In Dortmund sind schätzungsweise zwischen 60.000 und 120.000 Menschen von chronischer Einsamkeit betroffen. Dennoch ist Einsamkeit ein gesellschaftliches Tabuthema. Sie wird oft stigmatisiert, weil die Gesellschaft sie mit negativen Eigenschaften in Verbindung bringt. Dazu gehören soziales Unvermögen und persönliche Defizite, Kontaktarmut und Isolation. Wer einsam ist, hat keine Freunde, denken viele. Nordstadtbloggerin Annika Gerlach geht in der neuen Serie auf Hintergründe und die große gesellschaftliche Bedeutung des Themas ein, lässt Menschen zu Wort kommen, die unter Einsamkeit leiden und stellt Hilfsangebote vor.
Einsamkeit ist ein unterschätztes gesellschaftliches Tabuthema
Warum ist Einsamkeit ein Tabuthema? Gerade in kapitalistischen Gesellschaften gilt sozialer Erfolg als lebensbejahende Norm, während deren Abweichung eher einem Versagen auf ganzer Linie gleichkommt. Ein solches Denken führt nicht selten dazu, dass Betroffene Scham empfinden und das Gefühl von Einsamkeit verheimlichen anstatt offen darüber zu sprechen.
Weil sich psychische Erkrankungen wie Depressionen, Schizophrenie und Angststörungen wie ein Brandbeschleuniger auf die rasante Dezimierung des eigenen sozialen Umfelds auswirken können, wird das Innere eines einsamen Menschen auch gerne zu einem Grund. Denn ist jemand einsam, sind vorurteilbehaftete Diagnosen schnell ausgesprochen.
Einsamkeit funktioniert wie ein Stigma, das Betroffene nur schwer wieder los werden. Der gesellschaftliche Druck, nicht nur immer „glücklich“ zu sein, sondern auf andere auch so zu wirken, erschwert es, Einsamkeit als normale menschliche Erfahrung zu akzeptieren.
Einsamkeit betrifft Menschen jeden Alters, Geschlechts und sozialen Status
Wo das Gefühl des Alleinsein oft nur phasenweise auftritt, entwickelt Einsamkeit sich schnell zu einer belastenden und langfristigen Erfahrung. Besonders in einer zunehmend vernetzten Welt, in der soziale Medien und digitale Kommunikation allgegenwärtig sind, wird die Frage nach den Ursachen, Auswirkungen und möglichen Lösungen von Einsamkeit immer drängender. Dieses Thema berührt nicht nur das individuelle Wohlbefinden, sondern auch gesellschaftliche Strukturen und den Umgang miteinander.
Zunächst braucht es etwas Allgemeinwissen zum Thema Einsamkeit. Wie definieren Mediziner, Psychologen oder Soziologen den Begriff? Handelt es sich dabei um ein Gefühl? Eine Phase? Und was passiert im Gehirn, wenn man sich einsam fühlt? Hier ein paar Zahlen, Daten und Fakten.
In einer Welt, die durch digitale Vernetzung scheinbar näher zusammenrückt, fühlen sich viele Menschen paradoxerweise zunehmend allein. Einsamkeit ist ein bedeutendes soziales und gesundheitliches Problem, dem auch Wissenschaft und Gesellschaft zunehmend mehr Aufmerksamkeit schenken. Zwischen 10 bis 20 Prozent der Menschen in Deutschland sind von chronischer Einsamkeit betroffen.
Einsamkeit in kritischen Lebensphasen: Junge und Alte besonders betroffen
Von Einsamkeit ist dann die Rede, wenn eine Person über einen Zeitraum von zwei Jahren und darüber hinaus betroffen ist. Dabei kann Einsamkeit in jeder Lebensphase auftreten. Demographisch sind vor allem das junge Erwachsenenalter und das hohe Alter kritische Phasen, in denen Menschen besonders vulnerabel, also anfälliger, verletzlicher für Einsamkeit sind.
Junge Erwachsene erleben den Übergang in neue Lebensabschnitte als herausfordernd. Häufig sind einschneidende Veränderungen wie ein Schulwechsel oder der Auszug aus dem Elternhaus für Unsicherheiten und soziale Unwegbarkeiten verantwortlich. Im hohen Alter können hingegen der Verlust von Lebenspartner:innen, gesundheitliche Einschränkungen und ein Rückgang sozialer Netzwerke eine wesentliche Rolle spielen.
Drei Formen der Einsamkeit und ihre Bedeutung
Eine wichtiger Unterscheidung ist, dass Einsamkeit nicht gleichbedeutend ist mit sozialer Isolation. Denn Menschen, die über ein stabiles soziales Netzwerk an Kontakten verfügen, fühlen sich mitunter einsam.
Die psychologische Forschung unterscheidet drei Formen der Einsamkeit. Wie das Kompetenznetz Einsamkeit (Link am Ende) der Ruhr-Universität Bochum in ihrer Handreichung von 2022 informiert, gibt es die emotionale oder intime Einsamkeit; die soziale bzw. relationale Einsamkeit und schließlich die kollektive Einsamkeit.
Emotionale Einsamkeit beschreibt das Fehlen enger und erfüllender Beziehungen, wie etwa zu einem Lebenspartner oder einer Lebenspartnerin. Fühlen sich Menschen nicht ausreichend in ein Netzwerk aus Freund:innen und Bekannten eingebunden, spricht die Forschung von sozialer Einsamkeit.
Die kollektive Einsamkeit hingegen bezieht sich auf das Gefühl, nicht zu größeren, gesellschaftlichen Gruppen zu gehören oder sich in der eigenen Gesellschaft fehl am Platz zu fühlen.
Einsamkeit ist komplex und kann somit aus vielfältigen Ursachen resultieren. Aus diesem Grund hat die Forschung inzwischen erkannt, dass Lösungen individuell an die Bedürfnisse von Betroffenen angepasst werden müssen. Ein universeller Ansatz ist nicht umsetzbar.
Ein Gefühl mit schwerwiegenden Folgen – für Menschen und fürs System
Interessanterweise erhöht eine längerfristig empfundene Einsamkeit auch das Risiko, an Depressionen oder Herz-Kreislauf-Problemen zu erkranken. Je einsamer Menschen auf lange Zeit sind, desto wahrscheinlicher ist eine verkürzte Lebenserwartung.
In Umfragen konnte ermittelt werden, dass Betroffene nicht nur persönliches Leid ertragen, sondern darüber hinaus auch höhere Gesundheitsausgaben haben. 2015 veröffentlichten die britischen Soziologen Lauren Fulton und Ben Jupp „Investing to tackle loneliness: a discussion paper“, in dem sie erstmalig auf einen Zusammenhang zwischen armutsgefährdeten Menschen und Einsamkeit herstellten.
Die Forscher:innen ermittelten einen Schätzwert von 12.000 Pfund Mehrkosten pro Kopf für chronisch einsame Menschen gegenüber solchen, die es nicht sind. Dabei werden 40 Prozent der geschätzten Kosten innerhalb der ersten fünf Jahre von chronifizierter Einsamkeit eingesetzt. 20 Prozent der Kosten werden mit der stationären Pflege in Verbindung gebracht.
Insbesondere Covid-19 hat dafür gesorgt, chronische Einsamkeit in ein gesamtgesellschaftliches Thema zu verwandeln. Die soziale Beschnittenheit durch streng durchgesetzte Kontaktbeschränkungen, die damals zur Eindämmung der Corona-Pandemie verhängt wurden, erkannte u.a. das Bundesfamilienministerium und die WHO schon im März 2020 offiziell als potenzielle Ursache für Einsamkeit.
Mittlerweile existieren empirische Daten, die einen verheerenden Anstieg des Einsamkeitsempfindens in Deutschland während der Pandemie, insbesondere im März 2020 belegen. Gleiches belegen internationale Studien, die einen Anstieg von Einsamkeit überwiegend während der Pandemie ablesen konnten.
Einsamkeit nach der Pandemie: Wege und Geschichten
Heute, wo niemand mehr etwas von Corona wissen will und das öffentliche Leben wieder auf einem Vor-Pandemie-Niveau ist, stellt sich die Frage, warum es immer mehr Einsamkeit unter den Menschen zu geben scheint.
Was tun Betroffene, um mit ihrer Situation umzugehen? Und wie leben diese Personen mit diesem Gefühl oder schaffen es sogar, sich Abhilfe zu verschaffen?
Im nächsten Teil der Serie zum Thema Einsamkeit beschäftigen wir uns mit persönlichen Geschichten, gemeinnützigen Verbänden und offiziellen Hilfeangeboten, die Betroffene in Anspruch nehmen können.
Mehr Informationen:
- Infos zum Kompetenznetzwerk Einsamkeit gibt es hier.
- Infos zum Einsamkeitsbarometer gibt es hier.
- Eine Stellungnahme vom Deutschen Bundestag zu dem Thema gibt es hier.
- Infos zum Einsamkeitsbarometer 2024 gibt es hier.
- Infos zum Thema Einsamkeit unter Jugendlichen NRW nach der Pandemie gibt es hier.
- Infos zur demokratischen Relevanz unter Jugendlichen in Deutschland gibt es hier.
- Infos zum Aktionsplan DU+Wir=Eins – NRW gegen Einsamkeit gibt es hier.
Anm.d.Red.: Haben Sie bis zum Ende gelesen? Nur zur Info: Die Nordstadtblogger arbeiten ehrenamtlich. Wir machen das gern, aber wir freuen uns auch über Unterstützung!