Bei einer Rundfunksendung über Armut sei es gewesen, erzählt Christoph Butterwegge, da habe irgendwann eine Zuhörerin angerufen. Eine alte Frau, deren Mann verstorben sei, der familiäre Druckereibetrieb habe in die Insolvenz gemusst. Sie säße nun im Dunkeln, um Strom zu sparen, und bei einem Glas warmer Milch. Denn ihre Mutter hätte ihr immer erzählt, dabei wäre das Hungergefühl nicht mehr so schlimm. – Das muss ihn sehr berührt haben, den Vortragsredner im Wichernhaus in der Nordstadt.
Das Nachtgebet des Neoliberalismus: Jeder gegen jeden – und bitte ohne Leviathan
Christoph Butterwege gehört zu den renommiertesten Armutsforschern in der Bundesrepublik und spricht auf Einladung Dortmunder Gewerkschafter. Denn die wissen, was sie an ihm, dem scharfen Kritiker neoliberaler Politik haben: mit ihm die Kritik an einem politischen Denken teilen zu können, für das nur das Recht des Stärkeren gilt und der Begriff „Solidarität“ aus einer anderen Welt stammt.
Eine Einstellung, für die es deshalb keinen Leviathan, keinen Überstaat jedweder Couleur geben darf, sondern nur möglichst viel Freiheit für alle – damit es mit dem gnadenlosen Hauen und Stechen unter Menschen, Wirtschaftseinheiten und Standorten besonders gut klappt.
Praktisches Resultat des Erfolges einer solchen neoliberalen Ideologie ist faktisch – und je nach Sichtweise: Skandal – die wachsende Spaltung der bundesrepublikanischen Gesellschaft in Arm und Reich.
Und wenn von einer resultierenden Kluft die Rede ist, davon, dass die Schere zwischen Arm und Reich im Deutschland des dritten Jahrtausends weiter auseinandergeht, dann ist für den emeritierten Professor für Politikwissenschaft eins klar: Wer über den Reichtum nicht sprechen wolle, der solle über Armut schweigen. Denn hier sieht Butterwegge Verweisungszusammenhänge, die gleichursächlich mit der zunehmenden Spaltung in der Gesellschaft verknüpft sind.
Ein geschätzter Analytiker und kritischer Kommentator sozialer Entwicklungen
Ein brisantes Thema also, zu dem der Ausschuss für Außerbetriebliche Gewerkschaftsarbeit der IG Metall in Dortmund (AGA) in Kooperation mit dem DGB Dortmund-Hellweg an diesem Nachmittag ins Wichernhaus geladen hatte. Für den Vortragsredner, den Dortmunder Christoph Butterwegge, daher eigentlich ein Heimspiel.
Allerdings kann sich Detlef Kohlmann, AGA-Vorsitzender in Dortmund, in seiner kurzen Begrüßungsansprache nicht den kleinen Hinweis verkneifen, dass der heute parteilose Butterwegge nach langen Jahren bei den Jusos und (mit einer Unterbrechung) in der SPD jetzt wohl eher eine gewisse politische Nähe zur Linken habe. Für die war er nämlich Anfang letzten Jahres bei bei Bundespräsidentenwahl gegen den alten Genossen Steinmeier angetreten.
Und hatte dabei mit gut zehn Prozent der abgegebenen Stimmen ein sehr beachtliches Ergebnis erzielt. Denn das waren über 30 Stimmen mehr, als der Linken-Delegiertenanteil in der Bundesversammlung seinerzeit betrug. Der Armutsspezialist genießt also ein gewisses Ansehen und ist zudem gefragt: für Interviews, im Radio, im Fernsehen – wenn es um Analysen und kritische Kommentare zu sozialen wie politischen Entwicklungen in diesem Staat geht.
Armut in der Bundesrepublik wird zunehmend und besonders zur Altersarmut
Was zeichnet Armut in einem reichen Land wie der Bundesrepublik aus? Armut, erklärt Butterwegge, bedeute natürlich nicht, dass die Gefahr des Verhungerns bestünde; sondern, dass den Betroffenen die legitime Teilhabe am sozialen Leben verwehrt sei. Wer mit durchschnittlich 800 Euro (ALG-II) monatlich sein Leben bewältigen muss, fristet es nur. Der Zugang zu weiten Teilen von Bildung, Kultur, Mobilität etc. bleibt versperrt.
Daneben gibt es eine Tendenz in der demographischen Verteilung von Armut, die Butterwegge als ihre „Reseniorisierung“ bezeichnet. Nicht als geschichtliches Novum, seien aktuell und würden alte Menschen zukünftig wieder besonders von Armut betroffen sein, prognostiziert er. Und dazu gäbe es Zahlen wie Ursachen.
Was die herkömmlichen, offiziellen und die Verbreitung des faktischen Elends verharmlosende Statistiken betrifft, ist ihr Stellenwert in der Argumentation Butterwegges offenbar kaum größer als der eines Gegenstandes von Kritik, mit der sie sich in Folge entfaltet: hin zu den wirklichen Armutsursachen im Alter.
Und die liegen für den scharfsinnigen Analytiker selbstverständlich in durch politische Entscheidungen geschaffenen Strukturen, statt – wie nach hämisch-neoliberaler Lesart – im individuellen Versagen. Von wegen, selber schuld, weil für‘s Alter nicht vorgesorgt worden wäre. Das ist für den ausgewiesenen Sozialpolitiker vermutlich nur schlechte Ideologie im Horizont von WiederholungstäterInnen mit sozialdarwinistischem Einschlag unter liberaler Flagge.
Agenda 2010: Deregulierung auf dem Arbeitsmarkt und Demontage des Sozialstaates
Das Scheitern individueller Lebensentwürfe in existentieller Altersarmut war für eine Politik liberaler Standortlogik lediglich ein bereitwillig hingenommener Kollateralschaden, so muss der engagierte Gewerkschafter (GEW) verstanden werden, wer seinen Worten lauscht.
Es geht im Grunde genommen immer nur um eins: um die eigene Bereicherung auf Kosten anderer. Ob die Opfer nun Menschen oder konkurrierende Wirtschaftseinheiten sind. Deswegen lautet die Devise am eigenen Standort: Löhne runter, Gewinne rauf, dann „geht es allen besser“.
Das Programm hieß Agenda 2010 und die mit ihr begonnene Demontage des Sozialstaates wurde euphemistisch als dessen „Umbau“ bezeichnet. Hier, wie in der Deregulierung des Arbeitsmarktes verortet Butterwegge nun die eigentlichen Ursachen für die Reseniorisierung der Armut.
Lockerungen des Kündigungsschutzes, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, sinkende Reallöhne und ein riesiger Niedriglohnsektor, in dem sich fast ein Viertel der Beschäftigten befänden, Langzeitarbeitslosigkeit – dies sind für den Gewerkschafter entscheidende Faktoren für die fortschreitende Pauperisierung im Alter.
Denn, so Butterwegge, dadurch sänken Rentenanwartschaften. Hinzu käme eine verfehlte Rentenpolitik im engeren Sinne: Mit der Teilprivatisierung der Altersvorsorge durch die Riester-Reform, der Aussetzung der jährlichen Rentenanpassung und Beendigung der Beitragszahlungen für Langzeitarbeitslose wie durch andere Maßnahmen als Teil der Agenda-Politik sei das für den Sozialstaat grundlegende Prinzip der Lebensstandardsicherung in der Rentenversicherung aufgegeben worden, lautet die finale Diagnose.
Das Dramatische: Altersarmut geht anders als bei jüngeren Menschen einher mit Ohnmacht
Im Klartext bedeutet dies: Mit den gesunkenen Renten können viele Menschen ihren Lebensunterhalt nicht mehr oder nur unzureichend bestreiten. Nichts ist mit einem Altern in Würde, einer Zeit der Reife und vielleicht sogar der Ernte. Schlimmer noch: Mit dem – mittelfristig – zu erwartenden weiteren Absinken des Rentenniveaus droht die Verarmung von Millionen älterer Menschen in der Bundesrepublik.
Betroffen davon seien zudem weitaus mehr Menschen, als die offiziellen Zahlen der Armuts- und Reichtumsberichte der Bundesregierung dies nahelegten. Gerade bei älteren Menschen müsse nämlich eine relativ hohe Rate verdeckter Armut angenommen werden, gibt der Fachmann zu verstehen. Das habe mit Scheu, Scham, Angst vor dem Papierkrieg zu tun. Zwei von drei RentnerInnen, die einen Anspruch auf Sozialleistungen hätten, so würde von der Armutsforschung geschätzt, stellten erst gar keinen Antrag.
Und die dramatische Besonderheit an der Altersarmut sei, ergänzt Butterwegge, in Richtung der durchweg älteren ZuhörerInnen, dass es aus einer von Pauperismus gekennzeichneten sozialen Lage für alte oder ältere Menschen kein entrinnen mehr gäbe. Armut im Rentenalter, gar mit 80 Jahren oder älter, impliziere eben in der Regel, anders als bei prinzipiell noch handlungsfähigen jungen Leuten, soziale Hilflosigkeit, Ohnmacht.
Gepflegter Mythos der Reichen: Wird die Gesellschaft immer älter, müssen alle länger arbeiten
Ausdrücklich wendet sich Butterwegge während der Fragerunde gegen gängige „Narrative des Neoliberalismus“ – demographischer Wandel, Globalisierung und Digitalisierung, mit denen den Leuten Angst gemacht werden solle. Wie übrigens Hartz IV insgesamt für das Standortparadigma auch als Drohkulisse funktioniere, um niedrige Löhne und schlechtere Arbeitsbedingungen durchzusetzen.
Armut, um die Konkurrenzfähigkeit des Wirtschaftsstandortes Deutschland zu erhalten? Für wen eigentlich? Sinkende Renten, ein höheres Renteneintrittsalter hätten ebenfalls sehr wenig mit einer steigenden Lebenserwartung zu tun („ein Körnchen Wahrheit“), wie dies immer wieder in den politischen Debatten behauptet würde. Die Rede von der „Generationengerechtigkeit“ sei daher kaum mehr als ein Schlagwort.
Und dann macht der Vortragsredner endgültig klar, dass er seinen Marx gelesen hat: indem er den Zusammenhang der sozialen Produktion gesellschaftlichen Reichtums, steigender Produktivität und weiterhin asymmetrischer Verteilung der durch sie geschaffenen Werte auf die beliebte wie naive Vorstellung bezieht, in einer immer älter werdenden Gesellschaft müssten alle länger arbeiten.
Warum der „Wirtschaftsstandort Deutschland“ in interessierten Kreisen so beliebt ist
Entscheidend sei nämlich, erklärt Butterwegge, wie bei erhöhter Produktivität das Mehr an gesellschaftlich erwirtschaftetem Reichtum verteilt würde. Gemeint ist: Mehr Arbeitsproduktivität schafft mehr Reichtum, wie unter anderem längere Lebenserwartungen, die aber durch diesen Überfluss locker kompensiert werden könnten, ohne dass irgendjemand länger arbeiten müsste.
Wenn es da nicht gewisse systemische Strukturvoraussetzungen der Reichtumsverteilung gäbe: dass Wenige viel, Viele wenig für ihren Arbeitsbeitrag erhalten. Weshalb die Vielen noch länger arbeiten sollen, damit die Wenigen weiterhin abkassieren können. – Womit auch deutlich wird, woher die interessierte Sorge um den „Standort Deutschland“ stammt: damit das so weitergehe. Das Unrechtssystem erhalten bleibt.
Doch so einfach ist das wiederum alles nicht. Es gibt Ängste, Fragen. Aus dem Publikum nach der Rentensicherung bei fortschreitender Digitalisierung mit der Konsequenz einer Freisetzung von Arbeitskräften? Wäre eine Maschinensteuer denkbar?
Es gäbe so viel Beschäftigte wie noch nie, antwortet Butterwegge ungerührt. Horrorszenarien habe es ansonsten bei allen technologischen Umbrüchen gegeben – nie seien sie eingetreten. Die Elektrifizierung etwa, sei etwas viel tiefgreifenderes gewesen. Plastisch: Stellen Sie sich bitte jetzt vor, jemand schaltet den Strom aus! – Ohne, dass er morgen wieder da ist.
Arbeitnehmerforderungen nach dem Sozialabbau durch die Agenda 2010
Die Linke wäre nicht die Linke, könnte sie nicht kritisch gegenüber sich selbst sein. Was zu einer gewissen Unübersichtlichkeit der Meinungen führt. An diesem sonnigen Frühlingsnachmittag im Wichernhaus ist die Vorstellung eines bedingungslosen Grundeinkommens dem Blick einer gerechtigkeitstheoretischen Perspektive, die Leistungen über Bedarfe definiert, ausgesetzt. Urteil, besser rhetorische Frage von Butterwegge: Warum sollten Reiche noch zusätzlich Geld erhalten?
Immer nur kritisieren geht aber nicht, es darf auch mal was Positives geben. Wenn‘s auch nur positive Forderungen gegenüber dem Negativen sind. – Seine Hauptbotschaft laute heute, bringt Butterwegge irgendwann sein Motiv auf den Punkt: Die gesetzliche Sicherung müsse gestärkt werden. Probleme der Alterssicherung dürften nicht individualisiert, der privaten Vorsorge überlassen werden, Dämpfungs- bzw. Kürzungsfaktoren seien aus der Rentenanpassung herauszunehmen.
Was grundsätzlich erreicht werden solle: Anhebung der Renten vor dem Hintergrund wachsender Altersarmut. Und in diesem Zusammenhang: Es müsse erneut – wie vor 1991 – Renten nach Mindestentgeltpunkten geben, wonach bei der Rentenberechnung durch eine fiktive Aufstockung des Gehaltes auf 75 Prozent des Durchschnittsverdienstes eine Mindestsicherung gewährleistet werden konnte.
Zudem, da der demographische Wandel durch Arbeitsproduktivität kompensierbar sei, fordert Butterwegge, das gesetzliche Renteneintrittsalter wieder auf 65 Jahre festzulegen. Am wichtigsten aber: Eine Strukturveränderung der Altersvorsorge, indem aus der bestehenden Rentenversicherung eine Bürgerversicherung werde – für alle.
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