Neue Folge des Nordstadtblogger-Podcasts „Systemfehler“:

Aladin El-Mafaalani über Migration in der EU, „Superdiversität“ und die Lage junger Menschen

Aladin El-Mafaalani steht Nordstadtblogger Matthias Jochimsen In der zweiten Folge des Podcasts „Systemfehler“ Rede und Antwort.
Aladin El-Mafaalani steht Matthias Jochimsen In der zweiten Folge des Podcasts „Systemfehler“ Rede und Antwort. Foto: Julius Obhues für nordstadtblogger.de

In der zweiten Folge des Nordstadtblogger-Podcasts „Systemfehler“ ist Prof. Aladin El-Mafaalani zu Gast. Wir haben mit dem bekannten Dortmunder Soziologen über die EU-Asylrechtsreform gesprochen, den Begriff der „Superdiversität“ und warum junge Menschen in Deutschland den rechtlichen Schutz einer Minderheit bekommen sollten.

Der Dortmunder Soziologe hat lange Zeit am IMIS-Institut in Osnabrück gelehrt und geforscht und ist nun zum Sommersemester 2024 an die TU Dortmund gewechselt. Er tritt die neu geschaffene Professur für Bildungs- und Migrationssoziologie an und wird sich dementsprechend weiter mit seinen Hauptthemen Migration und Bildung beschäftigen.

Viele EU-Gelder fließen in Unis und Hochschulen

Dieser Einfluss würde besonders deutlich werden, wenn man dort hinschaut, wo man gerade erst aus der EU ausgetreten ist, und zwar in Großbritannien: „… die Universitäten sind jetzt richtig unterfinanziert. Es gibt englische Wissenschaftler an englischen Top Universitäten, die wollen zu uns kommen, weil dort die Rahmenbedingungen sich verschlechtert haben.“

Auch ohne EU-Mitgliedschaft bleiben die politischen Aufgaben dieselben

Auch weitere Vorzüge der Europäischen Union würden am Beispiel Großbritannien deutlich werden. Unter dem Slogan „take back control“ wurde 2016, insbesondere in der Migrations- und Wirtschaftspolitik, gegen die „Unfähigkeit“ und „Ineffizienz“ in Brüssel polemisiert.

In der zweiten Folge des Nordstadtblogger- Podcasts „Systemfehler“ ist Aladin El-Mafaalani zu Gast.
In der 2. Folge des Nordstadtblogger- Podcasts „Systemfehler“ ist Aladin El-Mafaalani zu Gast.

Tatsache sei jedoch, dass es wesentlich ineffizienter sei mit jedem einzelnen Handelspartner gemeinsame Regeln über den Austausch von Waren, Finanzdienstleistungen, Arbeitskräften zu verhandeln. Zudem sei auf anderen Kontinenten, wie Afrika oder Südamerika ein Trend zur EU-ähnlichen Zusammenarbeit festzustellen.

Und auch in der Frage der Kontrolle von Migrationszahlen ist das Gegenteil des gewünschten Ergebnisses der „Brexiteers“ eingetreten. Die Zuwanderungszahlen in Großbritannien sind die höchsten seit Jahrzehnten: „…zu glauben man tritt aus der EU aus und kriegt es dann besser hin, ist eine Illusion“. Die Aufgaben und Probleme die zu lösen sind, würden dieselben bleiben.

Warum die EU-Asylreform Verbesserungen bringen könnte und Abschreckung falsch wäre

Was die Aufgaben in der Migrations- und Asylpolitik betrifft, haben sich die 27 Mitgliedsländer der Europäischen Union kürzlich auf eine Reform geeinigt (mehr dazu in der Systemfehler-Folge mit Dierk Borstel). Bisher sei es so gewesen, dass es zwar eine gemeinsame Rechtsgrundlage gab (Dublin II), diese aber faktisch durch die tatsächliche Praxis an den EU-Außengrenzen außer Kraft gesetzt war. Die Folge war Rechtsunsicherheit und eine gewisse Anarchie.

In der zweiten Folge des Nordstadtblogger- Podcasts „Systemfehler“ ist Aladin El-Mafaalani zu Gast.
Migration zu steuern als anspruchsvolle Aufgabe.

Eine Stärkung des Asylrechts sei die Reform zwar nicht, jedoch zumindest eine neue rechtliche Grundlage, die auch Menschen auf der Flucht als Grundlage nutzen könnten, um auf ihr Recht auf Asyl zu bestehen. Migration zu steuern sei eine anspruchsvolle Aufgabe. Aber zu glauben, man steuere (verhindere) Migration durch Abschreckung, sei empirisch und moralisch falsch. Die EU verrate dadurch Werte und (Menschen-)Rechte für die sie eigentlich stünde.

Zudem müsse man mit Herkunftsländern von Geflüchteten und Migrant:innen anfangen auf Augenhöhe zu sprechen. Viele Herkunftsländer würden unter dem „Brain-Drain“ junger, gut ausgebildeter Menschen leiden und nicht alle Menschen in Europa hätten eine Perspektive zu bleiben.

Die Gesellschaft wird diverser und junge Generationen sind „super-divers“

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Art und Weise, wie wir über Migration sprechen und diese begreifen. Genauer gesagt, wie wir über Menschen sprechen, deren Vorfahren nicht schon sehr, sehr lange in Deutschland leben, sondern vor ein paar Generationen oder kürzlich zugewandert sind. Der Begriff„Menschen mit Migrationshintergrund“ sei zwar in der Vergangenheit sinnvoll gewesen, helfe uns aber in der Zukunft nicht weiter.

In der zweiten Folge des Nordstadtblogger- Podcasts „Systemfehler“ ist Aladin El-Mafaalani zu Gast.
Aladin El-Mafaalani steht Nordstadtblogger Matthias Jochimsen In der zweiten Folge des Podcasts „Systemfehler“ Rede und Antwort.

Die Kritik am Begriff ist dabei relativ simpel: „Du hast ein Wort für eine Gruppe, die nichts gemeinsam hat.“ In dieser konstruierten Gruppe werden 100 bis 150 Sprachen gesprochen, bis zu 40 religiöse Konfessionen gelebt, die Menschen tragen weder ähnliche Namen noch sehen sie ähnlich aus. Ein Begriff schaffe es unmöglich die Komplexität und Diversität zu begreifen, die nun aber mal Realität sei.Darüber hinaus verleitet es die Gesellschaft dazu falsche Annahmen und falsche Entscheidungen zu treffen, kurzum Vorurteile und Stereotype aufrechtzuerhalten. Die Wirkung des Begriffs ist problematisch und bezogen auf die Realität viel zu ungenau.

Deutschland sei zwar durch die massenweise Vernichtung von Diversität während des Nationalsozialismus relativ homogen gestartet, habe aber durch unterschiedlichste Einwanderungsbewegungen (nicht zuletzt durch die Kriege in Syrien und der Ukraine) besonders in den Generationen der unter 30-Jährigen eine Diversität erreicht, die selbst die USA oder andere „klassischen“ Einwanderungsländer in den Schatten stelle (als Vergleich dient hier die Quote, der nicht in Deutschland geborenen Menschen/pro Generation). Daher plädiert El-Mafaalani für den Begriff der „Superdiversität“ ohne jedoch die Verwendung andere Begriffe komplett abzulehnen.

Junge Menschen leiden besonders unter den gesellschaftlichen Krisen

Der Zustand des Bildungssystems sei miserabel, Lehrkräfte überfordert, das Bildungssystems schlecht ausgestattet und nicht gerüstet für Krisen.

Dass diese „super-diversen“ Generationen jedoch per se rechtsextreme Parteien wie die AfD ablehnen würden, ist ein Trugschluss. Zwar sei die AfD insgesamt bei jungen Menschen nicht auf Platz 1. Es sei jedoch, insbesondere bei jungen Männern, ein Trend zu konservativen, populistischen und resignativen Einstellungen festzustellen.

Dies führt El-Mafaalani darauf zurück, dass vor allem junge Menschen stark von den Dingen betroffen seien, die schlecht laufen. Der Zustand des Bildungssystems sei miserabel, Lehrkräfte überfordert, das Bildungssystems schlecht ausgestattet und nicht gerüstet für Krisen (Pandemie und großer Zuzug von Menschen). Junge, „super-diverse“ Menschen seien daher zurecht unzufrieden, wie die Dinge (nicht) funktionieren würden.

Junge Menschen sind eine Minderheit und benötigen Rechtsansprüche

Ein weiteres Problem stelle der Demographische Wandel dar. Der häufigste Geburtstag dieses Jahr ist der 60.. Es gibt mehr als doppelt so viele 60. Geburtstage wie 6. Geburtstage. Junge Menschen seien eine Minderheit in der Gesellschaft. Das Bildungssystem möglicherweise auch deshalb in einem so miserablen Zustand, weil sie schlicht vergessen werden würden.

Es braucht „Rieseninvestitionen“ in Kitas, Grund- und weiterführende Schulen.

Hinzu kommt, dass die Bundesregierung, angetrieben durch Bundesfinanzminister Lindner, eine Sparpolitik durchzieht, von der sowohl Kinder- und Jugend- als auch Bildungspolitik betroffen sind.

Zwar könne El-Mafaalani ökonomische Argumente gegen ein Aussetzen der Schuldenbremse verstehen. Es brauche allerdings im Hinblick auf den Erhalt (nicht auf den Ausbau) des Bildungssystems „Rieseninvestitionen“ in Kitas, Grund- und weiterführende Schulen. Es müsse in diesem Jahrzehnt genug Infrastruktur erhalten bleiben, um im darauffolgenden Jahrzehnt „wieder reinhauen zu können“.

Die zweite Folge unseres Podcasts können Sie ab jetzt hören. Mehr dazu finden Sie unten. Grafik: Julius Obhues für Nordstadtblogger.de

Im Hinblick auf die Problematik, dass Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in der Gesellschaft quantitativ massiv unterrepräsentiert seien, plädiert El-Mafaalani für eine Art Minderheitenschutz. Junge Menschen dürften demokratisch nicht überstimmt werden.

Es brauche ebenso einen Rechtanspruch auf einen Ganztagesplatz in der Schule als auch das Recht, dass jetzt angemessene Klimapolitik gemacht werde. Eine Sichtweise der sich auch immer mehr Gerichte anschließen, wie zuletzt Gerichtsurteile zu „Klima-Klagen“ beispielhaft zeigen.

Wer das Interview in voller Länge nachhören möchte, kann dies auf den YouTube- und Spotify-Kanälen von Nordstadtblogger gerne tun. Über Feedback, Themen- sowie Gastvorschläge freuen wir uns ebenfalls. Über weitere anstehende Folgen des Systemfehler-Podcast werden wir zeitnah informieren.


Anm.d.Red.: Haben Sie bis zum Ende gelesen? Nur zur Info: Die Nordstadtblogger arbeiten ehrenamtlich. Wir machen das gern, aber wir freuen uns auch über Unterstützung!

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