Im Prozess um den Tod von Mouhamed Dramé hat die Staatsanwaltschaft vor dem Landgericht in Dortmund ihren Schlussvortrag gehalten. Nur für den Einsatzleiter der Polizei fordert sie eine Strafe. Alle anderen Angeklagten beantragt die Staatsanwaltschaft freizusprechen, auch wenn sie keinen Angriff durch Mouhamed Dramé sieht. Der 16-jährige Flüchtling war vor mehr als zwei Jahren in einer psychischen Ausnahmesituation – er solll suizidgefährdet gewesen sein – in seiner Jugendeinrichtung von der Polizei erschossen worden.
Staatsanwaltschaft: Reizgaseinsatz nicht gerechtfertigt
In einem langen Schlussvortrag hat die Staatsanwaltschaft am Montag (2. Dezember 2024) vor dem Landgericht erklärt, warum sie für den Einsatzleiter H. eine Strafe fordert. Er soll rechtswidrig eine Polizistin dazu verleitet haben, eine gefährliche Körperverletzung im Amt zu begehen. H. hatte bei dem Einsatz im August 2022 die Anweisung gegeben, den jungen Geflüchteten Mouhamed Dramé mit Reizgas zu besprühen. Der saß zu dem Zeitpunkt mit einem Messer an seinem eigenen Bauch im Innenhof seiner Wohngruppe. ___STEADY_PAYWALL___
Die Situation sei dabei statisch gewesen. Von Dramé ging laut Staatsanwaltschaft nur eine abstrakte Gefahr aus – keine, die den Einsatz des Reizgases rechtfertigte. Die Staatsanwaltschaft wirft dem Einsatzleiter vor, „stumpf“ seinen zu Einsatzbeginn erstellten Plan verfolgt zu haben, ohne die Lage zwischenzeitlich neu zu bewerten und über Alternativen nachzudenken. Als solche führt die Staatsanwaltschaft ein Sondereinsatzkommando, Diensthunde oder das Einschalten eines Psychologen an.
Durch den Einsatz des Reizgases sei es dann erst zur Eskalation gekommen. Dramé bewegte sich nach dessen Einsatz in Richtung der im Innenhof stehenden Polizist:innen. Einen Angriffswillen Dramés habe man bei der Beweisaufnahme nicht feststellen können, erklärte Oberstaatsanwalt Carsten Dombert zu Beginn des Plädoyers. Der Weg in den Innenhof sei der einzige Fluchtweg gewesen – „tragischerweise dahin, wo die Beamten standen“, so Dombert.
Keine Hinweise auf einen Angriffswillen Dramés
Für den Einsatzleiter fordert die Staatsanwaltschaft eine Bewährungsstrafe von zehn Monaten und eine Zahlung von 5000 Euro an eine Jugendeinrichtung. Er ist der einzige Angeklagte, für den die Staatsanwaltschaft eine Strafe fordert.
Die Polizistin, die das Reizgas versprühte, habe eine eingeschränkte Sicht gehabt und hätte sich auf die Anweisung des erfahrenen Einsatzleiters verlassen müssen, begründet die Staatsanwaltschaft ihren Antrag.
Als sich Dramé auf die Polizistinnen zubewegte, feuerten zwei von ihnen zunächst ihre Taser auf ihn ab, bevor ein weiterer Polizist sechs Schüsse aus seiner Maschinenpistole auf Dramé abfeuerte. Die Staatsanwaltschaft machte am Montag deutlich, dass sie keine Hinweise auf einen Angriffswillen Dramés sehe.
Die Polizei sei für ihn nicht negativ besetzt gewesen; schließlich habe sie ihm am Tag vorher auch Hilfe ermöglicht, als sie ihn in die LWL-Klinik brachten. Trotz dieser Einschätzung fordert die Staatsanwaltschaft für die vier anderen angeklagten Polizist:innen Freisprüche.
Denn sie erachtet die Aussagen der Angeklagten als glaubhaft, dass diese dachten, sie würden angegriffen. Es läge also ein sogenannter „Erlaubnistatbestandsirrtum“ vor, wodurch die Angeklagten mit Berechtigungen handelten, die sie im Falle eines Angriffs gehabt hätten.
Dombert: Arbeit der Polizei Recklinghausen hoch professionell
Vor den rechtlichen Ausführungen durch Staatsanwältin Gülkiz Yazir leitete Oberstaatsanwalt Carsten Dombert zunächst mit einem Rückblick auf die Verfahrensumstände ein. Deutlich kritisierte er, dass „von rechts und links reflexartig Stereotype bedient worden“ seien. Die erhobenen Rassismusvorwürfe gegen die Angeklagten sieht er als unzutreffend. Es hätten sich keinerlei Hinweise darauf ergeben, obwohl auch WhatsApp-Chats der Angeklagten ausgewertet werden konnten.
Deutliche Kritik gab es von Dombert auch an Vorwürfen, die Polizei Recklinghausen würde nur im Sinne ihrer angeklagten Dortmunder Kolleg:innen ermitteln. Dem sei nicht so gewesen. Er lobte die Arbeit der Ermittler:innen, die „jeden Stein umgedreht“ hätten.
Die Behauptung, er habe mit seiner Anklage „dem Druck der Straße nachgegeben“, empfinde er als anmaßend. Auch könne er versichern, dass er von niemandem angewiesen wurde. Die letztliche Entscheidung über die Anklage habe er getroffen. Und die Anklage sei alternativlos gewesen. Am kommenden Mittwoch sollen vor Gericht noch die Plädoyers der Nebenklage und der Verteidiger gehört werden. Am 12. Dezember 2024 will das Gericht dann ein Urteil verkünden.
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Till Strucksberg
Ein Armutszeugnis
Das Schlussplädoyer der Staatsanwaltschaft ist für mich ein Armutszeugnis. Die Tötung eines jungen Menschen durch die Polizei wird – wenn man der detaillierten Berichterstattung der Nordstadtblogger folgen darf (danke dafür!) – als beinahe entschuldbarer Irrtum eingeschätzt. Das jedenfalls muss man aus der Forderung nach Freisprüchen und dem geringe Strafmaß für den Einsatzleiter folgern. Selbst wenn wir von der geringen individuellen Schuld der Beteiligten ausgehen, hat doch das völlig falsche Handeln zumindest des Einsatzleiters (das wird im Bericht deutlich) und das des Todesschützen seine Ursachen. Der „erfahrene“ Einsatzleiter lässt gegen einen sitzenden, in sich gekehrten Menschen Reizgas einsetzen! Der Todesschütze schießt mit einer Salve aus seiner Maschinenpistole (!) fast gleichzeitig mit dem Einsatz der Taser (das scheint der Staatsanwalt gar nicht erwähnt zu haben). Beide Fehlhandlungen weisen auf eine völlig unzureichende Aus- und notwendige Weiterbildung in der Polizei hin. Wieso auch muss die Polizei bei einem solchen erst einmal normalen Einsatz mit einer Maschinenpistole ausgerüstet sein? Es ging doch nicht um Aufstandsbekämpfung oder hoch gerüstete Bandenkriminalität! Hoffen wir, dass diese tieferen Ursachen für den Tod von Mouhamed Dramé (und vielen anderen!) wenigstens im Urteil des Gerichts Eingang finden.