Eine schallende Ohrfeige für die Bezirksregierung gab es von der Dortmunder Verwaltungsspitze: Denn die Arnsberger Behörde hat die Stadt Dortmund in der Nacht zu Dienstag im Regen stehen lassen – und nicht nur die Stadt: Vor allem mehr als 1000 Flüchtlinge waren die Leidtragenden.
500 Menschen standen nachts auf dem Hacheneyer „Busbahnhof“
Was war passiert? Die Erstaufnahmeeinrichtung in Hacheney war so massiv überbelegt wie noch nie: 1379 Menschen kamen dort am Montag an.
Allerdings konnten wegen der Nicht-Erreichbarkeit der Bezirksregierung – zugesagt ist eine 24-Stunden-Bereitschaft – nur 450 Menschen in andere Einrichtungen gebracht werden.
1096 mussten über Nacht bleiben – außerdem kamen weitere Flüchtlinge in der Nacht an. Durch die Enge auf dem Gelände blockierten sich die Busse gegenseitig – 500 Menschen standen nachts auf dem kleinen Busbahnhof.
Ordnungsamt und Gewerbeaufsicht hatten versucht, gemeinsam mit den Mitarbeitern der Erstaufnahmeeinrichtung das Chaos zu strukturieren.
Stadt belegte in höchster Not das Fritz-Henßler-Haus und einen Hochzeitssaal
Da die Bezirksregierung nicht erreichbar war, musste die Stadt über die Feuerwehr-Leitstellen in NRW versuchen, Aufnahmeplätze ausfindig zu machen. „Aber das ist kompliziert, mühsam und sehr langsam – und machen sie das mal mit 1000 total übermüdeten Menschen im Rücken“, machte die zuständige Dezernentin Diane Jägers deutlich.
Daher übernahm die Dortmunder Feuerwehr das Menschenmögliche und richtete im Fritz-Henßler-Haus und in einem Hochzeitssaal (!) an der Hannoverschen Straße Behelfsbetten für 400 Menschen her.
„Denn es war klar, dass wir die Menschen nicht mehr wegbekommen“, so Jägers. Auch die Wartebereiche und Zimmer der EAE waren völlig überfüllt. Die Menschen mussten teils auf dem Fußboden schlafen.
Helfer im Dietrich-Keuning-Haus mussten 800 Flüchtlinge aus der EAE betreuen
Daher griff die Stadt auch am Dienstagmorgen auf das Dietrich-Keuning-Haus zurück. Eigentlich sollten dort erst am Abend zwei Züge mit Flüchtlingen ankommen. Doch bereits am Morgen wurde damit begonnen, insgesamt rund 800 in Dortmund „gestrandete“ Flüchtlinge zu versorgen.
„Unser aller Fazit: Das geht auf keinen Fall so weiter. Logistisch ist das in Hacheney nicht zu schaffen“, so Jägers. „Wir brauchen dringend die Hilfe des Landes. Den Zulauf kann ja keiner stoppen.“
Das Absurde: „Ich kann ja noch nicht mal die EAE schließen, selbst wenn ich es wollte. Ich hätte nicht mal das Personal, die Straße zu schließen, weil alle Mitarbeiter am DKH gebraucht und Pendelverkehre organisiert werden“, so Jägers. Außerdem sei es das völlig falsche Zeichen, jetzt die Tore zu schließen.
Stadt muss vor Erweiterung am Westfalenpark weitere Kapazitäten schaffen
„Wir können nicht nachvollziehen, warum das mit der zugesagten Rufbereitschaft nicht klappt“, kritisiert OB Ullrich Sierau. „Die Lage ist völlig eskaliert, weil uns die Bezirksregierung abhanden gekommen ist.“
Damit diese untragbaren Verhältnisse bis zur Eröffnung der Außenstelle am Westfalenpark im Oktober nicht noch einmal passieren, hat die Stadt heute begonnen, andere Räumlichkeiten für „Überlaufsituationen“ zu schaffen.
Ein Element wird dabei das Fritz-Henßler-Haus sein: Schon am Sonntag waren dort prophylaktisch Veranstaltungen abgesagt worden, falls das Haus für die Drehscheiben-Funktion gebraucht würde. Damit ist jetzt auch zu rechnen. Denn auch am Donnerstag und am Samstag werden von Dortmund aus die Flüchtlinge wieder landesweit verteilt.
Viel länger will man das aber nicht mehr machen: „Wir sind hier einer Bitte des Innenministeriums gefolgt. Vielleicht bittet das Innenministerium dann ja mal jemand anderes“, sagte OB Ullrich Sierau sichtlich genervt.
Drehscheibe funktioniert zwar – aber Helferinnen und Helfer sind sehr belastet
Das Drehscheiben-Modell läuft inzwischen in Dortmund sehr routiniert und professionell. Aber die Belastung sei für alle ehren- und hauptamtlichen Kräfte extrem groß, machte Martin Lürwer als aktuell zuständiger Leiter des Krisenstabs deutlich.
In der Summe müssen heute über 1700 Menschen via Nordstadt mit Bussen in Einrichtungen gebracht werden. Dafür muss die Bezirkregierung in Arnsberg landesweit die Plätze organisieren.
„Es wird aber bei allen Helferinnen und Helfern deutlich, dass wir physisch wie psychisch an die Grenzen geraten sind. Wir sind zu dem Punkt gekommen, dass auch andere die Funktion wahrnehmen“, ergänzt Sierau.
Sierau stellt Betrieb der Erstaufnahme insgesamt in Frage
Er untermauerte die Drohung, dass in einer solchen Situation die Geschäftsgrundlage, auf der die Stadt für das Land die EAE betreibe, hinfällig sei. „Dazu gehören mindestens zwei Seiten. Wir sind auf der Suche nach Gesprächspartnern.
Kommunikation ist das Mindeste – aber wenn noch nicht mal das klappt“, winkte Sierau ab. „Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht…. irgendwann ist physisch und psychisch eine Grenze erreicht.“
Während er dies am Dienstagmittag sagte, klingelte bei Diane Jägers das Handy. Der zuständige Abteilungsleiter der Bezirksregierung meldete sich wegen des Hilferufs am Montagabend – mit 14 Stunden Verspätung. Gelungene Krisenbewältigung geht anders.
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