Red.: Haben Sie bis zum Ende gelesen? Nur zur Info: Die Nordstadtblogger arbeiten ehrenamtlich. Wir machen das gern, aber wir freuen uns auch über Unterstützung!

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