Rund 120 haupt- und ehrenamtlich Mitarbeitende aus Beratungsstellen, Migrantenorganisationen und Einrichtungen in der Arbeit mit behinderten Menschen diskutierten im Dietrich-Keuning-Haus über die besondere Situation von Zugewanderten mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen.
„Europäischer Tag des Protestes behinderter Menschen für Gleichstellung“
Wo liegen Stolpersteine auf dem Weg zu einer besseren Versorgung von Flüchtlingen oder EU-Zugewanderten mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen? Welche Best-Practise-Beispiele gibt es für Inklusion?
Diesen Fragen widmete sich der Netzwerkkongress [Inklud:Mi] im Dietrich-Keuning-Haus kurz vor dem „Europäischen Tag des Protestes behinderter Menschen für Gleichstellung“.
Nach der Eröffnung durch Hildegard Azimi-Boedecker, Leiterin des Fachbereichs Beruf international und Migration im IBB, und Dr. Katja Sündermann, Mitarbeiterin des IBB, sowie einem Grußwort von Andrea Zeuch, Inklusionsbeauftragte der Stadt Dortmund, skizzierten drei Fachinputs aktuelle Problemlagen.
Nur Notfallversorgung für Flüchtlinge – große Probleme bei Trauma-Bewältigung
Beispielhaft erinnerte Hildegard Azimi-Boedecker an das Schicksal eines durch Granatsplitter querschnittsgelähmten jungen Syrers, der nach Medienberichten von seinem Bruder nach Idomeni in Griechenland getragen worden war.
„Neben sichtbaren Behinderungen wie Kriegsverletzungen mit Amputationen und ähnlichem bringen Zuwandernde aber teilweise auch weniger sichtbare Beeinträchtigungen mit von unterschiedlichen psychischen Belastungen bis hin zu kulturspezifischen Stoffwechselstörungen, die erkannt und behandelt werden müssen.“
Eike Leidgens, Mitarbeiter der Medizinischen Flüchtlingshilfe Bochum, beschrieb die psychosoziale Situation von Flüchtlingen: Kinder wie Erwachsene, die im Ruhrgebiet ankommen, haben durch ihre Erfahrungen im Krieg und auf der Flucht teilweise schwer belastende Erinnerungen zu verarbeiten.
Vorerkrankungen werden durch Eindrücke auf der Flucht verstärkt oder Behinderungen durch Krieg, Folter und Flucht erworben.
Für Flüchtlinge im Asylverfahren ist jedoch zunächst nur eine medizinische Notfallversorgung vorgesehen. Zudem gebe es nur wenige Therapieplätze und entsprechend lange Wartezeiten. Dennoch, so Leidgens, sei nicht jeder gleich Einzeltherapie-bedürftig, auch könnten soziale Unterstützungsmaßnahmen durch das Helfersystem sowie die Sicherung des Aufenthaltes und des Wohnraumes oft schon ausreichende Besserung bringen.
Schwierige Kostenträgerschaft bei Erkrankungen von armen EU-Ausländern
Orhan Jasarovski, Mitarbeiter im Projekt Acasa Dom der Stadt Wuppertal, beschrieb die besondere Situation von so genannten EU2-Zugewanderten aus Bulgarien und Rumänien. Seit dem EU-Beitritt ihrer Heimatländer genießen sie uneingeschränkte Freizügigkeit in Europa.
Schwierig gestaltet sich im Krankheitsfall jedoch häufig die Frage der Kostenträgerschaft. Viele Bulgaren oder Rumänen haben in ihren Heimatländern nur eine notdürftige oder keine Krankenversicherung.
„Manche Arbeitsuchende geraten in die Schuldenfalle, wenn sie vorschnell eine private Krankenversicherung abschließen“, berichtete Jasarovski aus seiner Beratungstätigkeit.
Für diesen Personenkreis gibt es zudem keine ausreichende Hilfsstruktur, ihre Probleme und gesundheitliche Situation geraten aktuell mancherorts aus dem Fokus, obschon allein in Dortmund knapp 8000 Menschen aus diesen beiden Ländern leben.
Sven Veigel vom Berliner Netzwerk für besonders schutzbedürftige Flüchtlinge (BNS) skizzierte die rechtlichen Rahmenbedingungen der EU-Asylaufnahmerichtlinie, die bis 2015 auch in Deutschland flächendeckend umgesetzt werden sollte.
Besonderer Schutz für Minderjährige, Alleinerziehende, Behinderte und Opfer
Hier geht es um die Erfassung, Versorgung und Betreuung besonders schutzbedürftiger Personen innerhalb der Gruppen von Geflüchteten. Dazu gehören neben unbegleiteten und begleiteten Minderjährigen auch allein reisende Frauen mit Kindern und behinderte Menschen sowie Opfer von Folter oder sexueller Gewalt während des Flucht- oder Kriegsgeschehens. Er erinnerte besonders an die gesetzlich auferlegte Pflicht, Behandlungsbedarf festzustellen.
In drei Workshops am Nachmittag ging es um einen Austausch über Erfahrungen in der praktischen Arbeit:
Sven Veigel vom BNS Berlin stellte Konzepte zur schnellen Bedarfserfassung in der Flüchtlingshilfe vor: Mitarbeitende des Netzwerks suchen Flüchtlinge gleich nach ihrer Ankunft in Berlin auf und bahnen bei Bedarf frühzeitig Wege zu einer Hilfe.
Dortmund will „Psychosoziale Zentren“ für Kinder- und Jugendliche bzw. Erwachsene eröffnen
Dr. Frank Renken, Leiter des Gesundheitsamts Dortmund, beschrieb die neuen Angebote in Dortmund zur medizinischen und psychiatrischen Hilfe: Ein Klinikmobil zur allgemeinärztlichen Versorgung von Geflüchteten wird noch im Mai die Unterkünfte anfahren, eine Clearingstelle wird die Versicherungslage von EU2- Zugewanderten feststellen.
Und zwei „Psychosoziale Zentren“ für Kinder- und Jugendliche bzw. Erwachsene sollen ihren Betrieb aufnehmen.
Wolfram Buttschardt vom Kölner Netzwerk der Diakonie Michaelshoven „Flüchtlinge mit Behinderung“ berichtete über Ansätze für eine Vernetzung von Migranten- und Behindertenorganisationen mit sozialen und medizinischen Diensten und über ein Beratungsangebot für Flüchtlinge mit Behinderungen in Köln, das überdurchschnittlich großen Zulauf hat.
Diana Matzat vom Dortmunder Verein Mobile e. V. stellte ein neues Projekt zur Vernetzung und Beratung behinderter Menschen vor, das besonders Zugewanderte in den Blick nimmt.
In einem zweiten Workshop ging es um Probleme von Flüchtlingen und anderen Zugewanderten beim Zugang zu medizinischen Hilfsmitteln: Stefan Bieringer von der Bundesfachschule für Orthopädietechnik beschrieb Erfahrungen und diskutierte Lösungsansätze. Andrea Zeuch als Inklusionsbeauftragte und Siegfried Volkert vom behindertenpolitischen Netzwerk ergänzten aus ihren Erfahrungen in Dortmund.
Auffällige Häufung von selektivem Mutismus bei Zuwandererkindern
Der dritte Workshop widmete sich der auffälligen Häufung von selektivem Mutismus bei Zuwandererkindern. Dr. Katja Subelloks vom Sprachtherapeutischen Ambulatorium der Technischen Universität Dortmund stellte eine aktuelle Studie vor und half, diese Störung in der Praxis zu erkennen.
Die situationsabhängige teilweise oder vollständige „Stummheit“ tritt demnach viermal so häufig bei Kindern mit Migrationshintergrund auf. Häufig werde der selektive Mutismus irrtümlich für Schüchternheit oder mangelhafte Sprachkenntnis gehalten und lange nicht erkannt.
Dr. Subelloks riet vor allem zu entspannter Gelassenheit. Viele Kinder reagierten auf unbekannte Situationen schweigsam. Bis zu sechs Monate kann die Eingewöhnung bei Zugewanderten dauern.
[Inklud:Mi] – Kongress dient demkollegialen Austausch und der Vernetzung
„Der [Inklud:Mi] – Kongress dient einem engen kollegialen Austausch und der Vernetzung zwischen Wissenschaft und Praxis, Haupt- und Ehrenamtlichen in der Behindertenhilfe und Integrationsarbeit und soll jährlich stattfinden“, sagte Hildegard Azimi-Boedecker, Leiterin des Fachbereichs Beruf international und Migration im IBB Dortmund.