Corona hat die Welt verändert. In so vielen Hinsichten, dass manches noch kaum greifbar ist. Sicher ist jedoch, die Folgen haben besonders Schwächere, vulnerable Personengruppen getroffen. Ob das Virus unter infizierten Menschen als schwere oder tödliche Erkrankung wütet, ist weniger an den individuellen Wohlstand gebunden, doch die Auswirkungen staatlicher Seuchenpolitik auf unterschiedliche Soziallagen sehr wohl. Ärmere Bevölkerungsteile haben meist das Nachsehen. – Der Dortmunder Planerladen hat deshalb drei zentrale gesellschaftspolitisch relevante Handlungsfelder identifiziert, in denen dringender Bedarf nach Kurskorrekturen verortet wird – und das im Übrigen nicht erst seit COVID-19. Es geht um Existenzvoraussetzungen: um Grundrechte wie Arbeit, Bildung, Wohnen, und deren Gefährdung in prekären Verhältnissen, während pandemischer Wellen und danach.
Teilweise Verschärfung typischer Konfliktlagen durch Restriktionen bei Pandemiebekämpfung
Mit der just vorgestellten Kampagne „Corona bleibt. Was geht?“ möchte der Planerladen die diesbezüglichen Zwänge, unter denen viele Menschen in ihrem Alltag leiden, stärker ins öffentliche Bewusstsein rücken.
Schlussendlich ist die Angriffsfläche der Initiator:innen eine seit Jahren weitgehend verfehlte Sozialpolitik im Lande, die während der Corona-Pandemie keineswegs besser wurde.
Im Gegenteil. Für viele führten staatlich verordnete Kontaktbeschränkungen zur Seuchenbekämpfung zu einer weiteren Verschlechterung von sowieso fragilen Lebensbedingungen. Ob dies nun eine zu kleine Wohnung ist, um darin Kinder während eines Lockdowns ganztags selbst zu betreuen, der fehlende Internetanschluss oder Computer, um am Homeschooling teilzunehmen, oder ein durch Freistellung, vielleicht sogar Kündigung verringertes Einkommen.
An solchen Beispielen zeigt sich: Betroffen sind besonders sensible Lebensbereiche wie Arbeit, Bildung, Wohnen – und dies nicht erst mit Ausbruch von COVID-19. Darauf wird seit dieser Woche in Dortmund durch großflächige Plakate hingewiesen, vor allem im Innenstadtbereich sowie der Nordstadt. Dort, am Rande des Dietrich-Keuning-Parks, wurden sie von beteiligten Akteur:innen der nun anlaufenden Kampagne gestern, Donnerstag, 21. April, präsentiert.
Allmähliche Rückkehr zur Alltagsnormalität beseitigt keine sozialen Schieflagen
Was viele Menschen in Dortmund (und anderswo) dringend benötigen, ihnen aber in ihren Lebenswelten schlicht fehlt: Chancen, Versorgung oder eine angemessene Vergütung von Leistungen: das tritt in der Pandemie zwar besonders hervor, erledigt sich aber als Problem mit dem Virus gleichsam nicht von allein. Darüber soll in den kommenden Monaten mithilfe verschiedener Formate stadtweit gesprochen werden.
Dafür müsse der Finger in die Wunde gelegt werden, macht Tülin Kabis-Staubach, Geschäftsführerin der Planerladen gGmbH, deutlich. Denn Missstände, die nicht nachdrücklich benannt werden, fallen kaum auf und tendieren daher zum Beharren, weil sich kein Verständnis für ihre Veränderungsnotwendigkeit aufdrängt.
Hinzukommt: Gerade die gegenwärtige Situation – mit einer weitgehenden Lockerung der bisherigen Restriktionen von Grundrechten – mag für so manche ein Ende der pandemischen Lage bedeuten. Ein Trugbild in doppelter Hinsicht.
Corona ist mitnichten verschwunden, die Inzidenzraten sind – verglichen mit dem Vorjahr – immer noch extrem hoch. Und zweitens, darauf kommt es hier an: das basale soziale Gefälle innerhalb der Bevölkerung schrumpft mit der allmählichen Rückkehr zur Alltagsnormalität nicht zusammen, sondern erscheint vordergründig nur weniger drastisch. Zugleich bleiben Kernprobleme erhalten, wie etwa auf dem Arbeitsmarkt.
Forderung nach fairer Bezahlung und Arbeitsbedingungen für systemrelevante und andere Jobs
Trotz Erwerbstätigkeit müssen viele Beschäftigte mit Hartz IV aufstocken, auch solche in sog. systemrelevanten, also für die Allgemeinheit besonders wichtigen Berufen. Insgesamt seien davon in der Bundesrepublik Ende 2020 rund eine halbe Million Menschen betroffen gewesen.
Erwerbstätige, darunter viele Selbständige, sind durch die Coronakrise Einkommensverlierer, was sich in den Armutsquoten niederschlage, heißt es in den Erläuterungen zur Kampagne.
Doch die Problematik geht tiefer als die Pandemiefolgen; sie liegt in den häufig prekären Rahmenbedingungen auf dem Arbeitsmarkt, die da ermöglichen: Umgehung des Mindestlohns und anderer gesetzlichen Arbeitnehmerrechte, Leiharbeit, Mini-Jobs, Scheinselbstständigkeit mit Verlagerung von Risiken auf die Beschäftigten. Mangels finanzieller Möglichkeiten ist dann soziale Teilnahme stark eingeschränkt, ganz zu schweigen von Rücklagenbildung oder gar privater Altersvorsorge.
Demgegenüber fordert die Initiative unmissverständlich: „Menschen müssen von einer Vollzeitarbeitsstelle auskömmlich leben und am gesellschaftlichen Leben teilhaben können.“ Beschäftigungsverhältnisse müssten ein gewisses Maß an Planungs- und Zukunftssicherheit bieten. Dazu bräuchte es faire Löhne, Gehälter gesicherte Arbeitsbedingungen, so dass soziale Schutzmechanismen nicht folgenlos ausgehebelt werden könnten.
Ausreichend Personal und Ausstattung, um beste Bildung für alle zu ermöglichen
Die Verstetigung von Bildungsarmut gehört zu den entscheidenden Voraussetzungen, soziale Hierarchien undurchlässig zu halten. Corona hat hier nicht wirklich etwas Gutes bewirkt, ganz im Gegenteil: „Die Bildungskluft zwischen Kindern und Jugendlichen aus wohlhabenden und weniger wohlhabenden Elternhäusern“ habe sich in dieser Zeit enorm vergrößert und die ungleichen Bildungschancen seien offensichtlicher geworden.
Beim Homeschooling etwa braucht es eine digitale Ausstattung, Internet, Zeit und Wissen der Eltern. Arbeiten die in Vollzeit, haben sie einen geringen Bildungsstand oder geringe Sprach- und Technikkenntnisse, fällt in der Pandemie für die betreffenden Schüler*innen der Unterricht praktisch ersatzlos aus. Es entstünden Bildungslücken; und bereits vorhandene vorhandene Bildungsunterschiede verfestigen sich.
„Corona bleibt. Was geht?“ fordert hier „die Sicherstellung des Unterrichtens in Präsenz unter angemessenen Bedingungen“. Konkret: Luftfilter und eine zeitgemäße technische Ausstattung in allen Schulen ebenso wie in einkommensschwachen Haushalten fürs Homeschooling. Zudem: „Bei Bedarf sollten Kinder von berufstätigen oder bildungsfernen Haushalten kostenlose Nachhilfe- oder Betreuungsangebote nutzen können.“
Bezahlbarer Wohnraum, wo Familie, Lernen und Arbeiten vereinbar sind
Leben, Lernen, Leistung auf 50 Quadratmetern? Es ist offensichtlich, dass soziale Enge Bildungschancen mindert. Gerade während eines Lockdowns verschärfen sich entsprechende Wohnsituation. Sie „erschweren Hygienemaßnahmen z.B. in Quarantänefällen, begünstigen Stress durch wenige Rückzugs- und Erholungsmöglichkeiten“, schreiben die Autor:innen für die Kampagne.
Benachteiligungen auf dem Wohnungsmarkt beträfen beispielsweise „Haushalte mit geringem Einkommen, im Transferleistungsbezug, Familien mit mehreren Kindern oder Menschen mit Migrationshintergrund“. In vernachlässigten, dicht bebauten Stadtteilen mit unterdurchschnittlicher Wohnfläche pro Kopf fehlten zudem oftmals ausreichend Grün- und Freiflächen im öffentlichen Raum, um die Beengtheit der Wohnverhältnisse zumindest teilweise zu kompensieren.
Unter solchen Lebensbedingungen, das konnte in der COPSY-Studie gezeigt werden, erlebten junge Menschen „die Veränderungen durch die Pandemie als besonders belastend“. Symptome seien „häufigere psychosomatische Beschwerden, eine deutlich geminderte Lebensqualität sowie ausgeprägtere Symptome von Angst und Depressivität“.
Daher setzt sich die Kampagne mit Nachdruck dafür ein, dass für alle Menschen „die Versorgung mit Wohnraum, der Leben, Arbeiten und Lernen gleichermaßen ermöglicht, gesichert“ ist. Insbesondere ginge es um „die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum durch einen bedarfsangemessenen Ausbau des sozialen Wohnungsbaus!“
Weiterhin müssten die Kommunen von ihrem Vorkaufsrecht Gebrauch machen, um Flächenpotenziale zu sichern. Ebenso seien Vermieter:innen stärker in die Pflicht zu nehmen, „Wohnraum nicht zu vernachlässigen und bei der Vermietung diskriminierungsfrei zu handeln“, so die Forderung.
„Corona bleibt. Was geht?“ in der Dortmunder Öffentlichkeit
„Wer die Kampagne unterstützen will, sollte die Website und das Instagram-Profil besuchen und teilen, damit viele Menschen auf die Inhalte aufmerksam werden“, rufen die Mitarbeiter*innen des Planerladens auf. Online waren die Motive bereits seit letztem Jahr auf Instagram und der Website (s.u.) zu sehen. Plakate im Format A1 und Sticker seien auf Nachfrage erhältlich.
Im Anschluss werden die Motive noch im kleineren Format bis Mitte Mai in Dortmund präsentiert. Zusätzlich wurden unterschiedliche Zielgruppen mit Anzeigen in den Magazinen bodo, Rhein-Ruhr-Magazin und IHK Ruhrwirtschaft angesprochen.
Geplant ist darüber hinaus, noch in diesem Jahr einen gerade in Vorbereitung befindlichen Dokumentarfilm über die Wohnsituation in der Nordstadt während der Corona-Zeit vorzuführen, in dem schwerpunktmäßig das Erleben der dort ansässigen Menschen thematisiert wird. Anschließend gibt es Gelegenheit zur Diskussion. Über den genauen Termin und Veranstaltungsort soll noch informiert werden.
Die Kampagne „Corona bleibt. Was geht?“ wird von der Integrationsagentur der Planerladen gGmbH im Rahmen des Konfliktvermittlungsprojekts INKLUDO PLUS+ durchgeführt. Das Projekt INKLUDO PLUS+ wird aus dem Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds (AMIF) der EU gefördert.
Weitere Informationen:
- Homepage des Projektes: https://www.coronableibt-wasgeht.de/
- Kontakt: Regina Hermanns, Dennis Zilske, Tel. 0231 8820700, Fax 0231 8820701, konflikt@planerladen.de
- Der Paritätische, 16. Dezember 2021: Armut in der Pandemie: Paritätischer stellt Bericht zur Armut in Deutschland vor
- BiB.Bevölkerungs.Studien 2/2021. Wiesbaden: Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung: Belastungen von Kindern, Jugendlichen und Eltern in der Corona-Pandemie
- Forderungen des NRW-Bündnisses: „Wir wollen wohnen“.
- Aktuelle Hilfsangebote
… für Arbeitnehmer*innen
https://www.verdi.de/themen/corona/
https://www.bmas.de/DE/Corona/corona.html
https://www.wirtschaftsfoerderung-dortmund.de/corona-faq
https://jobcenterdortmund.de/de/kontakt (Aktionsbüro Borsigplatz)
… für Schüler:innen und Familien
https://familienportal.de/familienportal/familienleistungen/corona/finanzielle-hilfen
https://infotool-familie.de/
https://www.auf-leben.org/
https://www.dajeb.de/beratungsfuehrer-online/beratung-in-ihrer-naehe/
https://jobcenterdortmund.de/de/kontakt
… für Mieter:innen
https://integrationsprojekt.net/
https://www.mieterverein-dortmund.de/221.html
- Telefon: Unter der Rufnummer 0211/9119-1001 ist die Corona-Hotline derzeit montags bis freitags zwischen 8.00 und 18.00 Uhr und samstags von 9.30 bis 18.00 Uhr erreichbar. Fragen können ebenfalls unter corona@nrw.de per Mail gestellt werden. – An den Hotlines der Corona-Soforthilfe (0211/7956-4995) und der Corona-Überbrückungshilfe und der NRW Überbrückungshilfe Plus (0211/7956-4996) erhalten Betroffene zusätzliche Informationen, zum Beispiel zu Fördervoraussetzungen.